Herablassung: „Warum dirigieren Sie diesen Dreck?“ Er bezog sich im konkreten Fall auf Donizetti. Die Beziehung zwischen den beiden Maestri war in der Folge gestört.
Hanslicks Entwicklungskurve in Sachen Verdi ist merkwürdig. Er beginnt seine Einschätzungen 1848 mit opportunistisch geifernder Wut, nimmt sich dann im Laufe der Jahrzehnte zuerst zu spöttischer Verachtung, dann zu herablassender Geringschätzung zurück, scheint sich in den 1870er Jahren ruckartig zu besinnen und in aufatmendes Erstaunen und tiefes Verständnis überzugehen, das fast in einen Widerruf seiner früheren Kritiken mündet, endet dann aber mit spektakulärem Unverstand:
Während der Aufführung wurde mir eines immer klarer: In Deutschland stehen zur Einbürgerung von Verdis „Falstaff“ „Die lustigen Weiber von Windsor“ von Otto Nicolai als ein Hindernis gegenüber, das schwer zu nehmen sein wird. [...] Gegenüber der moderneren, einheitlicheren Form der Verdischen Oper hat die Nicolaische jedenfalls mehr musikalische Substanz. Nach meiner Empfindung sind die besten Nummern aus den „Lustigen Weibern“ den analogen Szenen in Verdis „Falstaff“ musikalisch entschieden überlegen.[25]
Hanslick ist an dem immensen Verdi nicht gewachsen, er ist an dem „geistlosen Charlatan“ kläglich gescheitert. Johannes Brahms hatte 1874 über Verdis Messa da requiem gesagt: „So etwas kann nur ein Genie schreiben.“[26] Er hätte seinen Duzfreund Hanslick rechtzeitig vor der Veröffentlichung von dessen Die moderne Oper (1875) von dieser seiner Erkenntnis überzeugen und vor historischer Selbstbeschädigung warnen können. Vielleicht hat er es versucht. Hanslick hat die Chance nicht genutzt. Er war als unentrinnbar Gefangener seines „teutonischen“, theorielastigen Zuganges zu Musik dazu außerstande. Er hat weder Verdi noch den großen Themenkreis der Oper und der Kultur Italiens verstanden.
DIE ITALIENISCHE OPER
Wer je in einer Gerichtsverhandlung das Plädoyer eines neapolitanischen Rechtsanwaltes erlebt hat, begreift, weshalb die Kunstform Oper nur in Italien entstehen konnte. Ein solcher Vortrag mit seinem dramaturgisch klug gegliederten Aufbau, seiner steigenden und fallenden Sprachmelodie, seinen dynamischen Abstufungen, seinen wechselnden Tonarten und Tempi, seinen expressiven Stimmfarben, seiner vehementen Dramatik, seinen melodramatischen Übertreibungen und seiner sprachlichen Virtuosität beinhaltet all das, was eine Arie zu einer Arie und eine Oper zu einer Oper macht.
Nikolaus Harnoncourt hat daraus den Schluss gezogen: „Oper kann man nur in italienischer Sprache komponieren, alle anderen Lösungen sind interessante Entgleisungen.“ Das inkludiert nicht nur alle italienischen Opern von Monteverdi bis Puccini, sondern selbstverständlich auch jene von W.A. Mozart und all die Werke, die von nicht-italienischen, beispielsweise deutschen Komponisten wie Georg Friedrich Händel, Johann Adolph Hasse oder Johann Simon Mayr usw. in italienischer Sprache komponiert wurden. Dass sich der Bayer Mayr in Italien niederließ, dort als Giovanni Simone Mayr zu einem italienischen Komponisten wurde, mehr als 60 erfolgreiche italienische Opern verfasste und darüber hinaus der Lehrer von Gaetano Donizetti war, ist ein schöner Beweis für die Richtigkeit dieser Aussage.
Was reale, gelebte Popularität italienischer Opern bedeutet, haben Regietheater-Regisseure ebenso wie ihr Stammvater Eduard Hanslick nicht begriffen. Es geht dabei nicht primär um außerordentliches kompositorisches Können, philosophischen Tiefsinn, Bekanntheit oder Ruhm, sondern um das gesellschaftliche Phänomen der Identifizierung einfacher Menschen mit einer dem Gesang verpflichteten Musikgattung.
Hanslick ist, wie zu sehen war, dem Missverständnis erlegen, eine Oper – auch eine italienische – müsse nach den Methoden und Maßstäben der von ihm geliebten Symphoniker von J.S. Bach bis Brahms komponiert werden, um vor seinem selbstherrlichen Urteil bestehen zu können. In gleicher Weise glauben Regietheater-Regisseure, italienische Opern müssten unbedingt ihrer Gedankenwelt angepasst werden. Hätten sie je verstanden, worum es bei der italienischen Oper in Wahrheit geht, würden sie nicht beständig versuchen, etwas, das sie selbst nicht verstehen, das Publikum aber sehr wohl versteht, in penetranter Art und Weise mit ihren Arbeiten „verständlich“ zu machen.
