Aurel Levy

Abgeflogen


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Mann. Ich verkniff mir ein Poser, als Attila sagte:

      »Hey, Mann, du musst im Training bleiben, gerade hier an Bord. Wir fliegen mit tausend Stundenkilometern in der Gegend rum. Da nimmt die Schwerelosigkeit zu. Dein Körper reagiert sofort und beginnt mit dem Muskelabbau. Das geht ruck-zuck! Anstatt sich mit Bordessen zu belasten, sollten die Kollegen lieber Workout machen.«

      »Und das machst du auf jedem Flug?« Nachdem weit und breit keine Spur eines Safttabletts zu entdecken war, begann ich, einen Turm aus Plastikbechern auf zwei Tabletts zu verteilen.

      »Klar, Alter! Fit bleiben. Bewegung und viel Wasser trinken. Mens sana in corpore sane. Altes türkisches Sprichwort.«

      Ich musste lachen. »Und ich dachte bislang, das wäre Latein.«

      »Hey, Mann, du kapierst das nicht. Das glauben alle. Dabei waren die Römer damals das, was heute die Amis sind. Voll die Imperialisten. Die haben ihre ganze Kultur den Griechen geklaut und die hatten zu neunzig Prozent türkische Wurzeln.«

      Konnte ich mir schon nicht vorstellen, dass die Schwerelosigkeit hier an Bord zunahm, schienen mir diese Ausführungen ein ausgesprochen türkisch-bayrischer Weg, die Welt zu erklären.

      Attila schien meinen Blick richtig zu deuten: »Alles nachweisbar! Kannst du nachlesen. Auf jeden Fall musst du deinen Körper in Schuss halten. Da stehen die Bunnys drauf. Es gibt nichts, was Frauen so scharf macht wie mein Sixpack. Wenn die das sehen, können die gar nicht mehr normal denken. Für die Chicks rieche ich förmlich nach multiplem Orgasmus.«

      Ganz genau. Miriam und Nina konnten kaum an sich halten, dir nicht die Kleider vom Leib zu reißen. Wovon träumst du nachts, wenn du tagsüber solche Schoten von dir gibst?

      Dies und noch viel mehr lag mir auf der Zunge. Ich ließ es dort liegen. Wie immer eigentlich. Unsere Pause fing in Kürze an. Vorher mussten wir noch unsere Getränke loswerden. Ich schnappte mir die letzte Tüte Orangensaft und murmelte ein »Ja ja, kann ich mir vorstellen.«

      Zehn Minuten später stand ich in einer der hinteren Toiletten. Ich hatte mein Flightkit auf den geschlossenen Toilettendeckel gestellt und holte den Schuhbeutel aus Baumwolle heraus. Fittipaldi rührte sich nicht. Ich löste den Knoten, um nach dem Rechten zu sehen. Als ich mit der Hand nach ihm griff, kam ein wenig Leben in meinen Mitflieger. Ich kannte das von früheren Langstrecken. Die Temperatur, die während der Flüge auf dem Boden meines Pilotenkoffers herrschte, war die optimale Schlaftemperatur für den kleinen Kerl. Ich setzte ihn auf meine Hand und ließ ihn erstmal wach werden. Verschlafen sah er mich an. Die Wärme meiner Hand gefiel ihm. Er presste sich fest daran, um möglichst viel Auflagefläche zu haben. Fittipaldi war eine gewöhnliche australische Bartagame. Und eine ungemein hübsche dazu. Die kurzen Stacheln an Hals und Flanke waren intensiv orange gefärbt. Auf seiner pigmentierten Haut sah das ausgesprochen schmuck aus. Überhaupt wirkte er wie ein Drachen-Model im Bonsaiformat. Ich glaube, Fittipaldi war sich seines Aussehens bewusst. Stets hielt er seinen Kopf ein wenig nach oben gereckt. Das verlieh ihm ein herrschaftliches Aussehen.

      Ich nahm den First-Class-Salat aus dem Plastiktütchen und hielt ihn Fittipaldi vor die Nase. Vermutlich hätte er lieber eines oder zwei seiner Heimchen verspeist, aber mit seinen vier Monaten wurde es Zeit, dass er sich die ewige Fleischesserei abgewöhnte und langsam etwas pflanzliche Nahrung zu sich nahm. Wenig begeistert schnappte er nach den Salatblättern. Es dauerte nicht lange und mein Schönling hatte genug vom Salatbuffet. Bevor er richtig wach wurde, setzte ich ihn in sein Schlafgemach. Ich verließ die Toilette und staute den Koffer zurück.

