Manfred Rehor

Der Brief der Königin


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      Im Mondlicht ging Benjamin über den dunklen Rummelplatz. Hier kannte er sich aus. Als Kind war er oft nachts aus dem Wohnwagen geschlichen, um sich draußen umzusehen. Es war dann so still und friedlich, ganz anders als tagsüber und abends, wenn Besucher über den Platz strömten. Nur die Gerüche hingen noch immer in der Luft: gebratene Wurst, Hustenbonbons, Pferdeäpfel. Er wüsste sogar mit geschlossenen Augen, wo er sich gerade befand.

      In einem Abfallkorb entdeckte er eine bauchige Flasche mit ausländischem Etikett. Vielleicht französisch, was bei Alkohol ja immer gut war. Er füllte den Schnaps in die bauchige Flasche um, ließ das Pulver aus dem Tütchen hinein rieseln und verkorkte die Flasche sorgfältig. Dann kehrte er ins Zelt zurück und versteckte sie.

      Die restliche Nacht verbrachte er unter Grabows Wohnwagen. Das tat er immer, wenn er sich dessen Zorn zugezogen hatte. Aus dem Stall, in dem die Zugpferde standen, holte er Stroh und breitete es unter dem Wagen aus. Er legte sich mit dem Bauch darauf, weil er es auf dem Rücken nicht aushielt, und hörte über sich Grabow randalieren. Als Grabow zu Schnarchen anfing, fand auch Benjamin ein wenig Schlaf.

      Am frühen Morgen, als es empfindlich kalt wurde, kletterte Benjamin in den Wohnwagen. Es sah wüst aus, wie gewöhnlich nach Grabows Wutanfällen. Grabow schnarchte fürchterlich laut. Der Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug, hing seitlich aus dem Hemdkragen. Er war wie ein Kreuz geformt. Das verlieh Grabow das Ansehen eines frommen Mannes – zumindest bei Menschen, die nicht wussten, was dieses Kreuz in Wirklichkeit war.

      Benjamin wagte es nicht, dem Schlafenden die Kette mit dem Schlüssel über den Kopf zu ziehen. Grabow war unberechenbar und konnte von einem Moment zum nächsten hellwach sein.

      Leise legte Benjamin sich in sein Bett und schlief noch ein paar Stunden, bis Grabow gegen Mittag stöhnend erwachte und krächzend nach etwas zu Trinken rief.

      Benjamin brachte ihm einen Krug mit Wasser und ein Glas Kräuterlikör. Es gehörte zu seinen Aufgaben, dafür zu sorgen, dass immer ein Vorrat dieses leuchtend grünen, zuckersüßen Getränks vorhanden war. Der Likör war das Einzige, was Grabow über den morgendlichen Kater hinweg half.

      Als Grabow sich schließlich nach einem zweiten Glas aus seinem Bett hochwuchtete, hatte er die Ereignisse des Vorabends vergessen. Auch das war nicht ungewöhnlich. „Räum auf!“, knurrte er Benjamin an, dann verließ er schwankend den Wagen, um sich bei einem der Nachbarn ein Frühstück zu schnorren.

      Benjamin machte sich ans Säubern des Wagens, wobei er auch die Eisenkassette unter dem Schreibtisch abwischte. Sie war etwas größer als ein Schuhkarton und aus dickem Blech gefertigt. Das Schloss war eine Schweizer Spezialanfertigung, das behauptete Grabow jedenfalls.

      Mit einem kräftigen Ruck hob Benjamin die Kassette einen Fingerbreit hoch. Mehr ließ die Eisenkette nicht zu, die als Schutz vor Dieben an beiden Seiten angeschweißt war. Diese Kette führte durch ein Loch im Boden nach unten und kam zwei Schritte weiter wieder hoch. Sie bildete also eine Schleife unter dem Wagenboden. Ein Dieb musste entweder die stabile Kette durchtrennen oder den Boden des Wagens mit einer Axt zerschlagen, wenn er die Kassette stehlen wollte. Grabow war selbst ein Gauner, deshalb wusste er, wie man sein Eigentum wirkungsvoll schützt.

      Nur wenige Male hatte Grabow die Kassette in Benjamins Gegenwart geöffnet. Sie enthielt Papiere und ein paar Gegenstände aus Grabows Vergangenheit. Manchmal legte Grabow auch wertvolle Hehlerware hinein, bis er einen Abnehmer dafür fand.

      Nachdem der Wohnwagen wieder bewohnbar war, ging Benjamin hinüber zum Zelt. Dort musste alles für die erste Vorstellung hergerichtet werden. Als er das Zelt durch den Hintereingang betreten wollte, hörte er Grabows Stimme. Benjamin duckte sich, um von niemandem beim Lauschen gesehen zu werden, und hörte zu.

