Aurel Levy

Abgeflogen


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geht auch keine ans Telefon. Die Cockpit braucht unbedingt den Medical Report aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Die Jungs versuchen gerade, die medizinische Hotline zu erreichen.«

      »Okay, alles klar.«

      Im vorderen Teil der Economy deutete zunächst nichts auf einen Notfall hin. Ein Großteil der Passagiere schlief immer noch oder hielt die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet. Weiter hinten änderte sich das Bild. Alle waren wach. Die meisten musterten mich mit ängstlichem Blick, als ich mir den Weg nach hinten bahnte. In den letzten Reihen konnte ich den unwechselbaren Gestank bereits riechen. Ein scharfer, säuerlicher Geruch nach Erbrochenem.

      Ungefähr dort, wo Attila vorhin seine Liegestützen gemacht hatte, war es. Sämtliche an Bord verfügbaren Hilfsmittel lagen halbkreisförmig angeordnet. Alles sah beinahe so aus wie bei meiner Erste-Hilfe-Schulung vor acht Wochen. Mit einem Unterschied: Im Zentrum lag nicht die geduldige Übungspuppe, der sich jeder mit einem Witz auf den Lippen näherte, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut.

      Wahrscheinlich geht es jedem so, der es nicht gewöhnt ist, Erste Hilfe zu leisten, aber ich muss gestehen, ich war schockiert. Eine ältere Dame, die man guten Gewissens als füllig bezeichnen durfte, lag auf ein paar Decken. Ihre Augen waren geschlossen, die grauen, strähnigen Haare aus dem Gesicht gestrichen. Ihre Unterwäsche, eine Art fleischfarbener Badeanzug, war bis zum Bauch aufgeschnitten. Ich erkannte die Elektroden des Defibrillators. Miriam saß am Kopfende und hielt mit einer Hand die Beatmungshilfe fest. Sarah kniete neben der Frau und verabreichte ihr eine Herzdruckmassage. Sie schwitzte. Die Frau hingegen war so bleich, wie ich es selten bei einem Menschen gesehen hatte. Und ich hatte als Zivi im Altenheim so einiges gesehen.

      »Topsi, zum Glück! Kannst du mich ablösen? Ich bin völlig fertig«, keuchte Sarah.

      »Klar«, antwortete ich und ging neben Sarah auf die Knie. Ich war nervös. Im Traum hatte ich beim Erste-Hilfe-Kurs nicht damit gerechnet, dass ich das Gelernte so umgehend würde anwenden müssen. Und nun war es so weit. Ich spürte den leblosen Arm der Frau an meinen Knien.

      »30-2?«

      Sie nickte.

      »Wie weit bist du?«

      »Gleich.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »... fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig. Du hast es!« Während Miriam die Atemstöße gab, brachte ich meine Hände in Position. Dann legte ich los. Ich wusste noch, dass man mit den ersten Stößen vorsichtig sein musste, weil hier die meisten Rippenbrüche passierten. Ich hatte noch die Worte des Medifarm-Ausbilders im Hinterkopf: »Meine Damen, wenn Sie einmal ausprobieren möchten, wie sich ein Rippenbruch anfühlt, dann lassen Sie sich doch einfach von ihrem Freund eine Herzdruckmassage verpassen. Sie können sicher sein, dass das funktioniert. Das bringt Schwung in ihre Beziehung. Ist auch mal was anderes, als die ewige Missionarsstellung.«

      Keiner hatte damals gelacht. Aber wenigstens haben bescheuerte Sprüche wie dieser den Vorteil, dass man sich lange daran erinnert.

      »Füll bitte das Formular aus und bringt es so schnell wie möglich ins Cockpit«, sagte ich zu Sarah. »Die brauchen das, um den Leuten von der Mediline was sagen zu können.«

      »Das können die sich sparen. Das ist eindeutig ein Herzinfarkt! Wie er im Buch steht. Sogar mit Schmerzen im linken Arm und Beklemmungsgefühl in der Brust. Das habe ich der Inge aber schon gesagt.« Miriam klang ungehalten.

      »Egal, dann schreib halt das auf!«, sagte ich zu Sarah. »... achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig.« Miriams Zeichen, zu pusten.

