Martha Neuer

Die Frau aus einem Guss


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Mutter am Arm gepackt und geschüttelt:

       „Woher du dieses Wort kennst?“

       „Äh, hm … habe es von Rita!“

       „Die hat ja auch eine ältere Schwester! Nimm dich in Acht!“ Es setzte Schläge.

      Alwina duckte sich und versuchte ihren Kopf mit den Armen zu schützen, doch die Mutter war schneller und riss die Arme weg.

       „Werd nicht frech!“ Von einem Moment auf den anderen hörte die Mutter auf. Alwina verharrte.

      „Du wirst nochmal anecken! Kannst du nicht einfach ein liebes Mädchen sein?“, klagte die Mutter.

      Bei der Erinnerung fröstelte Alwina. Schnell nahm sie das Handtuch, schlang es sich um die Schultern und setzte sich auf. Die Wellen hatten jetzt weiße Schaumkronen obenauf. Der Wind nahm zu. Nur das Rauschen des Meeres war zu hören. Ab und zu kreischte eine Möwe. Jetzt da draußen sein! Am Horizont zogen Schiffe vorbei. Mit der Stenaline nach Schweden fahren oder auf der Gorch Fock einfach dahin segeln! Abenteuer bestehen! Das wäre töfte!

      „Das ist nichts für dich!“ Alwina schreckte hoch. Die Mutter stand hinter ihr und riss den Stern weg. Sie sah die Mutter an. Deren Mundwinkel zuckten. Seufzend stand Alwina auf und überließ der Mutter die Zeitung. Sie schlenderte auf die Brandung zu. „Sei nicht so waghalsig!“, tönte es ihr hinterher.

      Am Wasser streckte Alwina zunächst einen Zeh hinein. Das Meer leckte an ihren Knöcheln. Sie kreischte, rannte lachend in die Wellen, spritzte mit den Armen. Als sie nicht mehr stehen konnte, begann Alwina zu schwimmen. Das Wasser war so stark. Es trug sie.

      Ich schaffe das nie! Bäuchlings hatte Alwina auf dem Boden des Schwimmbades gelegen und den Geruch von Chlor, abgestandenem Wasser und Speik eingeatmet. Das ganze Bad hallte vom Schreien, Juchen und Quieken ihrer Mitschüler. Der harte Boden scheuerte an ihren Hüftknochen. Die Sportlehrerin zwang sie, sich am Beckenrand auf den Boden zu legen.

       „Jetzt winkel doch die Beine an! Sei nicht so steif!“ Mit einem Ruck hatte die Lehrerin ihre Beine hochgerissen und sie geführt. Der Chlorgeruch nahm zu. Gleich würde Alwina sich übergeben. Ihr war speiübel. Da ließ die Lehrerin ihre Beine los und pfiff die Stunde ab.

      Ein. Aus. Hier draußen, umgeben von den Wassermassen, erschien ihr die letzte Schwimmstunde wie ein längst vergangener Albtraum. Bei Aus tauchte Alwina den Kopf unter Wasser, bei Ein nahm sie ihn wieder hoch. Ihre Beine und Arme folgten dem Rhythmus. Es war babyleicht. Zwischendurch ließ Alwina sich einfach treiben, bis sie fror. Dann begann sie erneut mit dem Ein, Aus. Ab und zu streiften ihre Füße Algen oder Quallen. Erst schrie sie. Später wurden diese Berührungen ein freundliches Streicheln. Ein, Aus. Sie schwamm ein Stück dem Horizont entgegen. Alles war so leicht! Irgendwann kehrte Alwina wieder um. Zu Hause würde sie den Fahrtenschwimmer machen. Die Lehrerin würde staunen! Leicht keuchend kam Alwina aus dem Wasser. Sie klapperte mit den Zähnen. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Alwina nahm ihre Schaufel und begann einen Graben für eine Sandburg auszuheben.

      Plötzlich sah sie wieder ihre ältere Schwester und ihre Freundinnen auf ihrem letzten Geburtstag vor sich.

       „Wir spielen jetzt Plumpsack!“, hatte die Schwester den kleinen Mädchen zugerufen.

       „Juchhu! Wie toll!“ Einige klatschten in die Hände und liefen im Kreis. Die Schwester spielte auf Geheiß der Mutter mit ihnen.

       „Du bist aber schön!“ Rita streichelte die langen Haare der Schwester und Alwina brannte vor Zorn. Am liebsten hätte sie Ritas Hand einfach weggeschlagen. Alle ihre Freundinnen schwärmten für die Schwester.

      „Hat sie schon einen Freund?“

       „Wie viele Freundinnen hat sie?“

       „Geht deine Schwester in die Disco?“ Alwina hätte am liebsten gebrüllt:

       „Haltet doch alle mal die Klappe!“ Aber sie traute sich nicht. Ihre Antworten waren knapp und tonlos gewesen.