      „Ich bin im Moment nicht flüssig“, sagte Grabow gerade. „Einen Teil des Schmucks kann ich nur in Kommission nehmen.“

      „Darauf können wir uns nicht einlassen“, antwortete eine Männerstimme. Es war der Diener vom Vortag, der gestohlene Ware loswerden wollte. „Auf Wiedersehen.“

      „Nicht so hastig! Wir können uns vielleicht einigen.“ Grabow wusste, wie man einen Fisch an der Angel zappeln ließ.

      Eine Frauenstimme sagte: „Georg, wir brauchen das Geld sofort. Wir müssen Hannover heute noch verlassen. Die Prinzessin ...“

      „Still, mein Herz. Wir werden jemand Anderen finden, der uns Geld dafür gibt.“

      Grabow schwieg einen Moment, bevor er sagte: „Ich werde das Geld besorgen, aber nur, weil ich so ein mitfühlender Mensch bin. Warten Sie! Ich bin in einer Minute wieder hier.“

      Benjamin wusste, wohin Grabow jetzt ging: zu Breitmann, dem Inhaber der Wurfbude, der zu horrenden Zinsen Geld verlieh.

      „Ist es richtig, was wir tun, Georg?“, fragte die Frau, als Grabow weg war.

      „Es ist unsere einzige Chance, Liebes. Ihre Hoheit hat eine solche Abneigung gegen dich gefasst, dass deines Verbleibens nicht länger gewesen wäre. Wir wären getrennt worden, Melanie, für immer.“

      „Ja, Georg.“

      „Dieser Mann will uns betrügen. Aber das ist egal. Er muss uns für den Schmuck genug Geld für zwei Fahrkarten nach Berlin zahlen. Meine Verwandten werden uns helfen, mit neuen Papieren nach Bayern zu gelangen. Dort übernehmen wir die Gaststätte, die du geerbt hast, und gründen eine Familie, wie andere Leute auch.“

      „Ja, Georg.“

      „Aber den Brief behalten wir. Den soll dieser Grobian nicht bekommen. Wir wollen der Prinzessin nicht mehr schaden, als unbedingt nötig ist. Wir sind ehrliche Menschen, auch wenn wir nun zum Äußersten gezwungen werden.“

      „Ja, Georg.“

      Benjamin fand den Schlitz im Zelt wieder, durch den er gestern gespäht hatte. Er beobachtete das Paar. Georg sah zum Eingang und wischte sich alle paar Sekunden den Schweiß von der Stirn. Melanie tippelte von einem Fuß auf den anderen.

      Grabow kam zurück und schwenkte ein paar Geldscheine in der Hand. „Mehr gibt‘s nicht. Gilt das Geschäft?“

      Benjamin sah die schnelle Bewegung, mit der sein Ziehvater beim Hereinkommen weitere Geldscheine in der Hosentasche verschwinden ließ. Als gewiefter Feilscher hatte er sich bei Breitmann eine größere Summe geben lassen, bot dem Dienerpaar aber zunächst nur einen Teil davon an. Sein Trick funktionierte:

      Georg atmete tief durch und richtete sich noch gerader auf, als er sowieso schon dastand. Er hielt auf der offenen Handfläche Grabow in paar Schmuckstücke entgegen, die der sich mit einer schnellen Bewegung schnappte.

      Benjamin kannte sich nicht aus mit solchen Sachen, aber bestimmt war diese Diebesbeute auf dem Schwarzmarkt ein Vielfaches der gezahlten Summe wert.

      Georg zählte die Geldscheine durch: „Moment, das ist weit weniger ...“

      „Das oder nichts!”, bellte Grabow.

      „Wir brauchen das Geld”, sagte Melanie unter Tränen.

      Georg verstand aber besser als sie, wie Grabow dachte. „Wir können unser Angebot in anderer Richtung erweitern“, sagte er. Er zog ein paar gefaltete Schriftstücke aus der Tasche, sah sie durch und überreichte Grabow mit einer eleganten Bewegung ein Blatt Papier.

      „Was soll dieses unleserliche Geschmier darstellen?“, blaffte Grabow.

      „Dies ist ein Brief ihrer Majestät, der Königin Viktoria von England. Von eigener Hand geschrieben auf Schloss Windsor, wie Sie am Wappen sehen können. Er ist an eine Verwandte ihrer Majestät hier in Hannover gerichtet. Für seine Echtheit kann ich bürgen. Ich war zufällig dabei, als er von der Empfängerin geöffnet wurde. Dieser Brief ist vorgestern aus London eingetroffen.“

      „Na, und?“

      „Stellen Sie sich das doch einmal vor: Noch vor drei, vier Tagen hielt die Königin in eigener Person dieses Blatt in Händen!“

      Nun verstand Grabow. Mit spitzen Fingern nahm er das Papier