Nicole Wunram

#DieSichtderDinge


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muss sie ihre Mutter danach fragen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Sie trinkt etwas aus ihrem Wasserglas und legt sich wieder hin. Es ist mitten in der Nacht, da traut sie sich nicht, ihre Mutter zu wecken und zu fragen.

      Es dauert eine Weile, bis sie wieder einschläft. Sie wälzt sich mehrmals hin und her, irgendwann überkommt sie wieder der Schlaf. Nach einer Weile träumt sie weiter: Sie sieht, wie die Jacke mit dem Mäuschen und anderer Kleidung von ihr in einen Altkleidercontainer gelegt wird und nach dem Betätigen der Klappe in dem Inneren verschwindet. Sie will noch rufen: NEIN!!! Aber sie bekommt keinen Ton über die Lippen.

      Ist das Mäuschen nun für immer verschwunden? Als die Klappe verschlossen wird und die Jacke runterfällt, kann sich das Mäuschen nicht mehr halten. Der Reißverschluss der Jackentasche ist defekt und so purzelt das Mäuschen mitten in den Container. Es landet weich auf den vielen Sachen, die dort liegen, und muss sich erst einmal beruhigen.

      Schnell schlägt sein kleines Herz und es ist sehr aufgeregt. Hier ist es ganz dunkel und wo ist seine Leila? Es dauerte eine Weile, bis es sich beruhigt hat. Es sieht sich erst einmal um und versucht, so weit wie möglich nach oben zu klettern. So kann es, wenn die Klappe sich das nächste Mal öffnet, auf sich aufmerksam machen.

      Und dann geschieht es tatsächlich, es wird hell, die Klappe öffnet sich und das Mäuschen ruft ganz aufgeregt: »Hier bin ich, hol mich bitte raus und bring mich zu meiner Leila«, doch niemand hört es. Es fallen neue Kleidersäcke auf das Mäuschen und es ist wieder dunkel in dem Container.

      So verweilt das Mäuschen ein paar Tage in dem Container. Immerhin muss es dort nicht frieren. Es träumt gerade so vor sich hin, als es von einem lauten Geräusch geweckt wird. Ein LKW parkt genau neben dem Container. Es hört, wie sich ein Schlüssel im Schloss umdreht und eine Hand in den Container greift. Wieder nimmt das Mäuschen die Gelegenheit wahr und macht auf sich aufmerksam. Der Mensch, der den Container leert, sieht das Mäuschen aber nicht. Er nimmt einen Pulli nach dem anderen, eine Jacke und viele Hosen aus dem Container und verstaut sie in seinem LKW.

      Das Mäuschen kann sich nicht halten und fällt bis auf den Boden. Nachdem alle Klamotten entfernt worden sind, ruft es noch einmal ganz laut. In dem Moment wird es wieder dunkel. Nun ist das Mäuschen ganz alleine und es spürt eine große Traurigkeit. Wird es seine Leila jemals wiedersehen?

      Es will nichts unversucht lassen, zu groß ist die Sehnsucht nach ihrem Menschenkind und der Liebe, die sie ihm gibt. Auch wenn Leila jetzt älter wird und ein Kuscheltier nicht mehr so oft benötigt, gibt es immer wieder Zeiten, in denen Leila nach ihm sucht.

      Da jetzt viel Platz im Container ist, macht das Mäuschen sich auf die Suche nach einem anderen Ausgang. Ein kleiner Spalt weckt seine Aufmerksamkeit. Es betrachtet ihn genauer und bemerkt, dass an dieser Stelle eine Schraube fehlt und das Metall etwas locker ist. Mit ganz viel Kraft kann es vielleicht aus dem Spalt herauskommen und wieder zu Leila gelangen.

      Es nimmt all seinen Mut und seine Kraft zusammen und versucht, den Spalt zu vergrößern, indem es die Füße an die eine Seite und die Arme an die andere stemmt. Gaaanz groß macht es sich und denkt dabei ganz doll an Leila.

      Und dann bewegt sich der Spalt, nicht viel, aber genug. Wenn sie sich ganz dünn macht, passt sie vielleicht hindurch. Sie quetscht sich Millimeter für Millimeter in die Freiheit, mit den Füßen zuerst, da die Arme noch immer mit aller Kraft die Öffnung festhalten müssen.

      Fast geschafft, das Mäuschen freut sich und dann passiert es! Es rutscht mit den Armen ab und der Spalt geht wieder zu. Fast ist es draußen, im letzten Augenblick hält der Container das rechte Ohr des Mäuschens fest und es ist wieder gefangen. Nun ist es zwar an der Luft und nicht mehr in dem stickigen Container, weg kann es aber auch nicht. Vielleicht gelingt es ihm jetzt, auf sich aufmerksam zu machen. Immerhin kommen hier immer mal wieder Menschen vorbei.

