Olaf Kolbrück

Keine feine Gesellschaft


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      »Ich hatte Langeweile. Also dachte ich, ich könnte auch ein wenig Chemie pauken. Aber es ist sinnlos. Ich werde das nie verstehen.« Sie warf den Bleistift auf das Buch. »Vielleicht sollte ich einfach noch mal an die Schule fahren, ein paar Jungs anhauen, die ständig Joints drehen und leistungssteigernde Pillen zusammenbrauen, und mir von denen alles mal ganz genau erklären lassen. Vielleicht lerne ich auf diesem Weg mehr über Chemie und molekulare Bindungen.«

      Eva fielen die beiden Schokoladentafel großen Packungen mit dem Haschisch von Wim ein. Sie ging zu ihrer Tochter hinüber und strich ihr über die Schulter.

      »Vielleicht kann dir auch deine Mutter Nachhilfe geben?«

      Eva achtete nicht darauf, wie Corinna übertrieben gekünstelt die Augen verdrehte.

      »Wie wäre es zum Anfang damit: Tetrahydrocannabinol wird im Körper zu welchen Stoffen oxidiert?«

      Corinna sah sie nur fragend an. »Tetra, was?«

      »THC, der Fachmann spricht auch von Gras, Cannabis, Marihuana. Falls du Drogen kaufen willst, solltest du wenigstens ein wenig Basiswissen haben. Sonst verkaufen sie dir an der Schule noch Thymian. Deshalb ist es gut, dass du eine tolle Mutter hast.«

      Sie zog das in Klarsichtfolie verpackte Haschisch aus der Tasche und wedelte damit in der Luft herum. »Aber wahrscheinlich ist dir auch das zu viel Chemie.« Sie sah ihre Tochter schelmisch an.

      »Jetzt einen Joint?«

      Corinna lachte.

      »Nein. Ich habe es aufgegeben. Das letzte Mal, als ich Gras geraucht habe, war ich anschließend mit einem Mädchen zusammen, das ich kaum kannte und das sich nach zwei Tagen als totale Langweilerin entpuppte.«

      »Wer war das?«

      »Kennst du nicht. Ist schon ein paar Jahre her.« Sie klappte ihr Chemiebuch zu.

      Eva nickte und verzog ein wenig die Mundwinkel. Sollte sie sich nun darüber Gedanken machen, dass ihre Tochter, die mit den langen glatten schwarzen Haaren und dem schmalen Gesicht für sie immer noch wie eine kleine Prinzessin aussah, als junger Teenager Gras geraucht hatte? Oder sollte sie nun froh sein, dass sie es seit Jahren nicht mehr tat? Schließlich hatte sie es auch lange Zeit getan. Sogar noch in den ersten Jahren als Polizistin. Da waren ein paar Gramm Gras nicht bloß ein Kavaliersdelikt. Natürlich war sie erleichtert, wie vernünftig ihre Tochter war. Obwohl selbst am Gymnasium Drogen zum Alltag gehörten wie Waldmeister-Sirup im Kindergarten. Die Lehrer schauten weg, und die Polizei schritt nicht ein, solange es nur um weiche Drogen ging. Wozu auch mit den Muskeln spielen. In ein, zwei Jahren machten die kleinen Hobby-Dealer Abitur, verschwanden Richtung Uni und neue rückten nach. Verhaftungen als Abschreckung? Dann verlor man die Szene aus den Augen und die Jugendlichen rutschten ab ins Milieu. Wichtiger war es, rechtzeitig einzugreifen, wenn sie ihren Drogenkonsum nicht mehr unter Kontrolle hatten. Das aber konnten auch die Lehrer nur verfolgen, wenn die Schüler nicht von Handschellen abgeschreckt in dunkle Keller abtauchten. Und was war mit jenen, die kein Gras rauchten, aber reihenweise bunte Psycho-Pillen einwarfen, manchmal sogar auf Rezept, um sich damit für die Abitur-Prüfung zu tunen?

      Corinna erschien ihr da fast schon zu normal. Mit ihrer derzeitigen Freundin war sie seit einem halben Jahr in einer festen Beziehung. Mit 17. Eva machte hinter der Zahl gedanklich ein Ausrufezeichen. In dem Alter ihrer Tochter hatten ihre festen Beziehungen selten länger Bestand gehabt als 48 Stunden. Corinna war anders. Musste sie sich deshalb Sorgen machen? Steckte womöglich mehr dahinter? Der einzige rebellische Ausdruck war, dass sie nur schwarz trug. »Das ist praktisch. Da muss ich mir keine Sorgen über die Farbzusammenstellung machen« war ihre Begründung gewesen. Corinna war entschieden zu pragmatisch. Das musste sie von ihrer Großmutter haben.

