Unsereinen sind sie gewohnt. Nur noch kleine Kinder jubeln, wenn sie einen Zwerg sehen. Es reicht nicht mehr, uns hinzustellen und ein paar komische Bewegungen zu machen. Wir müssen wieder Artisten werden.“
„Hör auf zu träumen“, fuhr Jedah dazwischen. „Iss jetzt. Und dann kümmern wir uns um Benjamins Problem, das liegt näher.“
„Ich muss herausfinden, ob dieser Wilhelm Riehmann mein Vater ist“, sagte Benjamin.
„Riehmann ist kein seltener Name“, gab Muck zu bedenken. „Und die Anschrift ‚Berlin-Steglitz‘ gibt nicht viel her. Warum gehen wir nicht einfach zum reichsten Riehmann in Berlin? Schließlich muss man Geld haben, wenn man jahrelang Unterhalt zahlt.“
„Und wie willst du den finden? Eine Bank fragen?“, wollte Jedah wissen.
„Wir fragen jemanden, der alles weiß.“
„Wer soll das sein?“, fragte Benjamin.
„Ein Reporter. Er war hier, als der Jahrmarkt eröffnet wurde. Schmitt heißt er.“ Muck sprang auf. „Wir gehen sofort zu ihm.“
Jedah zog ihn wieder auf den Stuhl. „Es ist bereits dunkel.“
„Zeitungsredaktionen arbeiten auch nachts, damit morgens die neue Zeitung gedruckt werden kann. Schmitt ist bestimmt noch dort. Benjamin, komm mit!“
Muck war über seinen Einfall ganz aufgeregt und rannte auf seinen kurzen Beinen vorneweg. Er war es auch, der einem vorbeifahrenden Pferdeomnibus nachrief. Behäbig trotteten zwei kräftige Gäule vor der länglichen Kutsche, in der mehr als ein Dutzend Menschen Platz fanden. Der Kutscher hielt an und ließ die beiden aufsteigen.
„Schade, dass hier keine Pferdestraßenbahn fährt“, sagte Muck. „Auf Schienen kommt man viel schneller voran.“
„Wir hätten auch zu Fuß gehen können“, meinte Benjamin. „Schneller als ein Fußgänger ist der Pferdeomnibus auch nicht.“
„Auf langen Strecken kann ich dein Tempo nicht mithalten“, erinnerte ihn Muck.
„Weißt du überhaupt, wo die Zeitung ihre Büros hat?“
„Potsdamer Straße. Dieser Schmitt hat mir damals die Adresse genannt, falls es besondere Vorfälle auf dem Jahrmarkt gibt. Er hat eine Belohnung versprochen, wenn ich ihm Neuigkeiten exklusiv melde.“
„Kann man ihm vertrauen?“
Muck schüttelte sich vor Lachen. „Vertrauen? Er ist Reporter! Wir werden ihm eine tolle Geschichte versprechen müssen, damit morgen nicht in der Zeitung steht, dass ein afrikanischer Mischling in der Stadt ist und sich nach reichen Riehmanns erkundigt.“
„Dann sollte wir besser nicht ...“, begann Benjamin erschrocken.
„Zu spät, wir sind da. Spring runter.“
Sie gingen durch die Potsdamer Straße bis zu dem eindrucksvollen Gebäude der Zeitung. Überall brannte noch Licht hinter den Fenstern. Der Portier zog die Augenbrauen hoch und musterte misstrauisch die zwei merkwürdigen jungen Leute, die vor ihm standen. Als Muck aber nach Herrn Schmitt fragte, ließ er sie eintreten.
Ein magerer Botenjunge in Benjamins Alter führte sie zu Schmitts Büro und hieß sie davor auf den wackeligen Holzstühlen Platz nehmen. Das ganze Haus war von einem Stimmengewirr erfüllt, das Benjamin an den Rummel erinnerte. Männer gingen eilig mit Papieren in der Hand hin und her, ohne die beiden Wartenden zu beachten.
Schließlich öffnete sich die Bürotür und ein fülliger Mann mit einem freundlichen, runden Gesicht trat heraus. „Ah, die Herren vom Jahrmarkt, willkommen. Herein getreten, Platz genommen, bitte.“
Benjamin und Muck betraten einen kleinen Büroraum, der nur schummrig erleuchtet war. Es roch muffig nach alten Akten. Die offenen Schränke entlang den Wänden quollen über von Bündeln vergilbter Zeitungen und von aufgestapelten Büchern. Der Schreibtisch dagegen war leer geräumt bis auf die notwendigsten Gegenstände: Papier, Federhalter, Tintenfass, Löschblatt.
