Aurel Levy

Abgeflogen


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      Kai bemerkte meine Unsicherheit. »Kein Problem, Alarich hat das voll im Griff.« Er grinste zu seinem Mitstreiter herüber, der das Mikrofon mittlerweile zur Seite gelegt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich einen zynischen Unterton herausgehört hatte.

      »Ist es okay, wenn ich bei euch esse?«

      »Logisch, wir freuen uns immer über Besuch«, antwortete Kai.

      Ich klappte den Sitz herunter und saß mittig hinter Kai und Alarich, das gesamte Cockpit im Blick. Ich liebte diesen Platz. Vor allem nachts. Die gedämpfte Beleuchtung der Instrumente war für mich romantischer als jeder Weihnachtsbaum.

      Ich wollte gerade meiner Begeisterung freien Lauf lassen, da ertönte das Summen der Cockpitklingel. Helga kam rein und brachte mein Tablett. Neben einer opulenten Vorspeisenplatte stand ein Teller mit Gänsebraten, Blaukraut und Klößen. Helga versicherte mir, sie habe mit dem P1 telefoniert, ich solle in Ruhe essen. Er wolle sich sowieso einen Augenblick mit Attila allein unterhalten.

      »Tausend Dank, Helga, du bist ein Schatz!«

      Ich machte mich über die Gans her. Die Vorspeisen konnten warten.

      Kai blickte aus dem Fenster. »Leider erkennt man heute nichts. Ganz Russland liegt unter einer einzigen Wolkendecke. Manchmal sieht man ganz schön, wie sie das Gas der Ölfelder abfackeln. Aber heute ist es da draußen zappenduster.«

      »Das wäre hier sowieso nicht zu sehen«, eiferte Alarich. »Die großen Felder liegen viel weiter südlich, in Richtung Kaspischem Meer und Kaukasus.«

      Ich weiß ja nicht, warum man sofort spürt, ob man einen Menschen sympathisch findet oder nicht. Meist reicht der Bruchteil einer Sekunde, um eine Schublade zu öffnen. Schon sitzt der Neuankömmling drin und erst viel später entscheidet sich, ob er vielleicht wieder rausdarf. Im Falle der Cockpit war bereits mit dem Schließen der Tür zum Briefingraum die Messe gelesen. Kapitän Bernd Lammers war ein freundlicher, hanseatischer Brummbär. Ein Mensch, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. Kai war ein Sonnyboy. Groß, mit braunem, welligem Haar und einem offenen, gewinnenden Gesicht. Würde man den Begriff Surflehrer googeln, würde man früher oder später auf ihn stoßen. Allein die Tatsache, dass er sich nur mit Vornamen vorgestellt hatte, machte ihn sympathisch. Nur der Copilot war ein seltsamer Kerl. Davon abgesehen, dass ihm irgendjemand einen Stock ganz tief in den Arsch geschoben haben musste, trug er jedem sein »Alarich von Vogel, Guten Tag« mit der Verkrampftheit eines blasierten Kronprinzen an.

      Kai war viel zu gelassen, um auf Alarichs Belehrung einzugehen. Er hatte die Füße auf die Kante des Armaturenbretts gestellt und sah hinaus.

      »Darf ich mal was Doofes fragen?«, begann ich, während ich ein Stück Gans in der Soße hin- und herschob.

      »Nein«, sagte Alarich.

      »Na, klar, schieß los!«, überging Kai seinen Kollegen.

      »Wenn das Wetter am Boden richtig schlecht und neblig ist, wie könnt ihr dann eigentlich landen? Habt ihr dafür extrastarke Landescheinwerfer?«

      Kai schmunzelte. »Nee, Scheinwerfer bringen nichts. Denk ans Autofahren bei starkem Nebel. Zuviel Licht blendet dich nur. Die Sache ist ganz einfach.« Er riss ein Stück Papier aus dem Drucker. »Schau her: Das ist die Piste, auf der wir landen wollen.« Rasch hatte er mit vier Strichen ein Rechteck gezogen. »Am Ende steht ein Sender. Der schickt einen Funkstrahl in den Himmel.«

      »Eigentlich sind es ja mehrere«, kam von der rechten Seite. Kai warf einen genervten Blick in Alarichs Richtung, der seine Wirkung nicht verfehlte.

      »Also, der Sender schickt einen Funkstrahl los. Das kann man sich wie einen Faden vorstellen, der an der Landebahn befestigt ist und in den Himmel ragt. Unser Autopilot erkennt diesen Faden und hangelt sich wie an einer Schnur entlang in Richtung Runway. Das klappt sogar, wenn wir nichts mehr sehen.« Kai hielt mir seine Zeichnung hin.

