Manfred Rehor

Der Brief der Königin


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ließ ihn seinen Zustand vergessen. Er sprang auf – jedenfalls wollte er es. Ohnmächtig brach er zusammen.

      Der Zug aus Hannover erreichte pünktlich den Lehrter Bahnhof in Berlin. Benjamin stieg aus und sah sich um. Die Bahnhofshalle wölbte sich wie ein schwarzer Himmel über ihm. Tauben flatterten verschreckt durch den Qualm, der zwischen den Eisenträgern nach oben zog. Die Lokomotive mit den Wagen wirkte in dieser riesigen Konstruktion wie ein Spielzeug.

      Unzählige Menschen schoben sich durch den Bahnhof hinaus auf den Vorplatz. Benjamin ließ sich mit der Menge treiben und gelangte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Er war schon in Berlin gewesen, kannte aber nur einige Rummelplätze in der Stadt. Deshalb blieb er stehen und sah sich um. Zwar war die Fassade des Bahnhofsgebäudes nicht ganz so beeindruckend wie die in Hannover, aber dafür zeigte ihm die Umgebung, dass er sich in einer Großstadt befand. Droschken warteten in einer langen Reihe auf Fahrgäste. Unten im Kanal neben der Straße lagen Lastkähne am Ufer vertäut. Ihre Ladung wurde auf Pferdefuhrwerke verteilt, die dann langsam den Uferweg hinauf rollten.

      Benjamin folgte der Straße Richtung Innenstadt. Wo der Kanal in die Spree mündete, überquerte er auf einer imposanten Brücke den Fluss. Neben ihm fuhren Pferdestraßenbahnen und Kutschen jeder Größe. Er sah ihnen zu, bis ein blau uniformierter Wachtmeister mit Pickelhaube auf ihn aufmerksam wurde.

      Schnell sprang Benjamin auf die nächste Straßenbahn und entrichtete beim Schaffner die paar Pfennige, die eine Fahrt kostete. Trotz des Nieselregens blieb er auf der hinteren Plattform stehen und bestaunte die Umgebung.

      In der breiten Prachtstraße „Unter den Linden“ sprang er von der langsam dahin zuckelnden Pferdetram ab und wanderte durch das Zentrum der Hauptstadt. Der Lärm und das Gedränge, die hier herrschten, machten ihm nichts aus; beides war er vom Rummel gewöhnt. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war er ganz allein auf sich gestellt. Einsamkeit überlief ihn wie ein Schauer und ließ ihn für einen Moment ratlos stehenbleiben. Er musste sich zwingen, weiterzugehen, obwohl er kein Ziel hatte.

      Wohlstand leuchtete aus allen Ecken, zumindest in denjenigen Straßen Berlins, durch die Benjamin mit seinem Bündel zunächst wanderte. Juwelierläden und teure Restaurants wechselten sich ab mit Hotels und vornehmen Herren-und Damenschneidern.

      Er kam an einer Plakatsäule vorbei und sah sich die Angebote an. Zwischen der Werbung verschiedener Kaufhäuser und Anpreisungen einer Patent-Bartwichse prangte auch die Einladung zu einem Frühlingsfest. Sie versprach nie gesehene Wunder und sensationelle Darbietungen, darunter auch die folgende: „Ein artistischer Zwerg aus den Höhlen Norwegens präsentiert sein einmaliges Können dem hochverehrten Publikum.“ Fast hätte Benjamin Jubelschreie ausgestoßen. Das konnte nur Muck Stolberg sein! Diesen kleinwüchsigen Artisten kannte er gut. Das Datum auf dem Plakat zeigte, dass die Vorstellungen am vorhergehenden Wochenende geendet hatten, aber vielleicht war Muck noch dort. Benjamin wusste, dass sich im Sommer in Berlin Geld verdienen ließ durch Auftritte bei Vereinsfesten oder in Gartenlokalen. Deshalb blieben manche Schausteller mehrere Monate in der Stadt.

      Benjamin ging weiter. Er wurde von Erwachsenen beiseite geschubst, wenn er im Weg war, oder böse angestarrt. Er dachte erst, es sei wegen seiner Hautfarbe. Aber es war nicht nur sie. Seine Kleidung stempelte ihn offenbar als Tagelöhner oder Bettler ab, der in dieser vornehmen Gegend nichts zu suchen hatte. Benjamin sah an sich herunter: Er trug eine einfache braune Hose und eine alte Leinenjacke über dem nicht sehr sauberen Hemd. Für einen Rummelplatz in der Provinz genügte das. Hier nicht.

      Er fragte eine Dame nach dem Weg zu dem Jahrmarkt. Sie keifte: „Verschwinde oder ich rufe die Polizei! Verdammtes Gesindel, das einen ständig belästigt.“

      Also machte Benjamin, dass er weiterkam. Auch andere Passanten schimpften, als er sie ansprach, oder gingen mit überheblichem Gesichtsausdruck einfach weiter.

