Der ließ sein Bündel fallen und machte sich bereit. Er kannte solche Situationen und fürchtete sich nicht vor Straßenjungs. Dank seiner anstrengenden Arbeit bei Grabow war er kräftiger als sie. Trotzdem versuchte er, den Streit friedlich zu schlichten. „Lasst mich in Ruhe und Muck auch. Wie ich ihn kenne, hat er keinen Pfennig in der Tasche.“
„Aber du.“
„Ich habe nichts damit zu tun.“
Zwei der Jungs sprangen auf Benjamin zu und hielten ihn links und rechts an den Armen fest. Hans bückte sich nach Benjamins Bündel. „Mal sehen, ob du Geld dabei hast.“
Benjamin versuchte sich loszumachen, schaffte es aber nicht.
Da kam Hilfe von unvermuteter Seite: Etwas raschelte in den Ästen des Baumes und ein kleiner Mensch fiel herunter, genau auf den Rücken von Hans. Wie ein Reiter klammerte sich Muck fest und riss Hans an den Haaren. Die beiden Jungs ließen Benjamin los, um ihrem Freund zu helfen. Das nutzte Benjamin, um sie mit einem kräftigen Schwung zu Boden zu werfen. Hans wälzte sich schreiend unter dem Zwerg, während Benjamin sich mit den anderen beiden herumschlug. Es stellte sich schnell heraus, dass es die Gassenjungs nicht mit zweien vom Rummel aufnehmen konnten.
Hans ergriff die Flucht, als Muck von ihm ab ließ, und seine Freunde folgten ihm. Benjamin ließ sie laufen.
„Wir kommen wieder“, schrie Hans aus sicherer Entfernung.
Muck schüttelte die Faust in seine Richtung: „Ja, gerne. Wir haben eh nichts Besseres vor, als uns mit euch zu prügeln.“
„Ärgere sie nicht noch mehr“, riet Benjamin. „Wenn sie Verstärkung mitbringen, verlieren wir.“
„Ach, was. Mit denen streite ich mich seit drei Monaten. So lange sitzen wir hier schon fest. Erst war Jedah krank, dann kam der Frühlingsmarkt, da liefen die Geschäfte ganz gut. Aber anschließend hat uns ein Gauner um unsere gesamten Einnahmen gebracht. Er kam als Prediger und hat versprochen, sich um die verlorenen Seelen der Schaustellerkinder zu kümmern. Du kennst ja solche Typen. Sind meist ganz nett, auch wenn sie einem schnell auf die Nerven gehen. Aber diesmal war es ein Trickbetrüger. Pech gehabt.“
„Und wie geht es Jedah? Ist sie wieder gesund?“
„Sie ist dick geworden und sieht aus wie eine Kanonenkugel auf Beinen, aber sonst geht es ihr gut. Und das mit dem Gewicht wird sich auch bald geben. Wir haben nämlich kein Geld mehr, um uns etwas zu Essen zu kaufen. An den Wochenenden mache ich in der Innenstadt auf Plätzen ein wenig Klamauk. Damit verdiene ich aber nur ein paar Groschen. Komm herein.“
Sie stiegen in den Wagen, der leicht schief stand, weil eines der Räder angebrochen war. Ein paar Ziegelsteine stützten die Achse. Drinnen dauerte es einen Moment, bis sich Benjamins Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Die Einrichtung war noch so, wie er sie in Erinnerung hatte: Vorne war ein Bereich, in dem auch normalgroße Menschen sich aufhalten konnten; hinten war der Wagen in zwei Etagen aufgeteilt, die hoch genug für die Stolbergs waren. Dort befand sich unten ein gutbürgerliches Wohnzimmer mit viel Plüsch und gestickten Deckchen und Schonbezügen. Oben, hinter Vorhängen, waren zwei Schlafkammern verborgen.
In einem speziell für ihre Größe angepassten Sessel saß eine kleine, dicke Frau und strickte. „Benjamin, komm her!“, rief sie und winkte ihn zu sich. „Willkommen! Ist Grabow auch hier?“
„Nein. Der ist in Hannover geblieben.“ Benjamin setzte vor Jedah auf den Boden.
Jedah war nur halb so hoch wie normal gewachsene Menschen, aber ihre natürliche Autorität ließ ihre geringe Größe schnell vergessen. Sie musterte Benjamin aufmerksam und legte ihr Strickzeug beiseite.
„Was ist passiert, Junge?“
Jedah zu berichten, wie er Grabow niedergeschlagen und verlassen hatte, war für Benjamin wie eine Beichte. Erleichtert sah er, dass sie das alles gar nicht so schlimm fand. Anschließend nahm er die Papiere aus seinem Bündel, die belegten, dass ein Herr Riehmann aus Berlin Unterhalt für ihn an Grabow bezahlte.
