Pasta begleitete und paraphrasierte usw. – gravierend, da ihre Programme nur in wenigen Fällen komplett rekonstruiert werden können.
Das Programm eines solchen Konzertes – es fand in Triest am 15. November 1824 statt – sah beispielsweise wie folgt aus:
Erster Teil
Vorspiel für großes Orchester.
Kavatine aus La gazza ladra des Maestro Rossini, gesungen von Signora [Antonia] Bianchi.
Konzert in einem Satz in E, ausgeführt von Paganini.
Zweiter Teil
Ouverture für volles Orchester.
Kavatine aus Il barbiere di Siviglia des Maestro Rossini, gesungen von Signora Bianchi.
Rezitativ und drei bekannte Arien mit Variationen einzig auf der vierten Saite der Violine, ausgeführt von Paganini.
Dritter Teil
Lebhafte Symphonie für volles Orchester.
Kavatine mit Echo aus La pietra del paragone des Maestro Rossini, gesungen von Signora Bianchi und ausgeführt von Paganini.
Sonate für großes Orchester.
Larghetto und kleine Polonaise mit Variationen, ausgeführt von Paganini.
Zwar kann man rekonstruieren, dass es sich beim Programmpunkt 3 um Paganinis Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 handelte, von dem er oft nur den ersten Satz spielte, doch sind Autoren und Werke der Programmpunkte 1, 4, 6, 7, 9 und 10 nicht eruierbar. Da von der Presse schon den Programminformationen so geringe Bedeutung zugemessen wurde, kann man sich unschwer vorstellen, dass sich Zeitungsleser wohl oder übel mit Berichten wie dem folgenden zufriedengaben:
Die Violine Paganinis, die über die Menschen solch eine magische Macht ausübt, hat keine Gewalt über das Wetter, das den ganzen Tag und besonders gestern sehr schlecht war. Aber was macht das schon! Das Verlangen, ihn zu hören, war so stark, dass trotz des strömenden Regens der Zulauf gewaltig war; wunderschöne Damen schmückten alle Logen; und bereits lange bevor es beginnen sollte, blieb im Parkett kein Platz mehr frei. Paganini erschien. Seine ersten Töne erregten Bewunderung und Erstaunen, auf diese folgte Begeisterung, und der Saal hallte wider vom Beifall.[14]
Was hätte man über Paganini Spielweise, seine Phrasierungen, seine Griff- und Bogentechnik sowie seine Scordatura-Tricks nicht alles berichten können, wären kompetente Kritiker am Werk gewesen!
Wie sehr sich das Kritikerwesen im Italien des 19. Jahrhunderts im großen und ganzen durch Inkompetenz disqualifizierte, wurde auch von italienischer Seite beklagt:
Es ist wenig bekannt, dass trotz all diesem Elend auf dem Gebiet der Kritik [in Italien] die Musik Verdis im vergangenen Jahrhundert doch auch von einem bedeutenden Kritiker – allerdings nicht in Italien – beurteilt wurde, nämlich Eduard Hanslick, dem Autor jener kleinen Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen, die der bekannteste Beitrag ist, den die Musik[kritik] zur Ästhetik geleistet hat, jenem unversöhnlichen Gegner der Kunst Wagners, dem Paladin der Brahms’schen Klassik [...].[15]
Diesem Text des Musikwissenschafters, Kritikers und Verdi-Kenners Massimo Mila (Turin 1910-1988), den er 1951 anlässlich der Gedenkfeiern zu Verdis 50. Todestag verfasste und der zu Eduard Hanslick überleitet, ist zu entnehmen, dass selbst anerkannte Experten zu Mitte des 20. Jahrhunderts über die Inhalte von Hanslicks Beurteilungen von Verdis Opern nicht informiert waren. Mila dürfte nur Hanslicks erwähntes Büchlein gekannt haben, nicht aber all das, was im folgenden an Äusserungen Hanslicks über Verdi wiedergegeben wird, sonst hätte er sich ganz anders geäussert.
INTERNATIONALE KRITIKER IM 19. JAHRHUNDERT
Im 19. Jahrhundert – als die Werk- und noch nicht die Interpretationskritik im Zentrum des Interesses der Kritik stand – verfassten musikalisch hochqualifizierte Kritiker wie Robert Schumann, E.T.A. Hoffmann oder Hugo Wolf im deutschsprachigen Raum, Hector Berlioz, François-Joseph Fétis oder Claude Debussy in Frankreich, Pjotr Iljitsch Tschaikowski oder Alexander Nikolajewitsch Serow in Russland, Filippo Filippi oder Abramo Basevi in Italien, aber auch brillante Nicht-Musiker wie Friedrich Nietzsche oder George Bernard Shaw kluge Musikanalysen und -kritiken, die vorwiegend in der einschlägigen Fachliteratur erschienen. Es entstanden auf Musik spezialisierte Publikationen wie die Allgemeine musikalische Zeitung und die Neue Zeitschrift für Musik sowie zahllose musiktheoretische Schriften, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben.