„Was habt ihr zu berichten?“, wollte Herr Schmitt wissen, nachdem sie sich gesetzt hatten.
Benjamin fühlte sich nicht wohl unter seinem stechenden Blick. Er musste sich erst räuspern, bevor er herausbrachte: „Wir wollten eigentlich nur etwas fragen.“
Schmitt zog die Augenbrauen hoch und lehnte sich zurück. „Ich bin keine Auskunftei.“
Bevor Benjamin etwas erwidern konnte, behauptete Muck großsprecherisch: „Selbstverständlich steht unsere Frage in Zusammenhang mit einer sehr interessanten Geschichte. Daraus können Sie einen tollen Artikel machen.“
„Erzähl mir die Geschichte!“ Schmitt nahm den Federhalter, tunkte ihn ein und machte sich bereit, mitzuschreiben.
„Es ist aber so, dass wir zunächst die Auskunft benötigen. Die Geschichte ergibt sich sozusagen daraus. Wir werden Sie in den nächsten Tagen noch einmal aufsuchen und alles erzählen.“
Benjamin bewunderte Muck dafür, wie glatt der lügen konnte.
Schmitt musterte die Beiden, während er die Feder behutsam in die Federschale zurücklegte. „Nun gut, ich werde in Vorleistung treten. Heraus mit der Frage.“
„Wir suchen einen Herrn Wilhelm Riehmann. Vermutlich ist er ein wohlhabender Mann und lebt in Steglitz.“
„Das ist alles? Obwohl, ihr seid merkwürdige Leute, wenn ihr solche Fragen habt. Ich erinnere mich an dich, deiner geringen Körpergröße wegen. Aber dem jungen Mann hier glaube ich bisher noch nie begegnet zu sein.“
„Muck Stolberg ist mein Name. Und das ist mein Freund Ben Grabow.“
Benjamin mochte die Kurzform seines Namens nicht, aber jetzt war nicht der Moment, Muck wieder einmal darauf hinzuweisen.
„Stolberg und Grabow.“ Schmitt schrieb sich die Namen auf. „Eure Frage ist einfach zu beantworten. Wilhelm Riehmann ist ein bekannter Industrieller, der eine Villa in Steglitz besitzt.“
„Haben Sie die genaue Anschrift?“
Schmitt suchte sie aus einem Adressbuch heraus und schrieb sie auf einen Zettel, den er Muck gab.
Benjamin griff Muck an der Hand und zog ihn zur Tür. „Vielen Dank, wir werden uns bald wieder bei Ihnen melden.“
„Nicht so eilig!“, rief Schmitt. „Habt ihr nicht wenigstens eine kleine Information für mich? Es ist zurzeit nicht viel los in Berlin. In anderen Städten geschehen wenigstens spektakuläre Verbrechen, über die man schreiben kann. Eben kam zum Beispiel eine Meldung aus Norddeutschland: Einer Prinzessin soll wertvoller Schmuck gestohlen worden sein.“
Benjamin fühlte, wie er rot wurde. Er konnte nur hoffen, dass seine dunkle Haut und die schlechte Beleuchtung dies vor dem Reporter verbargen.
„Benjamin hat nichts mit dem Schmuckdiebstahl in Hannover zu tun“, versicherte Muck hastig.
Benjamin gab ihm einen Tritt gegen das Schienbein. „Wir gehen jetzt.“
„Bist du verrückt?“, fuhr er Muck wütend an, als sie draußen waren. „Schmitt hat von Norddeutschland gesprochen und du von Hannover.“
„Es ist ihm bestimmt nicht aufgefallen“, versuchte sich Muck zu rechtfertigen. „Außerdem haben weder du noch Grabow den Schmuck gestohlen. Also, was kann euch schon passieren?“
„Grabow kann als Hehler ins Zuchthaus kommen, was nicht schlecht wäre, und ich als Mitwisser. Also denk das nächste Mal nach, bevor du etwas sagst.“
Muck schwieg beleidigt auf dem ganzen Weg zurück zu Jedahs Wohnwagen.
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