Charlotte Bronte

Jane Eyre


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mein Freund, ich liebe ihn; ich glaube, daß er mich liebt.«

      »Und werde ich dich wiedersehen, Helen, wenn ich sterbe?«

      »Du wirst in dieselben Regionen der Glückseligkeit kommen wie ich; derselbe mächtige Allvater wird auch dich an sein Herz nehmen, Jane, zweifle nicht daran.«

      Wiederum fragte ich, doch dieses Mal nur in Gedanken, »wo sind jene Regionen? Sind sie wirklich?« Und fester schlang ich meine Arme um Helen; sie war mir in diesem Augenblick teurer denn je; mir war, als könne ich sie nicht fortgehen lassen; ich verbarg mein Gesicht an ihrer Brust, Gleich darauf sagte sie in ihrer süßesten Weise:

      »Wie wohl ich mich fühle! Jener letzte Hustenanfall hat mich ein wenig ermüdet; mir ist, als könnte ich jetzt schlafen; aber verlaß mich nicht, Jane; es ist so schön, dich so nahe zu wissen.«

      »Ich bleibe bei dir, süße Helen; niemand soll mich von hier fortnehmen.«

      »Ist dir warm, mein Liebling?«

      »Ja.«

      »Gute Nacht, Jane.«

      »Gute Nacht, Helen.«

      Sie küßte mich und ich küßte sie: bald schliefen wir beide.

      Als ich erwachte, war es Tag. Eine ungewöhnliche Bewegung weckte mich; ich öffnete die Augen; jemand hielt mich in den Armen; es war die Krankenwärterin; sie trug mich durch die Korridore in den Schlafsaal zurück. Man erteilte mir keinen Verweis dafür, daß ich mein Bett verlassen hatte; die Leute hatten an andere Dinge zu denken. Auf meine vielen Fragen gab man mir damals keine Erklärungen; aber einige Tage später erfuhr ich, daß Miß Temple, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt, mich in dem kleinen Bette gefunden habe; mein Gesicht ruhte auf Helen Burns Schulter, meine Arme umschlangen ihren Hals. Ich schlief, und Helen war – tot.

      Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhofe von Brocklebridge; noch fünfzehn Jahre nach ihrem Tode deckte es nur ein einfacher Grashügel. Jetzt bezeichnet eine graue Marmortafel die Stelle; darauf steht ihr Name und das Wort: »Resurgam.«

      Zehntes Kapitel

      Bis hierher habe ich jede Begebenheit meines unbedeutenden Daseins bis ins kleinste Detail geschildert; – den ersten zehn Jahren meines Lebens habe ich ebenso viele Kapitel gewidmet. – Es ist aber nicht meine Absicht, eine ordentliche Autobiographie zu schreiben; ich fühle mich nur verpflichtet, mein Gedächtnis zu befragen, wo seine Antworten bis zu einem gewissen Grade Interesse bieten können; darum übergehe ich einen Zeitraum von acht Jahren fast mit Stillschweigen; nur wenige Reihen sind notwendig, um die Verbindung aufrecht zu erhalten.

      Als das typhöse Fieber seine Mission der Zerstörung in Lowood erfüllt hatte, verschwand es nach und nach von dort; aber nicht, bevor seine Heftigkeit und die Anzahl seiner Opfer die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Die Ursache dieser Geißel wurde genau untersucht, und so wurden mehrere Fakta entdeckt, welche die allgemeine öffentliche Empörung im höchsten Grade wachriefen. Die ungesunde Lage des Instituts; die Quantität und die Qualität der Nahrung, welche den Kindern verabreicht wurde; das schlechte, stinkende Wasser, welches bei der Zubereitung verwendet wurde; die elende, unzureichende Bekleidung der Schülerinnen – alle diese Dinge kamen ans Tageslicht, und die Entdeckung machte einen sehr beschämenden Eindruck für Mr. Brocklehurst, hatte aber eine wohltätige Wirkung für das Institut. Mehrere wohlhabende und wohlwollende Leute in der Gegend zeichneten große Summen für den Aufbau eines passenderen Gebäudes in einer besseren Lage; neue Statuten wurden aufgestellt. Verbesserungen in Diät und Kleidung eingeführt; das Betriebskapital der Schule wurde der Verwaltung eines Komitees anvertraut. Mr. Brocklehurst, welcher seiner Familienverbindungen und seines Reichtums wegen nicht ganz übersehen werden konnte, behielt das Amt eines Kassenverwalters; aber bei der Erledigung seiner Pflichten standen ihm Herren von sympathischerer Sinnesart und humanerem Charakter zur Seite; auch sein Amt als Inspektor mußte er mit Leuten teilen, welche Strenge mit Vernunft, Komfort mit Sparsamkeit, Mitgefühl mit Gerechtigkeit zu paaren wußten. In solcher Gestalt verbessert, wurde sie mit der Zeit zu einer wahrhaft nützlichen und edlen Gründung. Ich blieb noch acht Jahre nach ihrer Renovation eine Bewohnerin ihrer Mauern: sechs Jahre als Schülerin und zwei als Lehrerin. In beiden Eigenschaften kann ich nur ihren großen Wert und ihre Wichtigkeit bezeugen.