      »Hey, Kai, du hättest Lehrer werden sollen. Wenn mir mein Physiklehrer die Dinge so erklärt hätte, dann hätte ich sie vielleicht sogar kapiert.«

      Kai winkte ab. »Bloß nicht. Schule war null mein Ding. Ich war froh, als ich draußen war.«

      »Ging mir auch so«, stimmte ich ihm bei.

      Eine Weile herrschte Schweigen. Bis auf das monotone Rauschen des Fahrtwindes. Irgendwie hört sich dieses Rauschen im Cockpit anders an als im restlichen Flieger. Es mag an den optischen Eindrücken liegen, aber für mich hat es ein bisschen was von »Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200. Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise ...«

      Gut, vielleicht habe ich als Kind zu viel ferngesehen.

      »Das ist ein Klasse-Platz hier vorne!«, platzte ich raus. »Nicht so eng und drückend und voller Passagiere wie bei uns hinten.«

      Es dauerte einen Moment, dann drehte sich Alarich zu mir um und sagte mit ernster Miene: »Da sag ich nur: Augen auf bei der Berufswahl!«

      Ich lächelte. Dann erst begriff ich. Alarich verzog keine Miene. Mein Lächeln erstarb.

      »Und was ist dein Plan B?«

      »Wie, Plan B?« Ich verstand nicht.

      »Na ja, du wirst das hier doch nicht ewig machen wollen, Saft ausschenken?«

      »Äh, nee, natürlich nicht.« Ich fühlte mich überrumpelt. Und gleichzeitig herabgesetzt. Dann hörte ich mich sagen: »Ich fange nächstes Jahr an, Jura zu studieren – zum Sommersemester.«

      »Rechtsverdreherei ist gut. Damit hast du alle Optionen. Nicht wie da hinten. Das ist kein Beruf für einen Mann. Im besten Fall ein Job.«

      »Wieso das denn?«, meldete sich Kai zu Wort.

      »Das kann ich dir sagen: Erstens fehlt die gesellschaftliche Akzeptanz. Stewardess hört sich interessant an, aber Steward klingt nach schwulem Traumschiffkellner. Zweitens fehlt der Anspruch. Das ist mit Mitte zwanzig lustig, aber spätestens in der Midlifecrisis fragst du dich, ob das alles ist, was du im Leben erreicht hast. Und drittens ist es ein klassischer Frauenberuf.«

      »So ein Quatsch! Dann ist das, was wir hier vorne machen, ein reiner Männerberuf. Wenn alle so denken würden wie du, gäb's keine Frauen im Cockpit.«

      »Was wäre daran so schlimm? Es zwingt sie ja niemand ...«

      In diesem Moment klingelte es. Helga stand in der Tür.

      »Und, hat's geschmeckt?«

      »Fantastisch. Die beste Weihnachtsgans seit langem.«

      »Das freut mich.« Sie deutete mit einer Handbewegung an, ihr das Essenstablett anzureichen. Gleichzeitig beugte sie sich zu mir herab und flüsterte: »Ich könnte mir vorstellen, dass Attila Sehnsucht nach dir hat. Vielleicht gehst du wieder nach hinten und hilfst ihm mit dem Safttablett.«

      Ich hatte den Wink verstanden. Rasch verabschiedete ich mich von den Jungs. Ich war froh, Alarich zu entkommen. Erinnerte er mich doch sehr an Old Seizinger. Warum hatte ich ihm das mit dem Jurastudium erzählt? War das wirklich Plan B? Hatte ich überhaupt einen Plan A? Und wie konnte es sein, dass ein Kollege, den ich im Grunde gar nicht kannte, mich zu solchen Äußerungen trieb?

      Als ich in unsere Galley zurückkam, hatte ich mich auf einen wütenden Attila eingestellt, der mir einen Anschiss verpasste, weil ich gemütlich gequatscht und gegessen hatte, während er hundertzwanzig durstigen Passagieren Orangensaft anbieten musste.

      Aber Attila tat etwas Eigenartiges. Sein Körper befand sich in der Horizontalen, keine zwanzig Zentimeter über dem Boden. Geschmeidig drückte er sich im Liegestütz hoch und runter. Seine Hände steckten in dünnen, fingerlosen Handschuhen. Dort, wo er sich auf dem Boden abstützte, hatte er weiße Stoffservietten ausgelegt. Er blickte kurz auf, als er mich bemerkte, und zählte weiter: »... vierundvierzig, fünfundvierzig ...«

      »Kommst du zurecht oder kann ich helfen?«

      »Ohne mich zu beachten, fuhr er fort: »... neunundvierzig, fünfzig!«

      Dann