„Grabow ist ein Gauner, das war mir immer klar“, sagte Jedah entrüstet. „Aber dich jahrelang so zu betrügen, das erfordert einen ganz miesen Charakter.“
„Ich frage mich, wer dieser Türke ist, der dich abgefangen hat“, warf Muck ein.
„Den wird die Prinzessin damit beauftragt haben, den Schmuck wieder zu beschaffen.“
„In England gibt es Leute, die betreiben das als Profession.“ Jedah kannte sich aus in der Welt und ließ das gerne durchblicken. „Es hat sich ein ganzes Gewerbe daraus entwickelt. Falls das so einer ist, wird der Mann nicht locker lassen. Weiß jemand, dass du zu uns wolltest?“
„Nein. Ich habe ein altes Plakat vom Frühlingsfest gesehen. Deshalb bin ich hierher gekommen.“
„Du hast nicht zufällig noch etwas Geld übrig nach der Reise?“ Jedah errötete und fügte hinzu: „Ich frage ungern, aber du weißt ja, wie das ist, wenn es kaum noch für einen Kanten Brot reicht.“
Benjamin zog das Geld heraus, das er Grabow gestohlen hatte, und gab den größten Teil davon Jedah. Es würde reichen, um die beiden Stolbergs eine Weile zu ernähren. „Schenke ich euch. Kann ich hier bleiben, bis ich meinen Vater gefunden habe?“
Muck schnappte die Scheine mit einer schnellen Bewegung aus der Hand seiner Mutter. „Klar, du könntest auch bleiben, ohne zu bezahlen. Aber dann hätten wir einen mehr, der nichts zu essen hat, und das wäre gar nicht lustig. Ich gehe einkaufen, kommst du mit?“
„Er bleibt hier“, antwortete Jedah an Benjamins Stelle. „Je weniger Leute ihn auf der Straße sehen, desto besser. Zumindest, bis wir wissen, woran wir sind.“
„Gut, gehe ich eben alleine.“
Benjamin begann, nach Jedahs Anweisungen ein paar Möbel zu verschieben, so dass auf dem Boden Platz genug für einen Menschen seiner Länge frei wurde. Dort konnte er später ein paar Decken ausbreiten, um darauf zu schlafen.
Benjamin war zufrieden: Sein erster Schritt in ein freies Leben war gelungen. Jetzt ging es für ihn darum, seinen Vater zu finden. Herrn Riehmann in Steglitz.
Jedah wackelte bedenklich mit dem Kopf. „Grabow wird auf das Geld von diesem Riehmann nicht einfach verzichten.“
„Ich muss Riehmann finden, bevor Grabow hier auftaucht“, stimmte Benjamin zu. Er wusste nur noch nicht, wie.
Grabow bekommt Ärger
Als Friedrich Grabow zu sich kam, beugte sich ein Mann über ihn. Grabow fühlte sich wie geprügelt, er sah ein fremdes Gesicht vor sich, also schlug er zu.
Der Mann hatte Glück. Grabows Bewegungen waren schwach und unkoordiniert. Der Schlag traf das Kinn des Mannes nur mit geringer Wucht. Es war mehr die Überraschung, als der Schmerz, die ihn zurücktaumeln und laut aufschreien ließ: „Ja, sind Sie denn verrückt!“
Grabow versuchte, sich aufzurappeln und seinen vermeintlichen Gegner frontal anzugehen. Breitmann schob sich dazwischen und drückte ihn wieder auf das Bett zurück. „Ruhig bleiben, Friedrich, das ist der Herr Doktor! Kein Grund, dich aufzuregen.“
Hinter Breitmanns Rücken fühlte sich der Arzt sicher. Er schimpfte drauf los: „Das ist mir in meinem ganzen Berufsleben noch nicht vorgekommen. Die Polizei werde ich verständigen! Auch wenn man auf dem Jahrmarkt andere Sitten haben mag als unter zivilisierten Menschen: Es geht nicht an, einen Arzt bei der Ausübung seines Berufes zu schlagen.“
Breitmann zog ein paar Geldscheine aus der Tasche und hielt sie dem erbosten Arzt hin: „Hier, als Honorar und Schmerzensgeld. Er bittet tausend Mal um Entschuldigung.“
„Davon habe ich nichts gehört!“, ereiferte sich der Arzt. Aber das Geld steckte er ein.
„So ist er nun einmal. Hat lange in Afrika gelebt, bei den Zulus und Kaffern. Da lernt man, wehrhaft zu sein, mitten in den Urwäldern. Besuchen Sie mal seine Vorstellung, Sie