      Wahrend dieser acht Jahre war mein Leben außerordentlich einförmig; aber nicht unglücklich, weil es nicht untätig war. Die Mittel, mir eine ausgezeichnete Erziehung anzueignen, waren mir an die Hand gegeben; eine Vorliebe für einige meiner Studien, der Wunsch, in allen das Höchste zu erreichen, verbunden mit dem innigen Wunsch, meine Lehrerinnen zu befriedigen, besonders jene, welche ich liebte: dies alles trieb mich vorwärts und daher benutzte ich in vollem Maße die Vorteile, welche sich mir darboten. Mit der Zeit stieg ich zum Range der ersten Schülerin in der ersten Klasse empor; dann wurde ich mit dem Amte einer Lehrerin betraut; dieser Pflichten entledigte ich mich während zweier Jahre. Doch nach Ablauf dieser Zeit wurde ich andern Sinnes.

      Während all dieser Wechsel war Miß Temple Vorsteherin des Seminars geblieben; ihrem Unterricht verdankte ich den besten Teil meiner Kenntnisse; ihre Freundschaft und ihre Gesellschaft waren mein immerwährender Trost gewesen; sie hatte die Stelle einer Mutter bei mir vertreten, sie war meine Erzieherin und später meine Gefährtin gewesen. Um diese Zeit heiratete sie und zog mit ihrem Gatten – einem Geistlichen, der ein ausgezeichneter Mann und beinahe einer solchen Gattin würdig gewesen wäre – in eine entfernte Grafschaft; für mich war sie folglich verloren.

      Seit dem Tage, wo sie uns verließ, war ich nicht mehr dieselbe; mit ihr war jedes Gefühl der Festigkeit, jede Gemeinschaft, die Lowood bis zu einem gewissen Grade zu meiner Heimat gemacht hatte, dahin. Ich hatte einiges von ihrer Natur, viele ihrer Gewohnheiten angenommen; harmonischere Gedanken, besser geregelte Empfindungen waren die Bewohner meiner Seele geworden. Ich hatte mich der Pflicht und der Ordnung unterworfen; ich war ruhig geworden; ich glaubte, daß ich zufrieden sei; den Augen anderer, oft sogar meinen eigenen, erschien ich ein wohldisziplinierter und fester, gezügelter Charakter.

      Aber das Schicksal in Gestalt Sr. Ehrwürden des Herrn Nasmyth trat zwischen Miß Temple und mich; – ich sah sie kurz nach der Zeremonie der Trauung im Reisekleide in die Postchaise steigen; ich sah den Wagen den Hügel hinauf fahren und hinter diesem Hügel verschwinden. Dann ging ich auf mein Zimmer. Und dort verbrachte ich auch in Einsamkeit den größten Teil des halben Ferialtages, welchen man uns der feierlichen Gelegenheit zu Ehren gewährt hatte.

      Viele Stunden lang ging ich im Zimmer auf und ab. Ich bildete mir ein, daß ich nur meinen Verlust betrauere und daran dächte, ihn zu ersetzen; als ich aber den Schluß meiner Reflexionen zog und aufsah und fand, daß der Nachmittag hingegangen und der Abend weit vorgeschritten sei, – da dämmerte eine andere Entdeckung vor mir auf: ich fühlte, daß ich in der Zwischenzeit einen transformierenden Prozeß durchgemacht habe; daß mein Gemüt abgestreift habe alles, was es von Miß Temple erborgt hatte – oder vielmehr, daß sie die reine Atmosphäre, welche ich in ihrer Nähe eingeatmet hatte, mit sich genommen habe, und daß ich jetzt in meinem eigenen natürlichen Element zurückgeblieben sei. Ich fühlte, wie die alten, wilden Gefühle wieder in mir erwachten, Es war nicht, als ob eine Stütze mir genommen sei, sondern vielmehr, als ob eine bewegende Kraft verloren gegangen; nicht als ob die Fähigkeit, ruhig und zufrieden zu sein, geschwunden sei, sondern als ob die Ursache zur Zufriedenheit dahin sei. Während vieler Jahre war Lowood meine ganze Welt gewesen; meine Erfahrung kannte nichts anderes als seine Vorschriften, sein System. Jetzt aber fiel mir ein, daß die Welt groß sei, und daß ein weites, wechselvolles Feld von Furcht und Hoffnung, von Bewegung und Anregung jene erwarte, welche genug Mut besäßen, auf diese Wahlstatt hinauszugehen, um wirkliche Lebenserfahrung und Kenntnis inmitten seiner Gefahren zu suchen.

      Ich ging an das Fenster, öffnete es und blickte hinaus. Da lagen die beiden Flügel des Gebäudes, da war der Garten, dort die Grenze von Lowood, weit hinten der hügelige Horizont. Mein Auge schweifte über alle anderen Gegenstände fort, um an den entferntesten haften zubleiben: an den Gipfeln der Berge! Diese zu übersteigen sehnte ich mich; alles was innerhalb ihrer Grenzen von Felsen und Haide lag, schien mir Gefängnisboden, Grenzen des Exils. Ich verfolgte