Leeloo Minai

Gott ist ein DJ


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wusste aber nicht, wie ich in Gottes Namen dahin kam. Ich kam immer an den Ort, an welchen ich wollte, wusste aber nicht wie. Auch hatte ich Schwindelanfälle und Schweißausbrüche. Alle meine Organe schienen sich zu erneuern, der Bauch knurrte, ich brachte aber keinen Bissen herunter.

      Einzukaufen war das Schwierigste überhaupt. Erstens wusste ich nicht, was ich einkaufen sollte, zweitens wusste ich nicht mehr, wo was war und drittens stellte sich die Frage, wie ich an der Kasse vorbeikam, ohne aufzufallen. Das Dümmste kommt noch: Wo war das Auto? Jedes Mal Stress, das Herz klopfte mir bis zum Hals. Immer dachte ich, du musst dich unbedingt zusammenreißen, reiß dich am Riemen.

      Wenn ich mit dem Hund spazieren ging, dachte ich, du läufst jetzt diese Strecke ab. Das tat ich auch, nur zuhause fragte ich mich, ob der Hund jetzt schon draußen war oder nicht. Und immer wieder Bilder über Bilder. Es war alles so real und auf der Erde wie eine Illusion. Der Hund schaute mich manchmal so komisch an, auch nahm er Abstand zu mir.

      Wenn die Kinder mit schulischen Problemen daherkamen und mich etwas fragten, wurde ich richtig wütend: „Lasst mich in Ruhe, habe jetzt keine Zeit.“

      „Keine Zeit“, fragten sie mich, „was machst du den ganzen Tag, außer nachzudenken?“

      Das schlechte Gewissen bedrückte mich, ich riss mich zusammen und fragte, ob ich helfen könne. Natürlich durchschauten sie mich und merkten, dass ich nicht die geringste Lust dazu hatte!

      Ich wusste nicht mehr, wo ich war, was real war und was eine Illusion. Ständig hatte ich Schwindelanfälle, wusste nie, ob ich noch aufstehen konnte! Nachts konnte ich nicht mehr einschlafen, ständig diese Bilder im Kopf. Ich kann nicht mehr erzählen, was das war, irgendwie ging das sehr schnell. Ich vergaß alles, und doch war es mir, als ob ich mich an alles erinnern konnte.

      Morgens beim Aufstehen hatte ich enorme Mühe. Ich lag einfach nur da, alles war so leicht, ich konnte mich weder bewegen noch irgendwas sagen, es war ein Gefühl der Hilflosigkeit. Das Ganze dauerte nur etwa eine Minute (keine Ahnung), bis ich mich wieder gefangen hatte. Ich tat alles unbewusst.

      Eines Morgens ging ich wie üblich mit dem Hund spazieren. Unterwegs traf ich eine Kollegin und sprach mit ihr (musste mich enorm zusammenreißen). Auf einmal sah ich mir von oben herab zu, wie ich mit dieser Person sprach. Ich schaute mir selbst zu! Panik überfiel mich, ich stammelte, ich müsse jetzt gehen. Ich hatte solche Angst. Was war bloß mit mir los? Es schüttelte mich vor Heulkrämpfen. Was habe ich getan? Was ist passiert?

      Zuhause hatte ich wieder solches Herzklopfen, es war mir zum Bersten schlecht. Ich sprach mit meinem Mann, wie das ginge, sich im Hier und Jetzt zu befinden (er hatte einen Kurs dazu besucht). Er machte mit mir Atemübungen und sonst noch so allerlei. Ich wurde extrem anhänglich, ich musste ihn immer festhalten, er durfte mich nie loslassen. Wie eine Klette hing ich an ihm. Wenn ich alleine war, hing ich sogar an Bäumen. Natürlich wunderte er sich, weshalb ich dies tat (hatte ich früher nie). Ich konnte ihm nicht erzählen, wie ich mich fühlte, sonst hätte er sich Sorgen gemacht. Er wäre nicht mehr zur Arbeit gegangen (und ich wusste, die hatten Probleme), auch hätte er mich nicht verstanden. Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Situation gedauert hat, auf jeden Fall mehrere Tage. Bei jedem Spaziergang sah ich mir zu, wie ich lief, jede meiner Bewegung konnte ich beobachten.

      Am nächsten Tag, es war der 5 Juli 2005, der Todestag meines Bruders, lag ich früh morgens im Bett. Wie üblich verging einige Zeit, bis ich wieder zu mir kam. Mein Mann war auf der Arbeit, die Kinder schliefen noch. Ich stand auf und wollte mit dem Hund raus. Ich fühlte mich eigenartig, auf einmal schien sich alles zu bewegen. Wenn ich lief, so war mir, als ob sich alles bog – die Bäume, die Felder, die Sträucher – und ich schweben würde. Ich rannte so schnell es ging nach Hause, ich stampfte nach Hause, weil ich den Boden unter mir nicht mehr wahrgenommen hatte. Wo ist der Boden? Alles war so weich.

