schon draußen?« sagte sie. »Ich sehe, Sie sind gewöhnt früh aufzustehen.« Ich ging zu ihr und wurde mit einem Kusse und einem herzlichen Händedruck bewillkommnet.
»Wie gefällt Ihnen Thornfield?« fragte sie. Ich sagte ihr, daß ich es sehr schön fände.
»Ja,« sagte sie, »es ist ein reizender Ort; aber ich fürchte, es wird vernachlässigt werden, wenn Mr. Rochester es sich nicht in den Kopf setzt, herzukommen und permanent hier zu residieren, oder es wenigstens häufiger zu besuchen. Große Häuser und schöne Parks erfordern die Anwesenheit ihres Besitzers.«
»Mr. Rochester!« rief ich aus. »Wer ist das?«
»Der Besitzer von Thornfield,« antwortete sie ruhig. »Wußten Sie nicht, daß er Rochester heißt?«
Natürlich wußte ich das nicht – ich hatte ja noch niemals von ihm gehört; aber die alte Dame schien sein Dasein für ein so allgemein bekanntes Faktum zu halten, daß jedermann es schon instinktiv kennen mußte.
»Ich glaubte,« fuhr ich fort, »daß Thornfield Ihr Eigentum sei.«
»Mein Eigentum? Gott segne Sie, Kind! Welche eine Idee! Mein Eigentum? Ich bin nur die Haushälterin, die Verwalterin. Allerdings bin ich durch die Familie seiner Mutter entfernt mit den Rochesters verwandt, oder wenigstens war mein Gatte es: er war ein Geistlicher, Pfründenbesitzer von Hay – jenes kleine Dorf da drüben auf dem Hügel – und die Kirche neben der Parkpforte war die seine. Die Mutter des jetzigen Mr. Rochester war eine Fairfax und meines Mannes Cousine im zweiten Grade; aber ich tue mir auf diese Verwandtschaft niemals etwas zu Gute und erlaube mir deshalb keine Freiheiten – in der Tat, ich mache mir gar nichts daraus; ich betrachte mich selbst in dem Lichte einer ganz gewöhnlichen Haushälterin; mein Brotherr ist immer höflich, und mehr erwarte ich nicht,«
»Und das kleine Mädchen – meine Schülerin?«
»Sie ist Mr. Rochesters Mündel; er beauftragte mich, eine Gouvernante für sie zu suchen. Ich glaube, daß er die Absicht hegt, sie in –shire erziehen zu lassen. Da kommt sie mit ihrer »Bonne«, wie sie ihre Wärterin nennt.«
Das Rätsel war also gelöst; diese freundliche, gütige, kleine Witwe war keine große Dame, sondern eine Untergebene wie ich selbst. Deshalb war sie mir nicht weniger lieb; im Gegenteil, ich fühlte mich wohliger als zuvor. Die Gleichheit zwischen ihr und mir bestand wirklich, – sie war nicht das Resultat bloßer Herablassung von ihrer Seite. Um so besser – meine Stellung war deshalb um so viel freier.
Während ich noch über diese Entdeckung nachdachte, kam ein kleines Mädchen, welchem eine Wärterin folgte, über den Grasplatz daher gelaufen. Ich betrachtete meine Schülerin, welche mich anfangs nicht zu bemerken schien. Sie war noch ein Kind, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, zart gebaut, blaß mit kleinen Gesichtszügen und einem Überfluß von Haar, das in Locken über die Schultern wallte.
»Guten Morgen, Miß Adela,« sagte Mrs. Fairfax, »Kommen Sie her und sprechen Sie mit dieser Dame, welche Ihre Lehrerin sein wird, damit Sie eines Tages eine gescheite Dame werden.« Die Kleine kam näher.
»C'est là ma gouvernante?« fragte sie zu ihrer Wärterin gewendet auf mich zeigend; diese antwortete:
»Mais oui, certainement.«
»Sind sie Ausländer?« fragte ich, ganz erstaunt, die französische Sprache zu hören.
»Die Wärterin ist eine Ausländerin und Adela wurde auf dem Kontinent geboren; ich glaube auch, daß sie bis vor sechs Monaten dort verblieb. Als sie zuerst herkam, konnte sie kein Wort englisch sprechen; jetzt hat sie es so weit gebracht, ein wenig sprechen zu können; ich verstehe sie nicht, sie vermischt es so sehr mit dem Französischen; aber ich vermute, daß Sie sehr gut begreifen werden, was sie meint.«
Zum Glück hatte ich den Vorteil gehabt, französisch von einer Französin zu lernen; und da ich es mir stets hatte angelegen sein lassen, so viel wie möglich mit Madame Pierrot zu reden und überdies während der letzten sieben Jahre täglich mehrere Seiten französisch auswendig gelernt hatte, war es mir möglich geworden, mir einen Grad der Fertigkeit und der Korrektheit in der Sprache anzueignen, welcher mich in den Stand setzte, mit Mademoiselle Adele gleichen Schritt zu halten.
