Charlotte Bronte

Jane Eyre


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Ich weiß nicht, Madame; ich werde mich in der Schenkstube erkundigen.« Er verschwand, kam aber augenblicklich zurück:

      »Ist Ihr Name Eyre, Miß?«

      »Ja.«

      »Es wartet jemand auf Sie.«

      Ich sprang auf, griff nach Muff und Regenschirm und eilte in den Korridor des Gasthauses. Ein Mann stand in der offenen Tür und auf der von Laternen erhellten Straße konnte ich die Umrisse eines einspännigen Gefährts unterscheiden.

      »Dies ist wohl Ihr Gepäck?« sagte der Mann in der Tür hastig, als er meiner ansichtig wurde, und zeigte auf meinen Koffer, der im Gange stand.

      »Ja.« Er hißte ihn auf den Wagen, welcher eine Art von Karren war, hinauf, und dann stieg ich nach. Ehe er die Tür hinter mir zuschlug, fragte ich, wie weit es bis Thornfield sei.

      »Eine Sache von sechs Meilen.«

      »Und wie lange fahren wir?«

      »Vielleicht anderthalb Stunden!«

      Er schloß die Wagentür, kletterte auf seinen Sitz, und wir fuhren ab. Langsam kamen wir vorwärts, und ich hatte reichliche Muße zum Nachdenken. Ich war zufrieden, dem Endziel meiner Reise so nahe zu sein, und als ich mich in das bequeme, wenn auch durchaus nicht elegante Gefährt zurücklehnte, gab ich mich ungestört meinen Gedanken hin.

      »Nach der Einfachheit und der Anspruchslosigkeit des Dieners und des Wagens zu urteilen, ist Mrs. Fairfax keine sehr elegante Person; um so besser; ich habe nur einmal unter feinen Leuten gelebt und bei ihnen habe ich mich sehr unglücklich gefühlt. Ich möchte wissen, ob sie mit diesem kleinen Mädchen ganz allein lebt. Wenn das der Fall und sie auch nur einigermaßen liebenswürdig ist, werde ich sehr gut mit ihr fertig werden. Ich werde mein Bestes tun. Aber wie schade, daß es nicht immer genügt, sein Bestes zu tun. In Lowood allerdings faßte ich diesen Entschluß, führte ihn aus, und es gelang mir, allen zu gefallen; aber bei Mrs. Reed erinnere ich mich, daß selbst mein Bestes immer nur Hohn und Verachtung hervorrief. Ich flehe zu Gott, daß Mrs. Fairfax keine zweite Mrs. Reed sein möge. Wenn sie es aber ist, so brauche ich nicht bei ihr zu bleiben. Kommt das Schlimmste zum Schlimmen, so kann ich ja immer noch wieder eine Annonce in den Herald rücken lassen. – Wie weit wir jetzt wohl schon auf dem Wege sein mögen?«

      Ich ließ das Fenster herab und blickte hinaus. Millcote lag hinter uns; nach der Anzahl seiner Lichter schien es ein Ort von beträchtlicher Größe, viel größer als Lowton. So weit ich es überblicken konnte, befanden wir uns jetzt auf einer Art Weide; aber über den ganzen Distrikt lagen Häuser zerstreut; ich fühlte, daß wir uns in Regionen befanden, welche sehr verschieden von denen Lowoods; sie waren bevölkerter, aber weniger malerisch; sehr belebt, aber weniger romantisch.

      Die Straßen waren kotig, die Nacht war nebelig; mein Kutscher ließ sein Pferd fortwährend im Schritt gehen, und ich glaube, daß aus den anderthalb Stunden mindestens zwei wurden. Endlich wandte er sich um und sagte:

      »Jetzt sind wir nicht mehr weit von Thornfield.«

      Wieder blickte ich hinaus; wir fuhren an einer Kirche vorüber; ich sah den niedrigen, breiten Turm sich gegen den Himmel abzeichnen, seine Glocken verkündeten die Viertelstunde; dann sah ich auch eine schmale Reihe von Lichtern auf einer Anhöhe; es war ein Dorf oder ein Weiler. Nach ungefähr zehn Minuten stieg der Kutscher ab und öffnete eine Pforte; wir fuhren hindurch und sie schlug hinter uns zu. Jetzt kamen wir langsam über den großen Fahrweg des Parks und fuhren an der langen Front eines Hauses entlang; aus einem verhängten Bogenfenster fiel ein Lichtschein; alle übrigen waren dunkel. Der Wagen hielt vor der Haustür. Eine Dienerin öffnete dieselbe; ich stieg aus und ging hinein.

      »Bitte, diesen Weg, Fräulein,« sagte das Mädchen, und ich folgte ihr durch eine viereckige Halle, in welche von allen Seiten Türen mündeten. Sie führte mich in ein Zimmer, dessen doppelte Illumination durch Kerzen und Kaminfeuer mich im ersten Augenblick blendete, denn sie kontrastierte zu stark mit der Dunkelheit, an welche meine Augen sich während der letzten Stunden gewöhnt hatten. Als ich jedoch imstande war, wieder zu sehen, bot sich meinen Blicken ein gemütliches und angenehmes Bild dar.