      Zuhause hatte ich Herzrasen, Panikattacken, ich schrie: „Lass mich in Ruhe“ (hatte meinen verstorbenen Bruder gemeint). Irgendwie schien es, als ob mich jemand verfolgen würde. Ich schaute immer wieder um mich herum, und sagte ständig: „Geh weg, lass mich in Ruhe, was willst du von mir? Was habe ich dir getan? Warum mich?“ Es war, als ob ich mich in Luft auflösen würde. Das ist es, dachte ich, das ist der Tod, der kommt dich holen. Ich habe nichts gesehen, aber gespürt. Du stirbst, Du stirbst. Meine Kinder kamen heulend angerannt. Ich sagte ihnen, dass ich sie sehr lieben würde und dass ich jetzt sterben würde. Es war der reinste Horror, was tun? Ich rief meinen Mann an, er solle sofort kommen, die Kinder schickte ich, die Nachbarin holen. Wie ein Tier sprang ich hin und her, sagte immer wieder: „Hau ab.“

      Auf einmal wurde es still, so still, die Erde schien sich nicht mehr zu drehen. Ich schien alles zu sehen, alles verstand ich, alles. Wie in Trance rief ich die Frau an und sagte, sie müsse mir helfen, ich wisse nun alles, ich sähe alles glasklar, es sei wunderschön.

      „Mein Gott“ rief sie, „das kannst du nicht tun, geh nicht, die wollen dich noch nicht haben! Das kannst du deiner Familie nicht antun, deinen Eltern schon gar nicht. Deine Zeit ist noch nicht gekommen, komm zurück!“

      Ich wusste, was sie damit meinte. „Die wollen dich noch nicht haben“, klang es in meinen Ohren.

      Ich sprach noch mit der Nachbarin, wie es ihr gehe und was sie so mache, nur um mich abzulenken.

      Das Krankenauto kam, das mein Mann organisiert hatte. Natürlich war ich so durcheinander und verwirrt, dass der Pfleger das schon von Weitem sah. Ich sagte, ich wolle in das Spital und wolle eine Infusion, da ich zu wenig Flüssigkeit hätte.

      Er sah mich an und sagte: „Das bringt nichts, sie sind zu durcheinander. Das Beste wäre, wenn wir sie in die Irrenanstalt fahren. Sind Sie damit einverstanden?“

      Im Bruchteil einer Sekunde, dachte ich: Jetzt haben sie dich, sie werden dich einsperren, da kommst du nie mehr heraus. Ich wurde ganz ruhig, und sagte, ich käme mit für Abklärungen.

      Sie fragten meinen Mann, was er meine. Er sagte, ja, es sei momentan das Beste.

      Ich stieg in das Krankenauto ein. Ich wusste, wohin die Fahrt ging. Panik überfiel mich wieder und ich versuchte, mich selber zu beruhigen, was mir gelang. Ich starrte aus dem Fenster und betrachtete die Bäume, die Sonne, die Wolken. Natürlich wollte ich aus dem Auto raus. Wenn du jetzt einen Anfall hast, dachte ich, dann kannst du alles vergessen.

      Der Pfleger versuchte, mich ebenfalls zu beruhigen (oder auch nicht), und sagte, dass es viele wie mich gäbe, dass man sich nicht zu schämen brauche.

      Ach ja, dachte ich, Irrenanstalt blieb für mich Irrenanstalt!

      Psychiatrie

      Ich war noch nie in einer psychiatrischen Klinik gewesen. Als wir dort einbogen, sah ich einen großen trostlosen Komplex, alles schien mir so kalt. Wenn du bis jetzt noch keinen Knall hattest, spätestens hier kriegst du ihn, garantiert, war mein erster Gedanke. Sie brachten mich in einen Vorraum (natürlich die Türe zugesperrt). Alleine! Da hast du schon schiss, der Puls auf 180 und dann sperren die dich in einen kalten, unsympathischen (kein einziges Blümchen) Raum. Glatte 15 Minuten ließen sie mich alleine. Zum Glück kann ich hinterher sagen, dass ich die Zeit brauchte, um nachzudenken und endlich zur Besinnung zu kommen.

      Der Psychiater kam mit einer Lehrtochter. Sie fragten mich, wie ich mich fühle!

      „Beschissen“, antwortete ich.

      Als Erstes fragte er mich, ob ich Stimmen im Ohr hätte, und ob ich im Sinn hätte, mir etwas anzutun!

      Nein (auf die Idee kam ich nie) gab ich zurück, ich könne das meiner Familie niemals antun, so bescheuert wäre ich nun wirklich nicht.

      Er glaubte mir.

      Die Lehrtochter sah immer nur auf ihre Fingernägel. Ob ich die heute noch rot streichen soll?, fragte sie sich wohl.

      Ich erzählte von früher, von der Kindheit und so (das schien ihn brennend zu interessieren), fragte mich aber, was die Kindheit gemeinsam hat mit dem, was passiert war.

      Er