      Mein Gott, schimpfte Eva mit sich. Ich werde schon wie meine Mutter. Der konnte ich es auch nie recht machen. Gleichgültig, was ich getan habe. Immer misstrauisch. Hauptsache Sorgen machen, dachte sie. Sie hatte sich deshalb bewusst bemüht, alles anders zu machen. Als Corinna ihr eröffnet hatte, dass sie lesbisch sei, hatte Eva es mit einer Miene zur Kenntnis genommen, mit der sie auch die Entscheidung ihrer Tochter für eine weiße oder schwarze Jeans kommentiert hätte. Lediglich hinterher hatte sie sich dann im Stillen gefragt, wie das denn eines Tages wohl mit Enkeln wäre – dabei war sie erst 42 und weit weg von irgendeinem Gedanken an großmütterliches Windelwickeln. Trotzdem hatte sich so etwas wie ein Verlustgefühl breit gemacht. Was war das nur für ein spießiger Gedanke gewesen? Hätte gut zu ihrer Mutter gepasst.

      Corinna unterbrach ihre Gedanken.»Wo hast du denn das Dope her? Als ich dich das letzte Mal mit einer Tüte gesehen habe, musste ich noch Kniestrümpfe tragen.«

      »Es gehört Voss. Ich hebe es ein paar Tage für ihn auf. Er hatte heute Morgen im Kleingarten Besuch von der Polizei. Jemand war der Meinung, dass seine Gerätebox der richtige Platz sei, um eine Leiche zu deponieren. Du weißt ja, da bleibt bei der Spurensuche kein Stein auf dem anderen. Also hebe ich sein Dope für ihn auf, bevor es Missverständnisse gibt.«

      »Ein Mord? Hier bei uns um die Ecke?« Corinna setzte sich aufrecht.

      »Komm mit in die Küche. Ich mache uns schnell was zu essen. Dann erzähle ich dir die Einzelheiten.«

      Während sechs Eier im Wasser köchelten, hackte sie Kräuter, mischte Soße an und erzählte Corinna vom Fund der Leiche und der hochnäsigen Art von Kerner.

      Als die Eier hart gekocht waren, pellte sie diese, ohne sie vorher abzuschrecken, holte die Kartoffeln vom Herd und stellte dann alles zusammen mit einem Teller ›Frankfurter Grüne Soße‹ auf den dunklen Klostertisch, der einen deutlichen Kontrast zu den modernen Designerstühlen im Esszimmer bildete. Auf das Rezept war sie mächtig stolz. Statt fetter Mayonnaise nahm Eva Joghurt, statt Schmand benutzte sie Quark und rührte dazu ein wenig geschlagene Sahne unter. Das gab der grünen Soße die perfekte Konsistenz. Corinna langte bereits zu, bevor sich Eva gesetzt hatte.

      »Und wann ziehst du los auf Mördersuche?« Ihre Tochter sah sie erwartungsvoll an.

      Überrascht blickte Eva über den Tisch hinweg ihre Tochter an und setzte sich. Es stimmte. Sie hatte tatsächlich darüber nachgedacht. Wahrscheinlich Berufskrankheit. Ob sich das jemals verlor? So wie man irgendwann auch einen hartnäckigen Schnupfen los wird? Außerdem war ihr der Tote sozusagen vor die Füße gelegt worden. Das konnte man als Affront auffassen. Wenn man wollte. Sie wollte!

      Obendrein war es ein Toter aus der Finanzwelt. Und mit der Eurobest hatte ihre Wirtschaftsberatung hin und wieder auch zu tun gehabt. Sie konnte also behaupten, dass es im Interesse von Roger & Berger sein könnte, ein wenig eigenständig zu ermitteln und Risikoprävention zu betreiben. Wenn sie sonst schon bei Wirtschaftsunternehmen nach der Leiche im Keller fahndete, würde sie sich eben diesmal mit einer richtigen Leiche beschäftigen. Nur um sicher zu gehen, dass keiner ihrer Kunden bei Roger & Berger von dem Fall mittelbar tangiert würde. Natürlich war das eine Ausrede und sie wusste es. Ihr Chef Ralf Berger würde ihr Vorgehen aber aus genau diesem Grund befürworten. Er war auf sympathische Art durchtrieben genug, um zu wissen, dass es sich für Roger & Berger lohnen konnte, ein wenig an der Fassade zu kratzen. Ein wenig Dreck, den man später nutzen konnte, blieb dabei sicher hängen. Sie würde sich also nützlich machen. Sie war nicht bloß neugierig, so wie einer der Schaulustigen am Rande der Kleingartenanlage. »Tschuldigung«, hatte er unter seiner Schiebermütze gemurmelt. »Wissen Sie, wer da ermordet wurde? Ist da jetzt wieder ein Platz in der Anlage frei geworden?«

      Eva grinste, als sie sich an das Hyänengesicht erinnerte. Wenn das kein Motiv wäre: Mörder beseitigt Laubenpieper, um die lange Wartezeit auf eine Parzelle abzukürzen. Sie hatte schon Fälle auf dem Schreibtisch gehabt, die hatten weitaus dünnere Motive. »Ich fände das gut. Da kannst du diesem arroganten Kerner zeigen, was eine Harke ist «, sagte ihre Tochter in die Stille hinein.

      Es stimmte. Sie wollte diesen Fall nicht nur lösen, weil die Leiche ihren Vormittag durcheinander gebracht hatte. Vor allem wollte sie Kerner beweisen, dass sie diesen Job immer noch beherrschte. Auch ohne den ganzen Apparat der Polizeibehörde im Rücken. Und das nicht erst seit seinem hochnäsigen Auftritt heute morgen. Schon lange vor ihrem Abschied bei der Polizei