Manfred Rehor

Der Brief der Königin


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      Nachdem das Bündel gepackt war, sah sich Benjamin um, ob er etwas vergessen hatte. Vielleicht kam er nie wieder zurück in diesen Wohnwagen! Das war ein aufregender Gedanke und traurig zugleich. Benjamin öffnete sein Bündel noch einmal und nahm das Holzpferdchen heraus. Er stellte es zurück aufs Regal. Hier würde es bleiben, als Erinnerung an all die Jahre, die er hier verbracht hatte. Wenn er in der Fremde war, konnte er sich vorstellen, wie es hier stand und auf Grabow herunter sah oder auf die Geräusche vom Rummel lauschte.

      Grabow kam erst nach Mitternacht zurück.

      „Weder den Schmuck noch den verdammten Brief will jemand haben. Obwohl, da haben schon einige die Ohren gespitzt, als ich gesagt habe, er ist von einer Königin. Aber Geld will keiner dafür geben. Verdammte Bande!“ Schwankend beugte er sich über die Stahlkassette, schloss sie auf und warf die Schmuckstücke und den Brief hinein.

      Benjamin beobachtete ihn unauffällig. Grabow war wütend und betrunken. Das war gut, denn so war er leichter zu übertölpeln. Als Grabow die Kassette abschloss und sich umdrehte, tat Benjamin, als versuche er, eine Flasche vor ihm zu verstecken.

      „Was hast du da?“, fuhr Grabow ihn an.

      Scheinbar zögernd zeigte Benjamin die bauchige Flasche vor. „Die hat ein Besucher nach der letzten Vorstellung unter seinem Stuhl stehenlassen“, behauptete er.

      Grabow riss sie ihm aus der Hand. „Das ist nichts für dich. So weit kommt es noch, dass du anfängst, zu saufen.“

      Er nahm einen ordentlichen Schluck, hustete und schüttelte sich. „Donnerwetter, der hat es in sich. Da kannst du mal sehen, das muss französischer Cognac sein. Der hat so einen Nachgeschmack. Ganz edel.“

      Benjamin wartete mit angehaltenem Atem, ob die Mischung eine Wirkung zeigte.

      „Was glotzt du so?“ Grabow setzte die Flasche noch einmal an, prustete dann aber die Flüssigkeit aus dem Mund heraus gegen die Holzwand des Wohnwagens. „Pfui, Teufel! Da ist etwas drin. Ein Pulver. Bitter.“

      Er hielt die Flasche gegen das Licht der Petroleumlampe. „Ein Bodensatz. Wenn es alter Wein wäre ...“ Er unterbrach sich und starrte Benjamin an. „Moment mal. Du hast doch nicht vor, mich zu vergiften, oder? Antworte, verdammter Affe!“

      Benjamin stand das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben, er fühlte es. Er druckste herum: „Der Schnaps ist nicht vergiftet. Vielleicht ist im Zelt ein wenig Sand hineingeraten.“

      „Wo ist meine Peitsche? Sag, was du da hineingemischt hast. Sonst werde ich die Antwort aus dir heraus prügeln. Halt!“ Grabow hielt inne und fing an zu grinsen. Er streckte Benjamin die Flasche entgegen. „Warum trinkst du diese Plörre nicht selbst aus? Dann werden wir ja sehen, ob es nur Sand ist. Los, trink!“

      Benjamin nahm die Flasche. Trinken kam nicht in Frage. Sollte er sie ausschütten und versuchen, die Tür zu erreichen?

      Grabow entdeckte seine Peitsche auf dem Boden unter seiner Jacke, die er dort einfach hingeworfen hatte. Er bückte sich, um sie aufzuheben.

      Angst und Wut kochten in Benjamin hoch, als er die Waffe sah. Mit aller Kraft schlug er mit der Flasche auf Grabows Hinterkopf. Da Grabow nur zuckte und nicht zusammenbrach, schlug er noch ein zweites Mal zu. So hart, dass die Flasche zerbrach.

      Grabow bäumte sich auf, riss ein Regal herunter, dann sackte er auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Blut rann aus der Platzwunde auf seinem kahlen Schädel.

      Schnell kniete sich Benjamin neben ihn und drehte ihn herum. Grabow war nicht tot, er atmete schwach. Er lag zwischen einigen Gegenständen, die er mit dem Regal heruntergerissen hatte. Darunter war Benjamins Holzpferd, das zerbrochen war.

      Benjamin traute der Stille nicht. Er stieß seinen Ziehvater in die Seite, bereit, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen, falls der sich nur verstellte. Aber Grabow rührte sich nicht. Benjamin zog ihm vorsichtig die Kette mit dem Schlüssel über den Kopf.