      Leila wacht bei den ersten Sonnenstrahlen auf und ist gleich hellwach. Was ist das für ein fürchterlicher Traum! Das darf ihrem Mäuschen nicht passieren. Sie ist plötzlich ganz aufgeregt und läuft zu ihrer Mutter in die Küche.

      »MAMA!«, ruft sie schon aus dem Flur »Wo ist meine Jacke? Also die Übergangsjacke, die, die ich bei Oma anhatte. Da ist mein Mäuschen drin! Ich muss es befreien!«

      Ihre Mutter lächelt sie an und beruhigt sie. Die Jacke hat sie bereits mit all den anderen Sachen, die Rita nicht mehr passen, entsorgt. Aber das Mäuschen hat sie aus der Jackentasche genommen, und da es nicht mehr ganz so frisch roch, mit der nächsten Wäsche in die Waschmaschine getan. Nun trocknet es bereits in der Sonne. Leila ist überglücklich und nimmt das noch etwas nasse Mäuschen von der Fensterbank.

      Auf einer längeren Zugfahrt begegne ich einem Menschen, der bereits am frühen Morgen eine Flasche Korn trinkt. Ist er noch unterwegs oder schon wieder? Hat er Probleme oder war er auf einer Feier?

      »Der Ausstieg ist in Fahrtrichtung RECHTS!«, spricht er, noch bevor die Durchsage kommt, und ich nehme an, dass er öfter hier unterwegs ist. »Bitte alle einsteigen, der Zug fährt ab!« Vielleicht wollte er mal Zugführer werden?

      Er trinkt den nächsten Schluck aus der Flasche. Plötz-lich fängt er an zu singen, ein fröhliches Lied erklingt. Es scheint ihm gut zu gehen. An der nächsten Station ist die Flasche Korn alle und eine volle Flasche Wodka kommt zum Vorschein. Er trinkt und steckt sie mit den Worten »So, nun hast du keine Konkurrenz mehr!«, zurück in seine Jackentasche. Spricht er mit der Flasche? Ja, das tut er und als Nächstes schaut er in einen Spiegel und führt weitere Selbstgespräche. Er fragt sich etwas und antwortet darauf.

      Dabei wirkt er nicht unglücklich, sondern eher so, als freue er sich, jemanden wieder getroffen zu haben.

      Ist er nun einsam? Nein, das denke ich nicht. Eher zweisam mit sich vereint und zumindest für den Moment glücklich.

      An zwei Ösen werde ich mit Nägeln befestigt. Nun hänge ich hier und warte, was auf mich zukommt. Dann werde ich gepikst, oh, ich habe mich ganz schön erschrocken, es tut mir aber nicht weh.

      Und gleich noch einmal. Die Nadeln befestigen Papier an mir. Ich versuche, die Zettel zu lesen, auf dem einen steht etwas von Milch, Käse und Kaffee, wohl ein Einkaufszettel. Der andere lässt vermuten, dass ein Urlaub geplant wird, denn hier steht Isomatte, Schlafsack und Zelt drauf.

      Nun kommen weitere Zettel hinzu, ach ja, die Öffnungszeiten von einem Arzt. Dieser Zettel wird wohl länger an mir hängen. Der Einkaufszettel wird abgenommen. Auf den Urlaubsplaner werden weitere Dinge notiert: Kocher, Topf und Spiritus.

      Eine Visitenkarte wird festgepinnt. Und was ist das? Konzertkarten! Oh, erst im Sommer, die werden wohl auch eine Weile bleiben. So langsam wird es voll und die ersten Notizzettel überlappen sich. Die Nadeln haben einiges zu tun, um alles festzuhalten.

      Ich merke, wie ich langsam schwerer werde und die Nägel in meinen Ösen ein höheres Gewicht tragen müssen.

      Oh, nun werde ich ein wenig verschönert, ein selbst gemaltes Bild darf nun anstatt einiger kleiner Zettel bei mir wohnen. Ich freue mich!

      Im Laufe der Monate werden immer mal wieder Zettel abgenommen und neue befestigt. Dann kommt auch die Zeit, wo einige Nadeln nichts zu tun haben und einfach nur so in mir feststecken. Ich fange an zu zählen, komme auf zwanzig Nadeln und stelle fest, dass sie farblich unterschiedlich sind. Das konnte ich bei den vielen Zetteln gar nicht sehen.

      Ich bin froh, als Pinnwand hier zu hängen, so bekomme ich oft Besuch und diene als Informationstafel für viele wichtige Dinge.

      Ich bin ein außergewöhnlicher Kugelschreiber. Was mich so besonders macht? Ich kann in vier Farben schreiben: blau, schwarz, rot und grün. Durch das Herunterdrücken einer kleinen Nut wählst du die Farbe der Mine aus.

      Vier Farben in einem Stift haben viele Vorteile. Manchmal möchtest du vielleicht einen Text schreiben