Zufälle, Fluss und Feuer. Danke für Wärme, Wind und Trauer. Danke für Liebe, Angst und Schmerz. Danke für euch Frauen. Ich habe am Lebenskokain den Schlaf verlernt und einen blauen Felsen zu durchfliegen ist die Zeit.“
Ein anderer Matador sagt: „Ich wurde im Meer gezeugt, ich trage die Haie in der Seele." Wieder ein anderer Matador sagt: „Ich wurde in der Corrida gezeugt, ich trage die Stiere in der Seele. Heute Nacht beginnt der Kampf, heute Nacht beginnt die Schöpfung. Am Ende steht der Tod. Heute kämpfen in mir, in dir Instinkte gegen zivilisiertes Grauzellenhirn. Liebe gegen Abwesenheit. Kopie gegen Original. Sterbender Wald gegen Asphalt. Postmoderne gegen die moderne Post."
Der andere Matador sagt: „Wenn ich jetzt zu euch rede, dann durch Kiemen. Die Welt über dem Wasserspiegel ist voll von Kopisten. Man überhäuft sie mit Reichtum und Ruhm. Interpretieren lohnt mehr denn komponieren. Eine Meinung zu einem fertigen Erbe haben lohnt mehr als ein eigenes Werk schaffen. Dieses verfluchte Behagen am immer Gleichen. Komposition ist ohne Zweifel etwas Seltenes. Sie zieht die Parasiten an im überfüllten Bildersaal des zwanzigsten Jahrhunderts.“
Der andere Matador zieht seinen Degen und schreit: „Ich verführe, jage, tanze und töte in der Arena meiner Kunst." Der kleine Picador auf seinem letzten Lebensweg sticht mit seinem Degen in Olgas Brust und fand ein Blut, wo er zuvor zu wenig Milch gefunden hatte.
Ariadne, Olga, Francoise schrecken plötzlich aus dem Schlaf: Wild rufen sie durcheinander im Kaffeehaus: „Matador, bald kommt die Torrera! Mit den Pasadobles zwischen den Beinen. Mit den Walzertangos zwischen den Beinen. Mit der Capea zwischen den Beinen. Mit den Banderillas zwischen den Beinen. Matador, Schlächter und Schlächterinnen in der Arena der Liebe gibt es genug. Triff das Herz, Matador!“ Und die Frauen fahren fort: „Mein Künstler, wer in dieser Stadt Berlin kann schon über Kunst nachdenken? Ich denke soviel über Sex und Geld nach. Also muss meine Kunst Sex und Geld sein, aber ich werde mich zügeln. Weck mich, stoß mich, begehre mich. Nimm mich, nach Brasilien, nach Argentinien, ins Bett. Du könntest der Einzige sein, der mich glücklich machen kann. Ich liebe dich. Wenn ich verliebt bin, spielen Dinge wie vögeln, Alter, Geld keine Rolle. Hast du Geld, Matador? Willst du mich durchbringen? Darf ich dein Kind sein? Ich liebe dich. Fickst du mich jetzt? Ich werde bei dir bleiben, aber jetzt noch nicht. Zuerst musst du leiden. Du musst lernen, was es heißt zu leiden. Und eines Tages findest du mich und das ist das Ende der Welt.
Und wieder beginnt in dieser Nacht im Kaffeehaus der böse Engel mit den Hörnern nach der Sonne zu stoßen. Aber plötzlich, der Matador, er kämpft nicht mehr. Er quält sich nur noch mit Farben am Maul. Ariadne, Olga, Francoise steigen vom Pferd, um ihm den Todesstoß zu geben. Doch das können sie nicht. Kurz bevor er fiel, hatten sie ihn gestreichelt. Eine kleine Zärtlichkeit vor dem späten Tod. „Du stirbst, aber du bist umsonst gestorben. Unsere Schönheit fehlte. Wir beide, Torera und Matador, wir haben nicht triumphiert. Wir haben kein lebendiges Kunstwerk geschaffen. Nur den Tod mit seinen sieben Sünden: der grüne Geiz, die graue Eitelkeit, die gelb-braune Völlerei, die schwarze Feigheit des Herzens, die graue Lüge, Neid und Zorn."
Jetzt endlich weicht er von mir. So hatte das schreckliche Insekt schon einmal das Kaffeehaus verlassen, durch die Eingangstür und mit knirschenden Zähnen an einem Morgen im Mai in Berlin. Etwas hatte begonnen. Ruhig, heiter und ohne Angst. Denn wer weiß schon, woraus die Kunst geboren wird?