      Ein unrasierter junger Mann spazierte als lebende Werbefläche über den Gehsteig, mit einem Pappschild vor der Brust, auf dem für ein neueröffnetes Café geworben wurde. Er war freundlicher und beschrieb den Weg.

      Zwei Stunden brauchte Benjamin, bis er den Ort des Jahrmarktes erreichte. Fachmännisch musterte er aus einigem Abstand dessen Umgebung. Das Gelände befand sich in einer einfachen, aber sauberen Wohngegend. Die Menschen hier gehörten zwar zur Arbeiterklasse, aber sie verfügten vermutlich über ausreichend Geld, um sich hin und wieder ein Vergnügen zu gönnen. Eine gute Gegend für einen Rummelplatz. Der Platz selbst war dagegen eine Enttäuschung: Ein großes, freies Grundstück, umgeben von den unverputzten Brandmauern der Wohnblöcke. Der Platz war nicht mehr als eine Lehmfläche mit braunen Wasserlachen.

      In der hintersten Ecke stand ein einzelner, bunt bemalter Wohnwagen, der höher gebaut war als sonst üblich. Benjamin kannte den Wagen, er gehörte Frau Stolberg und ihrem Sohn. Er freute sich darauf, Muck und dessen Mutter wiederzusehen.

      Weiter unten in der Straße, wo an beiden Seiten einer Kurve ein wenig Grün wuchs, tobten drei Jugendliche in Benjamins Alter herum. Sie schrien und schimpften über jemanden. Benjamin hielt Abstand zu ihnen. Es war ungewiss, wie sie auf einen dunkelhäutigen Altersgenossen reagieren würden, der nicht aus ihrem Kiez stammte. Doch dann hörte er eine Stimme, die er kannte: hell, quengelnd und so selbstbewusst, dass es gar nicht echt sein konnte.

      „Ihr nichtsnutzigen Armleuchter, geht heim zu euren Mamas“, rief diese Stimme. „Da könnt ihr euch ausweinen.“

      Benjamin ging langsam auf die Jugendlichen zu. Sie standen zwischen ein paar Büschen unter einem Baum und suchten etwas. Einer von ihnen hielt einen kräftigen Stock in der Hand.

      „Verschwindet jetzt oder ich haue euch in Stücke“, drohte die helle Stimme. Sie kam aus den Büschen – oder doch von oben aus der Baumkrone?

      Der Junge mit dem Stock schlug auf einen Busch ein, dass die Blätter und Äste nach allen Seiten davon flogen.

      Benjamin ahnte, dass es Ärger geben würde, aber er wollte Muck nicht im Stich lassen. „Was macht ihr da?“, fragte er.

      „Was geht dich das an?“, wollte der Junge mit dem Stock wissen. „Und wer bist du überhaupt?“

      „Ich heiße Benjamin und bin neu in der Stadt.“

      „Ich bin Hans. Halt dich raus. Wie siehst du eigentlich aus? Bist du geschminkt oder was?“

      „Meine Mutter stammt aus Italien, da haben alle so eine dunkle Haut“, log Benjamin. Rosalinde hatte vielleicht nicht Unrecht mit ihrem Vorschlag, sich als Südeuropäer auszugeben.

      „Ich kenne ein paar Italiener. Sie haben am Kanal gearbeitet. Die waren nicht so dunkel wie du.“

      „Ganz im Süden sind die Leute so wie ich, wegen der vielen Sonne.“

      Ein gackerndes Lachen kam aus dem Busch. „Süditalien, ha! Südwest-Afrika dürfte es besser treffen. Seht euch doch nur mal sein krauses Haar an, und die breite Nase. Läuft so ein anständiger Mensch herum?“

      „Halt die Klappe, Muck“, sagte Benjamin zu dem Busch. „Sonst erzähle ich etwas über die Zwerge aus den Höhlen Norwegens.“

      Hans stellte sich breit vor Benjamin auf: „Du kennst diesen Giftzwerg? Der hat uns Geld geklaut. Wenn du mit ihm befreundet bist, kannst du es uns ja zurückgeben.“

      „Geklaut?“, rief Muck aus dem Busch. „Schadensersatz für die Kosten der Wäscherin war das, nachdem ihr mich mit Dreck beworfen habt.“

      „Weil du hinter meiner Schwester hergegangen bist und dabei unanständige Lieder gesungen hast.“

      „Alles längst verjährt!“

      „Dann trau dich und komm raus.“ Hans schlug wieder mit dem Stock auf den Busch, erntete aber nur ein hämisches Lachen.

      „Nichts da. Verschwindet und lasst mich in Ruhe.“

      Hans wandte sich an Benjamin. „Du siehst wirklich aus wie einer, der aus Afrika ist. Obwohl du eher dunkel bist als schwarz. Ich wette, der Zwerg kennt dich vom Rummel. Also: Wirst du seine Schulden bezahlen?“

      Ein anderer