      Zufrieden stieg ich die Treppen in die Katakomben hinab. Alles war gut. Fittipaldi satt, die Gans tot und die Weihnachtstragödie umschifft. Ich fühlte mich müde genug, um eine Stunde schlafen zu können. Ich öffnete die Tür unseres Schlafgemachs, schlüpfte hinein und war Sekunden später bei meiner Koje. Über den Schlafcontainer im Bauch des Fliegers kursiert so manches Gerücht, aber keines, das behauptet, man könne sich verlaufen. So leise wie nur irgend möglich entledigte ich mich meiner Schuhe und ließ mich auf die Matratze sinken. Aus der Koje nebenan war ein Schnarchen zu hören. Unverkennbar Jörg, unser P1. Ich setzte mich wieder auf, um die gelben Ohrstöpsel aus den Tiefen meiner Hosentaschen zu fischen. Besser! Ich hatte gerade die Augen geschlossen, da durchfuhr es mich siedendheiß. Verdammt, der Umschlag! Wieder vergessen. Er ruhte noch immer neben Fittipaldi im Koffer. Zu ärgerlich, jetzt hätte es gut gepasst. Ich müsste mich eigentlich nur wieder anziehen und hochgehen. Andererseits, wozu? Was auch immer in dem Brief stand, während des Flugs konnte ich sowieso nichts ausrichten. Und sobald wir landeten, war Weihnachten. Ich konnte mir keinen Notar denken, der sich am Heiligabend auch nur in die Nähe seines Telefons begab.

      Großmutters Erbe würde nicht davonrennen. Denn darum ging es wohl. Ich war neben dem Tierschutzverein, mit dem mir Oma ab und an gedroht hatte, der einzige in Frage kommende Erbe.

      Ich hatte nicht die Spur einer Ahnung, was mir die alte Dame tatsächlich hinterlassen hatte. Über dieses Thema hatten wir nie offen gesprochen. Oma hatte sich nur in Andeutungen vergangen. Ziemlich sicher hatte ihr das Häuschen gehört. Es war aus den Fünfzigern und stand in Feldmoching. Aber soweit ich wusste, gab es in München keine billigen Gegenden mehr. Vermutlich war allein das Grundstück eine viertel Million wert. Eine viertel Million Euro! Klang nach ner Menge Kohle.

      Nicht, dass mir Geld jemals viel bedeutet hätte, aber im Augenblick freute ich mich schon über die paar Euro, die mir ein erfolgreicher Bordverkauf an Provision einbrachte. Eine viertel Million war unter diesen Gesichtspunkten definitiv ein Haufen Schotter. Ich trug mich mit Gedankenspielen, was ich mit so viel Geld anfangen würde. Jura studieren? Mir vielleicht eine längere Auszeit gönnen? Australien und Neuseeland fehlten mir.

      Ein wohliges Gefühl machte sich in mir breit, über dem ich irgendwann einschlief.

      KAPITEL 6

      Tatsächlich konnte ich nicht lange weg gewesen sein. Ich riss die Augen auf. In unserer Schlafstatt war es taghell. Jemand musste die Beleuchtung auf höchste Stufe geschaltet haben. Im ersten Moment dachte ich an eine Rauch- oder Feuerwarnung, aber dann hätte es einen Warnton geben müssen. Ungelenk popelte ich die Ohrstopfen heraus. Miguel, der Kollege aus der Businessclass, stürzte durch die Tür und rief sichtlich aufgeregt:

      »Ihr müsst alle nach oben kommen. Wir haben einen medizinischen Notfall.« Er wollte auf dem Absatz kehrtmachen, als ihn eine energische Stimme zurückhielt:

      »Miguel!«

      Der Spanier drehte sich um und kreuzte Jörgs Blick, der sich bereits aufgerichtet hatte und ihn zu sich winkte. Jörg hatte sich seine Schlafbrille in die Stirn geschoben und sah nicht gerade so aus, als wollte er dem Flugbegleiter vor Freude um den Hals fallen.

      »Wenn du uns schon wach machst, dann sag uns wenigstens, was los ist und wo wir nach dem Patienten suchen dürfen.«

      »Miriam und Sarah sind bei der Frau. Mein Gott, das ist so furchtbar, ich kann da nicht mehr hin.«

      »Reiß dich zusammen, Sakrament! Wo ist diese Frau? Etwa in der Eco?«

      »Ja.« Er nickte heftig. »In der Galley. Sie hat Miriam vollgekotzt. Dieser Gestank – ich kann das nicht riechen. Ich musste mich selbst fast übergeben.«

      »Und was hat sie?«

      »Ich weiß nicht, Schlaganfall oder so was. Ich muss wieder hoch.«

      Einen Wimpernschlag später war er verschwunden.

      »Na, dann mal Fröhliche Weihnachten«, hörte ich Jörg brummen, »das hat uns gerade noch gefehlt.«

      Ein ungutes Gefühl beschlich mich, während ich meine Schuhe zuband. Miguels Aussage war ziemlich wirr gewesen. Verstanden hatte ich, dass es einer Frau schlecht ging, die sich in unserer Bordküche befand und von Sarah und Miriam betreut wurde. Klang eigentlich nicht dramatisch. Auch wenn Miguel völlig mit den Nerven runter war.

      Zum Glück musste ich nur noch meine Schuhe anziehen. Der kleine Spiegel gab mir das Go!, mich unter Menschen wagen zu können. Oben angelangt wäre ich beinahe mit