      »Wo bleiben denn die anderen eigentlich?«

      »Die kommen gleich. Miguel hat uns eben erst geweckt.«

      Sarah war aufgestanden und verschwand mit den Worten: »Ich bring den Jungs mal den Zettel.«

      Mein Blick fiel auf den Defibrillator. Das Display konnte ich von meiner Warte nicht erkennen. »Hat sie schon einen Stoß bekommen?«

      »Ja, aber nur einmal. Ganz am Anfang.«

      Ich nickte. Inzwischen spürte ich, dass auch ich ins Schwitzen kam. Dann fiel mir noch was ein. »Und was ist mit Nitrolingual?«

      In diesem Augenblick tauchte Jörgs kräftige Gestalt hinter Miriam auf. »Na wundervoll, das komplette Programm«, hörte ich ihn mit tiefer Stimme sagen. »Mal wieder.«

      Ich versuchte, mitzuzählen und musste feststellen, dass ich zweifellos nicht mehrfach belastbar war.

      »Soll ich einen von euch beiden ablösen?«, fragte der P1.

      Ich schüttelte den Kopf. »Danke, ich habe gerade erst angefangen.«

      Das Ding-Dong der Telefonanlage ertönte.

      »Jörg auf der vier.« Pause. »Kleiner Augenblick – die Cockpit, ob ihr schon Nitro verabreicht habt?«

      »Nein, das dürfen wir nur, wenn ein Arzt ...«, begann Miriam.

      »Nein, haben sie nicht.« Erneut Pause. »Okay, machen wir. Ja, alles klar. Tschö!«

      »Wir sollen ihr eine Nitrolingual geben. Außerdem gehen wir runter.« Jörg öffnete den Deckel des Doctors-Kit und entnahm das Medikamentenmäppchen.

      »Wir dürfen das nur, wenn ...«, insistierte Miriam.

      »Ich weiß. Die Anweisung kommt von einem Hotline-Arzt. Er sagt, wir können nur gewinnen.«

      Ich bewunderte seine Gelassenheit. Für mich war Miriam grenzwertig. Und das, obwohl ich im Augenblick andere Sorgen hatte als eine zickige Kollegin.

      Kurz darauf hielt Jörg die dunkelrote Kapsel in der Hand. Für einen Augenblick schien er nicht recht zu wissen, wie er das Medikament verabreichen sollte.

      »Anschneiden und unter die Zunge legen!«, sagte ich bestimmt. Er griff nach der Schere und schnitt in die Kapsel. Dann entfernte er die Beatmungshilfe und platzierte das Medikament.

      Als ich mit der Massage fortfuhr, spürte ich, dass mir die Vorlage leichter fiel. Die Flugzeugachse hatte sich abgesenkt. Wir waren im Sinkflug.

      »Jörg, könntest du mich bitte ablösen, ich würde gerne meine Bluse sauber machen. Es hat mich voll erwischt.«

      »Natürlich.« Jörg ließ sich neben Miriam auf die Knie.

      »Kopf überstrecken und ...«

      Jörg winkte ab. »Das ist nicht meine erste Wiederbelebung.« Er umfasste die Beatmungshilfe, die komplett in seinen Pranken verschwand. Dann blies er. Ich spürte deutlich, wie sich der Brustkorb der Frau unter meinen Händen hob und wieder senkte.

      »Oh mein Gott!«

      Ich drehte meinen Kopf kurz in Richtung der Stimme und erkannte Nina, die sich die Hand vor den Mund hielt. Attila hinter ihr gab keinen Ton von sich, sah aber nicht viel besser aus.

      »Gut, dass ihr da seid. Wer von euch beiden kann denn gleich den Horst ablösen?«, ertönte Jörgs tiefe Stimme.

      »Nicht nötig, passt schon. Noch geht es!«, sagte ich schnell. Das war glatt gelogen. Ich hätte nichts gegen einen Wechsel gehabt, aber der flüchtige Blick auf meine Kollegen genügte. Nina traute ich für die nahe Zukunft einen gepflegten Heulkrampf zu und bei Attila konnte man nie wissen. Meine Hoffnungen ruhten auf Sarah und Miriam.

      Attila ging neben dem Defi in die Hocke. Er sagte noch immer nichts. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er sein Unwohlsein damit zu überspielen versuchte, dass er Display und Anschlüsse mit fahrigen Bewegungen überprüfte. Seine Hände zitterten.

      Nina schien ihre Fassung einigermaßen wiedergefunden zu haben. Mit den Worten »Ich räum schon mal die Galley auf«, drückte sie sich hinter mir vorbei.

      Erst jetzt fiel mir das kleine Mädchen auf. Ich weiß nicht, wie lange es schon dastand, in die Ecke gedrückt und aus seinen reich bewimperten Mon-Chichi-Augen zusah. Schweigend und an einem Stoffhasen schnüffelnd. Es sah aus wie ein Baby-Äffchen, mit einem runden Gesicht und großen, dunkelbraunen Augen. Wie eine Antenne