      Ein hübsches, sauberes, kleines Zimmer, ein runder Tisch an einem lustig lodernden Kaminfeuer; ein hochlehniger, altmodischer Lehnstuhl, in welchem die denkbar zierlichste, ältere Dame saß. Sie trug eine Witwenhaube, ein schwarzes Seidenkleid und eine schneeweiße Musselinschürze: gerade so wie ich mir Mrs. Fairfax vorgestellt hatte, nur weniger stattlich und viel milder und gütiger aussehend. Sie war mit Stricken beschäftigt; eine große Katze lag schnurrend zu ihren Füßen, – kurzum, nichts fehlte, um das beau-idéal häuslichen Komforts zu vervollständigen. Eine angenehmere Introduktion für eine neue Gouvernante ließ sich kaum denken; keine Erhabenheit, die überwältigte, keine Herablassung, die in Verlegenheit setzte. Als ich eintrat, erhob die alte Dame sich und kam mir schnell und freundlich entgegen.

      »Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Ich fürchte, daß Sie eine sehr langweilige Fahrt gehabt haben, John fährt so langsam; es muß Ihnen aber kalt sein, kommen Sie ans Feuer.«

      »Mrs. Fairfax vermutlich?« fragte ich.

      »Die bin ich. Bitte, nehmen Sie Platz.«

      Sie führte mich zu ihrem eigenen Stuhl und dort begann sie, mir meinen Shawl abzunehmen und meine Hutbänder zu lösen. Ich bat sie, sich meinetwegen nicht so viel Umstände zu machen.

      »O, das sind keine Umstände. Ihre eigenen Hände müssen vor Kälte ja ganz erstarrt sein. Leah, bereite ein wenig heißen Negus und streiche ein paar Butterbrote; hier sind die Schlüssel zur Speisekammer.«

      Bei diesen Worten zog sie ein hausfrauliches Bund Schlüssel aus ihrer Tasche und übergab es der Dienerin.

      »Und jetzt rücken Sie näher an das Feuer,« fuhr sie fort. »Nicht wahr, meine Liebe, Sie haben Ihr Gepäck mitgebracht?«

      »Ja wohl, Madame.«

      »Ich werde dafür sorgen, daß man es auf Ihr Zimmer trägt,« sagte sie und trippelte geschäftig hinaus.

      »Sie behandelt mich wie einen Gast,« dachte ich. »Solch einen Empfang habe ich wahrlich nicht erwartet; ich sah nichts als Kälte und Steifheit voraus; dies gleicht wenig den Erzählungen, die ich von der Behandlung der Gouvernanten gehört habe; – aber ich darf nicht zu früh jubeln.«

      Sie kehrte zurück; mit ihren eigenen Händen räumte sie ihren Strickstrumpfapparat und mehre Bücher vom Tische, um Platz für das Speisenbrett zu machen, welches Leah jetzt brachte, und dann reichte sie selbst mir die Erfrischungen. Ich ward ein wenig verwirrt, als ich mich in dieser Weise zum Gegenstand so zarter, ungewohnter Aufmerksamkeiten gemacht sah, und das noch obendrein von meiner Brotherrin; da sie selbst aber garnicht zu finden schien, daß sie etwas tat, was ihr nicht zukam, hielt ich es für das Beste, ihre Liebenswürdigkeit ruhig hinzunehmen.

      »Werde ich das Vergnügen haben, Miß Fairfax noch heute Abend zu sehen?« fragte ich, nachdem ich von dem genossen hatte, was sie mir vorgesetzt.

      »Was sagten Sie, meine Liebe? Ich bin ein wenig taub,« entgegnete die gute Dame, indem sie ihr Ohr meinem Munde näherte.

      Deutlicher wiederholte ich die Frage.

      »Miß Fairfax? O, Sie meinen Miß Varens! Varens ist der Name Ihrer künftigen Schülerin.«

      »In der Tat? Dann ist sie also nicht Ihre Tochter?«

      »Nein. – Ich habe keine Familie.«

      Eigentlich hätte ich meiner ersten Frage noch einige andere folgen lassen sollen und mich erkundigen, in welcher Weise Miß Varens denn mit ihr verwandt sei; aber ich erinnerte mich glücklicherweise noch zu rechter Zeit, daß es nicht höflich sei, so viele Fragen zu stellen; überdies wußte ich ja, daß ich mit der Zeit wohl alles erfahren würde.

      »Ich bin so froh« – fuhr sie fort, als sie sich mir gegenüber setzte und die Katze auf ihren Schoß nahm, »ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Jetzt wird das Leben hier mit einer Gefährtin ganz angenehm sein. Nun, es ist auch wohl zu allen Zeiten angenehm, denn Thornfield ist ein prächtiger