      Immer Grabow im Blick behaltend, öffnete Benjamin die Kassette. Briefe und Bankbelege lagen darin, dazwischen die Schmuckstücke, die von den beiden Dienstboten stammten. Außerdem das überzählige Geld, das Grabow sich von Breitmann geliehen und noch nicht zurückgegeben hatte. Den Schmuck ließ Benjamin liegen, aber er nahm das Geld. Als Bezahlung für die Arbeit der letzten Jahre, beruhigte er sein Gewissen.

      Die Bankbelege wiesen eine erhebliche Summe aus, die halbjährlich an Grabow ausgezahlt wurde. Jetzt wusste Benjamin, woher sein Ziehvater das Geld hatte, das er so freigiebig verspielte und vertrank. Die Briefe überflog er nur. Sie sagten ihm nichts, bis auf einen. Er war von 1878 und kurz. Ein Absatz war angestrichen: „Bringen Sie den Jungen in ein Internat, am besten in der Schweiz. Die Kosten werde ich übernehmen.“ Daneben stand in Grabows krakeliger Schrift: „Quatsch!“

      Dieser Brief war in leserlicher, schwungvoller Schrift mit „Wilhelm Riehmann“ unterzeichnet. Oben rechts stand als Absender: „Villa Riehmann, Berlin-Steglitz“.

      Wilhelm Riehmann. Benjamin hatte den Namen noch nie gehört. War das sein angeblich toter Vater? Sehr wahrscheinlich, warum sollte dieser Mann sonst für angebliche Internatskosten aufkommen. Oder ging es gar nicht um ihn? Benjamin zweifelte, aber ein Blick auf Grabow genügte. Für Zweifel hatte er jetzt keine Zeit. Er musste handeln, bevor sein Ziehvater wieder zu sich kam.

      Er steckte die Papiere ein und nahm noch ein paar der Bankbelege als Beweis für die Zahlungen mit. Dann schloss er die Kassette ab und hängte die Kette mit dem Schlüssel Grabow wieder um den Hals. Grabow würde ihm das nie verzeihen; weder den Schlag mit der Flasche, noch das Öffnen der Kassette. Ab jetzt gab es für Benjamin kein Zurück mehr.

      Er nahm sein Bündel und verließ den Wohnwagen. Es war zwei Uhr morgens, als er sich von dem Gelände des Jahrmarkts schlich. In einer so verschlafenen Stadt wie Hannover war zu dieser Zeit niemand unterwegs. Trotzdem versicherte sich Benjamin zunächst, dass alles ruhig war. Dann erst schlüpfte er durch ein Loch im Zaun hinaus auf den Gehweg. Er war frei von Grabow, frei von den Zwängen des Rummels!

      Aber nur für einen Augenblick.

      Benjamin fühlte sich von kräftigen Händen gepackt, herumgewirbelt und zu Boden geworfen. Jemand kniete sich auf ihn und hielt ihm den Mund zu. Er war nicht in der Lage, sich zu wehren, so überraschend war der Angriff erfolgt.

      „Wer bist du, was machst du hier mitten in der Nacht?“, zischte eine Männerstimme mit starkem Akzent in sein Ohr. Es klang nicht aggressiv, eher amüsiert.

      Benjamins panische Angst legte sich: Das war nicht Grabow! Er brummte durch die Hand vor seinem Mund, die daraufhin weggenommen wurde. „Ich heiße Benjamin“, sagte er, nachdem er tief Luft geholt hatte. „Benjamin Riehmann.“ Das kam ganz selbstverständlich über seine Lippen.

      Der Mann hob ihn hoch wie eine Puppe und stellte ihn auf die Beine. Sein Blick fiel auf das Bündel, das Benjamin bei sich trug. „Du willst abhauen, wie?“

      „Ja. Ich habe genug vom Rummel.“

      „Gut, gut. Alle Jungs hauen irgendwann mal ab. Die meisten kehren bald wieder nach Hause zurück. Nur die Starken suchen sich ihren eigenen Weg durch die Welt. Die Starken und die Dummen. Du musst vorsichtiger sein. Die Nacht ist gefährlich.“

      „Jetzt weiß ich es“, sagte Benjamin. Im trüben Mondlicht sah er nun das Gesicht seines Gegenübers: Es war der Türke, der vor zwei Tagen die Kindervorstellung gestört hatte! Der Mann trug heute elegante, europäische Kleidung, aber der große Schnurrbart war unverkennbar. Zwar war der Türke kleiner als Benjamin und schmal gebaut. Aber Benjamin hatte auf dem Rummel gelernt, den Äußerlichkeiten weniger zu trauen als den Tatsachen. Er stand hier einem erfahrenen Ringer gegenüber, gegen den er chancenlos war.

      „Du kennst dich also auf dem Rummel aus“, fuhr der Mann fort. „Sehr gut. Wir machen ein Geschäft: Du erzählst mir etwas über einen Budenbesitzer mit Namen Grabow und ich lasse dich laufen.“

      „Grabow?“ Benjamins Gedanken rasten. Wer mitten in der Nacht etwas von seinem Ziehvater wollte, war entweder ein Gläubiger oder noch