Da es im 19. Jahrhundert noch keine Tonaufnahmen gab, die Rezensenten zu Hörvergleichen heranziehen hätten können, war es unerlässlich, dass die Vertreter der Kritikerzunft sowohl etwas von Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre verstehen als auch das Partiturlesen sowie ein Instrument so weit beherrschen mussten, dass sie sich ein eigenes Bild von den zu rezensierenden Kompositionen machen konnten. Daneben war eine sehr gute Allgemeinbildung abseits des Musikwesens Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit.
Da so mancher Kritiker beim Verfassen von Kritiken dennoch mehr von seinen persönlichen Vorlieben als von objektiven Beurteilungskriterien ausging, brachte der bedeutende amerikanische Musikkritiker William James Henderson (1855-1937), ein Absolvent der Princeton University, wo er nicht nur Musiktheorie, sondern auch Gesang studiert hatte, die Anforderungen an einen professionellen Kritiker, der über Interpretation und Gesang schreibt, unmissverständlich auf den Punkt:
If it is out of tune, it makes no difference who ‚thinks‘ that he thinks it is not. The only question is, ‚Can you hear it or can’t you?‘ Whether an orchestra is out of tune, whether it is out of balance, whether its tone is coarse and vulgar, whether the men are playing with precision and accuracy, whether the strings are poor or the brass blatant are not matters of opinion at all. These are matters of fact and due to be reported upon by persons trained to hear them. Whether a singer has a voice equalized throughout, whether the lower tones are white and sombre, whether her coloratura is broken, spasmodic and labored; whether her cantilena is marred by inartistic phrasing, whether she sings out of tune or not, whether she sings the music according to the score or according to her own caprices – these are not matters of opinion; they are matters of fact. In short, nothing is more clearly known than the results which technic in performance can attain, and the only question that can ever be raised about a critical report is, ‚Did the man hear correctly?‘ If it can be shown that he is in the habit of hearing incorrectly, then he is as unfit for his business as a color blind man would be for the calling of art critic.[16]
Bald fand für manchen bekannten Vertreter des Metiers im deutschen Sprachraum die Bezeichnung „Kritikerpapst“ Anwendung. Dieser dubiose Begriff ist allerdings weniger ehrenvoll als vielmehr verräterisch, zeigt er doch, dass seine Anhängerschaft dem Kritiker Unfehlbarkeit zuschreibt und sich selbst als seine ihm blind ergebene Glaubensgemeinde definiert. Genau das ist das Problem bei jeder Form von Kritik, die per definitionem eine prüfende Beurteilung nach begründetem Maßstab sein sollte. Letzterer fußt auf musikalischen und technischen Parametern, mit deren Hilfe objektive Kritik möglich wäre, doch war und ist Musikkritik leider zumeist etwas Subjektives, weit entfernt davon, unfehlbar zu sein. Der Regisseur Sven-Eric Bechtolf bestätigt: „Sie [die Kritik] folgt nicht mehr halbwegs objektiven Kriterien, sondern sie verkommt zu apodiktischer Geschmacksveräusserung. Mich ärgert das.“[17]
Im 20. Jahrhundert änderten sich die für den Kritikerberuf erforderlichen Voraussetzungen radikal. Die fundierte Sachkenntnis erfordernde Werkkritik wandelte sich zur Aufführungskritik und spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Metier, abgesehen von wenigen rühmlichen Ausnahmen, in der Tagespresse oft von musikalischen Laien ausgeübt, deren einzige Qualifikation entweder die parteipolitisch motivierte Anstellung in der Kulturredaktion einer Tageszeitung, das persönliche Naheverhältnis zu einem Herausgeber oder Chefredakteur, das rudimentäre Erlernen des Blockflötenspiels im Kindergarten oder das allgemeine Talent zum Karrieremachen war. Das führte in einigen Fällen dazu, dass manche der neu gekürten Kritikerpäpste nicht einmal Noten lesen konnten. Falls dieser Umstand jemandem harmlos erscheinen sollte, möge er bedenken, dass es genau dasselbe bedeutete, wenn