Es war überraschenderweise ein Deutscher, nämlich der Schriftsteller Frank Thiess, der das Wesen der italienischen Oper nicht nur verstanden, sondern auch pointiert definiert hat: „[...] ein Donizetti, ein Rossini, ein Ponchielli, ein Verdi, ein Puccini [sind] unter allen Umständen, selbst auf dieser Höhe der Kunst, italienisches Volksgut. Ich habe noch nie eine deutsche Köchin die große Leonoren-Arie singen hören, aber sehr oft einfache Italienerinnen ariose Stellen aus Verdis oder Puccinis Opern.“[27]
Was damit zum Ausdruck gebracht wird, ist das altbekannte, dennoch seltsame Verhältnis zwischen Nord und Süd, das in der Operngeschichte immer wieder Gegensatzpaare hervorgebracht hat: Gluck und Piccinni, Mozart und Cimarosa, Weber und Rossini, Wagner und Verdi, Strauss und Puccini.
Die Musikfreunde nördlich der Alpen sind an Ideendramen in Opern interessiert, an Hintergründigkeit, Intellektualität, Tiefsinn, Metaphysik; sie lieben es, auf der Bühne tiefschürfende philosophische und weltanschauliche Abhandlungen zu verfolgen und musikalisch untermalt zu hören, was eigentlich die ideale – und einzige – Spielwiese für das Regietheater wäre.
Demgegenüber wollen die Musikfreunde südlich dieser Grenze ein nachvollziehbares menschliches Drama miterleben, dessen musikalische Darstellung dem Gesang verpflichtet ist und ein Maximum an emotionellem und dramatischem Ausdruck ermöglicht, wobei es nicht das Orchester ist, das die Handlung vorantreibt und im Zentrum des Interesses steht, sondern die Singstimme. Aus diesem Grund langweilen sich die meisten Opernbesucher südlich der Alpen bei den tiefsinnigen Opern der „Nordländer“ zu Tode, da in ihnen der im 19. Jahrhundert oft beschworene, den Südländern („deren geistige Tätigkeit gering ist“ und die „in der geistigen Bequemlichkeit“, wie Hanslick erkannt hat, dahinvegetieren) überlegene „deutsche Geist“ weht, wir wir ihn bei Arthur Schopenhauer oder Richard Wagner vorfinden.
Herr Hanslick hätte, als er zum Gegner Wagners geworden war, nie zu hoffen gewagt, dass jemand auf Wagners Lohengrin oder Walküre so reagieren könne wie so mancher italienische „Musikbold“. Einer von diesen, Giuseppe Verdi, hat schon siebzehn Jahre vor der ersten Aufführung einer Wagner-Oper in Italien sein elementares Credo zur Theaterpraxis zu Protokoll gegeben: „Im Theater [= im Opernhaus] ist lang ein Synonym für langweilig, und Langeweile ist das schlimmste aller Übel“[28]. Er teilte diese Auffassung mit seinem deutschen Kollegen und Freund Ferdinand von Hiller[29], der zu einer Wagner-Oper angemerkt hatte:
Im Theater geben sie jetzt das „Rheingold“ (die „Walküre“ kommt nach), das Einen verrückt machen kann vor Langeweile, – aber doch viel Geld macht, da die Leute von allerwärts herkommen, um die schwimmenden Nixen und die glühenden Dämpfe zu sehen und sich nebenbei an den Recitativen des Göttergesindels zu erfreuen. Ich muß jedoch sagen, dass das Publikum sich sehr kühl dazu verhält.[30]
Unwillkürlich denkt man in diesem Zusammenhang an das bekannte Diktum: „Wagner hat geglaubt, dass alles, was zu lang ist, eine Oper ist.“
Verdi war im November 1871 anlässlich der italienischen Erstaufführung des Lohengrin (gleichzeitig die erste Aufführung einer Wagner-Oper in Italien) nach Bologna gereist, um diese Oper zu hören. Er trug in seinen Klavierauszug zahlreiche Bemerkungen über die Aufführung (im 1. Akt z.B.: „zu laut / unverständlich / schön, doch schwer erträglich wegen der ständigen hohen Noten der Violinen [am Ende des Vorspiels] / sehr falsch [Chor] / hässlich / schlecht / schön, schlecht gesungen, um einen Viertelton zu tief“ usw.) und seine Eindrücke von dem Werk ein. Sein Gesamturteil:
Insgesamt: Mittelmäßiger Eindruck. Musik schön; wenn sie verständlich ist, hat sie Gedankentiefe. Die Handlung ist schleppend wie das Wort. Also langweilig. Schöne Wirkung der Instrumente. Missbrauch von langen Noten und schwer erträglich. Mittelmäßige Aufführung. Viel verve, doch ohne Poesie und Feinheit. An den schwierigen Stellen immer schlecht.[31]
Zum Unterschied von den Werken seines gleichaltrigen Kollegen waren Verdis Opern nie langweilig, weitschweifig oder umständlich. Mosco Carner, der weiter unten zitiert wird, hat zum Thema Verdi-Wagner scharfsinnig bemerkt: „In gewissem Sinne stellt Otello die Lösung dar, die ein