Das Leben ist so kompliziert
Fortpflanzen können sich die Menschen nur, wenn eine Gemeinschaft sie unterstützt. Und unsere Jugend dauert so lange, weil das menschliche Gehirn ungewöhnlich viel lernt, lernen muss, wer sich ein Selbst aus dem vielen Fremden erfinden muss und deswegen so extrem langsam heranreift. Und dann die große Frage: Warum macht man, was man macht? Das Leben ist eine ständige Überbrückung von Verwirrung zu Verwirrung, bis aus einem vielleicht etwas ganz Großes wird. Jeder möchte besonders sein, anders aussehen, sich anders verhalten. Aber eigentlich sehen wir alle gleich aus, verhalten uns gleich, essen das gleiche, kaufen die gleichen Klamotten. Und dann beginnt man sich vielleicht schön zu finden. Natürlich geht das nur langsam. Es dauert ganz schön lange bis man so aussieht, wie man es möchte. Die größten Schönheiten der Natur, die Geschmeidigkeit der Leoparden, die Schnelligkeit der Pferde, der eindrucksvolle Kopfschmuck der Hirsche, all diese Entwürfe sind letztlich nichts anderes als das Ergebnis eines langen evolutionären Wettrüstens. Das Leben ist kompliziert. Leben muss man immer üben. Das verfrühte Ende der Neugier lässt einen früh vergreisen. Es gibt Senioren, die jung und aktiv geblieben sind, es gibt junge Leute die ohne Initiative ein stupides Leben führen. Überall finden sich stumpfe Menschen, die sich mit dem kleinsten Nenner genügen. Wenn einem im Leben der Mut fehlt, landet man bei den bösen Schwestern: könnte, hätte, sollte... Und dann die Sache mit Gott. Gott ist der Name, den wir den Dingen geben, die wir nicht verstehen. Ob ein Gott mir hilft? Ein leises Gebet vor dem Essen, vor dem Schlafengehen? Am besten ist ein allumfassender Gott, der alles bietet, wie im Kaufhaus. Nur bitte keine weiteren Entscheidungen mehr! Das Leben ist so kompliziert. Zum Beispiel würde ich in meinem momentanen Zustand an der indischen Götterwelt verzweifeln. 330 Millionen Gottheiten, Semi-Göttern, Exzentriker, Dämonen, Büffel, Ratten, Elefanten, kosmische Tänze. Ein Supermarkt der Mythe, und man weiß nicht, wer Verkäufer ist, wer Kunde oder Ware. In mir geht soviel vor und das Leben ist vor allem kompliziert. Nichts greifbares bietet mir mein Inneres. Auch meine Freunde sind unterwegs, um ihre verstreuten Ichs zu suchen! An lächerlichen Kleinlichkeiten rennen wir uns ständig den Kopf ein. Und wenn man etwas älter ist, ist man einfach stehen geblieben zwischen seinen vielen Entwürfen und Verwerfungen, seinen Sehnsüchten und Rebellionen. Sind wir weiterhin heiter und hoffnungsfroh. Und rechen mit dem Schlimmsten.
Drachengespräche
Im Kaffeehaus herrschten viele Stimmen. Sie schwirren durch den Raum wie ein tausendköpfiger Drachen, der mit tausend falschen Zungen spricht. Die Gäste sind aufgeregt und laut. Ihn beschlich das Gefühl, als wären diese Menschen hier in Wirklichkeit alle die Gefangenen ihrer Selbst, gezwängt in selbst gebaute Käfige, in die sie sich im Laufe ihres Lebens durch Ihre Gedanken eingesperrt hatten. Die Luft, die verbrauchte, abgestandene, machte ihm zu schaffen. Die Gäste hier schienen blind für die eigentlichen Fragen ihres Lebens und er bemerkte, dass für sie diese Blindheit auch noch normal war. Waren sie hier nicht alle Opportunisten aus Überzeugung, humorlos, farblos, Menschen, die immer alles verachteten, was aus ihren engen Käfigen heraus fiel? Alle spielten sich ein gleiches, überfreundliches Theater vor. Insgeheim aber verachteten sie sich selbst und jeder verachtete den andern. Und dann der heimlichen Wunsch, der andere möge scheitern. Jede Regung wurde vom Nutzen und von der Gier bestimmt. Jeder in diesem Kaffeehaus war Opfer und Täter seiner Umstände. Der eine ungeliebt, der andere unglücklich verliebt, der dritte ein verwöhntes Kind. Wieder andere fielen wie Sklaven ihrer Triebe übereinander her. Keiner hatte gelernt, in Gelassenheit Ausschau nach dem anderen zu halten. Die flächendeckende Sucht nach dem Geliebtwerden, nach der Umarmung des Erfolgs, schwebte durch den Raum. Alle waren klatsch- und geldsüchtig und gleichzeitig herrschte die Sucht, sich ständig mit den anderen zu vergleichen. In Wirklichkeit aber hatten die Gäste in diesem Kaffeehaus eine panische Angst vor ihrer Wegdenkbarkeit; Angst, die Geborgenheit und Ordnung ihrer falschen Gewohnheiten zu verlieren. Sie, die von der Überfülle sinnloser Produkte erschlagen wurden, reduziert zum grauen Mittelmaß, abgerichtet zu tumben Konsumenten, deren Leben zu einer trockenen Pflichtveranstaltung verkommen war, sie alle waren grau und ohne Lieder. In diesem Zustand kann kein Land mehr tanzen! Alle sehnten sich nach dem Tier, der Liebe, dem Chaos, dem Kitzel. Sie sehnten sich nach einem Erlöser, der sie aus ihren Käfigen befreit. Die viel zu trockene Luft bestand aus Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Neid. Neidorgien. Schwarmhysterie. Unstillbarer Hunger im Kaffeehaus nach Anerkennung, nach Ruhm, nach Zugehörigkeit, nach sozialem Aufstieg, nach unendlicher Vergrößerung. Kein Durchatmen. Gespräche, Drachengespräche, die einfach nicht verwehen.