Als sie hörte, daß ich ihre Gouvernante sei, kam sie auf mich zugelaufen und reichte mir die Hand; dann führte ich sie in das Frühstückszimmer und richtete einige Worte in ihrer Muttersprache an sie; im Anfang antwortete sie sehr kurz, aber nachdem wir am Tische Platz genommen hatten und sie mich ungefähr zehn Minuten mit ihren großen hellbraunen Augen angesehen hatte, begann sie plötzlich ganz geläufig zu plaudern.
»Ach,« rief sie auf französisch aus, »Sie sprechen meine Muttersprache ebenso gut wie Mr. Rochester, ich kann mit Ihnen reden wie mit ihm, und Sophie kann es auch. Sie wird glücklich sein; hier kann niemand sie verstehen, Madame Fairfax ist durch und durch englisch. Sophie ist meine Wärterin; sie ist mit mir über das Meer gekommen in einem großen Schiffe mit einem Schornstein, der rauchte – und wie er rauchte! – und ich war krank, und Sophie war es auch und Mr. Rochester auch. Mr. Rochester legte sich auf ein Sofa in einem hübschen Zimmer, das Salon genannt wurde, und Sophie und ich hatten kleine Betten in einem anderen Zimmer. Beinahe wäre ich aus dem meinen heraus gefallen, es war ganz wie ein Brett. Und, Mademoiselle – wie heißen Sie doch?«
»Eyre – Jane Eyre.«
»Aire? Bah! Das kann ich nicht aussprechen. Nun also weiter: gegen Morgen, der Tag war noch nicht ganz angebrochen, hielt unser Schiff bei einer großen Stadt an – bei einer enorm großen Stadt, mit sehr düsteren Häusern, die ganz von Rauch geschwärzt waren; sie hatte gar keine Ähnlichkeit mit der sauberen, hübschen Stadt, aus welcher ich kam. Und Mr. Rochester trug mich auf seinen Armen über ein Brett ans Land, und Sophie kam hinterher; dann stiegen wir alle in einen Wagen, der uns bis an ein großes, prächtiges Haus brachte, viel größer und viel, viel schöner als dieses, und es hieß ein »Hotel«. Dort blieben wir beinahe eine Woche. Sophie und ich gingen oft auf einem großen, grünen Platz voller Bäume umher, den sie »Park« nannten. Außer mir waren noch viele, viele Kinder dort, und ein Teich mit prachtvollen Vögeln darauf, die ich oft mit Brotkrumen gefüttert habe.«
»Können Sie sie denn eigentlich verstehen, wenn sie so schnell plappert?« fragte Mrs. Fairfax.
Ich verstand sie sehr gut, denn ich war an Madame Pierrots geläufige Zunge gewöhnt.
Dann fuhr die gute, alte Dame fort: »ich möchte gern, daß Sie ein paar Fragen über ihre Eltern an sie richteten; es soll mich doch wundern, ob sie sich ihrer noch erinnert?«
»Adele,« fragte ich, »mit wem hast du in jener hübschen, sauberen Stadt gewohnt, von welcher du mir erzählt hast?«
»Mit meiner Mama, aber das ist schon lange her; sie ist zur heiligen Jungfrau gegangen. Mama hat mich auch tanzen und singen und schöne Verse hersagen gelehrt. Viele Herren und Damen kamen stets, um Mama zu besuchen, und dann pflegte ich ihnen etwas vorzutanzen oder vorzusingen. Oft nahmen sie mich auf den Schoß, und ich sagte ihnen Gedichte her. Wollen Sie mich jetzt auch singen hören?«
Sie war mit ihrem Frühstück zu Ende, und deshalb erlaubte ich ihr, mir eine Probe ihres Talents zu geben. Sie kletterte von ihrem Stuhl herunter und kam zu mir, um sich auf meinen Schoß zu setzen; dann faltete sie ernsthaft ihre kleinen Hände, warf ihre Locken zurück, heftete ihre Augen auf die Decke des Zimmers und begann, eine Melodie aus irgend einer Oper zu singen. Es war ein Lied von einer verlassenen Frau, welche anfangs die Treulosigkeit ihres Geliebten beweint und dann ihren Stolz zu Hilfe ruft; darauf befiehlt sie ihrer Begleiterin, ihr die schönsten Gewänder und ihre prächtigsten Juwelen zu bringen und beschließt, dem Falschen am Abend auf einem Balle zu begegnen und ihm durch ihre Fröhlichkeit zu beweisen, wie wenig seine Treulosigkeit sie ergriffen hat.
Das Lied schien seltsam gewählt für eine so kindliche Sängerin; aber ich vermute, daß der Schwerpunkt dieser Produktion darin lag, diese Töne und Worte der Liebe und Eifersucht von den Lippen des Kindes zu hören; und sehr geschmacklos schien mir diese Pointe zu sein.
Adele sang die Canzonette ganz geschmackvoll und mit der Naivität ihrer