      „Alwina, wir gehen jetzt! Zieh dich an und komm!“ Die Mutter riss sie aus ihrer Erinnerung. Alwina schulterte ihre Schaufel und marschierte hinter der Mutter her. Am nächsten Tag fuhr die Familie zurück nach Lünen. Alwina warf einen letzten Blick auf die Ostsee. Heute lag sie wieder einfach still da. Das Meer lächelte ihr zum Abschied zu. Alwina winkte heftig zurück:

       „Tschüss, Ostsee!“

      Ein paar Monate später …

      Die Schneeglöckchen waren verblüht. Ihre Köpfchen hingen schlaff an den Stängeln. Die ersten Krokusse lugten bereits vorsichtig aus den Beeten der Vorgärtenhervor, in lila, gelb und weiß. Dicke, schwere Regentropfen fielen auf die Blumen, die sich darunter immer mehr zum Erdboden neigten. Einige, vor allem die Schneeglöckchen, lagen schon platt am Boden. Alwina stand am Fenster in Ritas Zimmer und sah hinaus in den dichten Regen.

      Ein Mann mit Hund eilte über die Straße. Beide, Mann und Tier, glänzten dunkel von der Nässe. An ihren Körpern liefen kleine Rinnsale herunter. Trau dich! Los, jetzt!, schoss es Alwina durch den Kopf.

      Sie drehte sich ruckartig zu Rita um:

       „Sollen wir mal was anderes spielen? Wir ziehen uns nackend aus und streicheln uns?“ Rita gab keine Antwort. Alwinas Herz klopfte. Sie spürte die Schläge bis in den Hals. Mit einem Mal nahm Rita ihre Hand. Alwinas Herz pochte wild. Sie tat den ersten Schritt weg vom Fenster in den dunkleren Teil des Zimmers, wo Ritas Schlafsofa stand. Rita folgte. Alwinas Herz schien aus ihrem Brustkorb springen zu wollen. Sie hüstelte. Danach schlug das Herz etwas langsamer.

      Am Schlafsofa blieb Alwina stehen. Rita ließ ihre Hand los. Sie standen voreinander. Alwina zog ihren Pullover aus. Rita tat es ihr gleich und zog auch ihre Hose aus. Alwina atmete schwer. Jetzt das Höschen. „Was macht ihr da?!“

       Die Mädchen hatten nicht bemerkt, wie sich die Tür zu Ritas Zimmer geöffnet hatte. Ritas Vater kam näher.

       „Verdammt nochmal! Was macht ihr da? Ich glaube, ich traue meinen Augen nicht!“, schrie er. Alwina schwieg, Rita ebenfalls. Mit starren Gliedern stand Alwina da. Sie blickte in das puterrote Gesicht von Ritas Vater, folgte mit den Augen dem Gefuchtel seiner Arme und brachte keinen Ton raus. Alwina begann zu zittern.

       „Hört ihr schlecht? Jetzt raus hier!“ Ritas Vater stand jetzt vor den halbnackten Mädchen. Er stellte sich zwischen sie und wies Alwina mit ausgestrecktem Arm die Tür. Schnell, zieh dich an! Was zuerst: Unterhemd, Bluse oder Pullover? Alwina nestelte an ihren Sachen herum.

      „Sag mal, verstehst du eigentlich kein Deutsch? Raus hier, aber ein bisschen dalli!“ Alwina sammelte ihre Sachen ein und hastete zur Tür hinaus. Unten im Flur schlüpfte sie in ihre restliche Kleidung. Dann lief sie los, mitten in den dichten Regen hinein. Wo bin ich? Alwina kannte die Straße nicht. Sie sah an sich runter: klitschnass. Wo ist mein zweiter Schuh? Bei Rita. Dahin konnte sie jetzt auf keinen Fall zurück! Alwina humpelte die Straße entlang. Sie wusste immer noch nicht, wo sie war. Da vorn, das ist doch der Schulhof? Sie lief darauf zu. Sie setzte sich auf die Schaukel, ließ den Kopf hängen und spürte, wie ihre Wangen feucht wurden.

      Hätte sie doch nie Rita gefragt! Es fühlte sich an wie damals, als sie Hautausschlag hatte und kein anderes Kind sie anfassen wollte. Alwina weinte noch mehr. Irgendwann waren die Tränen versiegt. Sie wischte sich die Wangen ab, stand auf und ging nach Hause. Es war bereits dunkel.

      „Wo warst du denn? Weißt du eigentlich wie spät es ist?“, fragte die Mutter. Alwina sah ihr nicht in die Augen.

       „Äh, da waren so böse Jungs, ähm, da bin ich weggelaufen. Dann wusste ich nicht mehr, wo ich war …“

       „Hm, und dein linker Schuh? Kannst du nicht auf deine Sachen Acht geben? Das kostet doch alles Geld!“

       „Äh, der ist im Schlamm steckengeblieben, als ich weggelaufen bin!“

       „Papperlapapp! Du bist ja völlig durchnässt! Jetzt zieh erstmal die Sachen aus! Dann bleibst du auf deinem Zimmer!“

      Alwina rannte in ihr Zimmer. Sie zog sich aus, brachte die nassen Sachen ins Bad und zog einen Schlafanzug an. Dann legte sie sich aufs Bett und