Martha Neuer

Die Frau aus einem Guss


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Alwina da, mit offenen Augen. Sie nahm ihren Daumen in den Mund und lutschte daran. Ich soll das doch nicht! Ab und zu streifte der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos die Zimmerdecke. Unter der Decke konnte sie das erkennen. Irgendwann schlief sie ein.

      Was die Erwachsenen wirklich redeten, erfuhr Alwina nicht. Jedenfalls durfte sie Rita längere Zeit nicht sehen. Die Mutter war sehr abweisend und sprach nur das Nötigste mit ihr, mehrere Tage lang. Vor kurzem hatte die Familie eine neue Waschmaschine bekommen. Alwina hatte sich den großen Karton geholt und in ihr Zimmer gestellt. Statt raus zu gehen und zu spielen, wie sie es sonst so gern tat, lag sie viele Nachmittage eingerollt wie eine Katze in dem Karton. Innen war es dunkel. Es roch nach Pappe und Waschmittel. Sie hatte eine karierte Decke auf den Kartonboden gelegt. Dort lag sie nun, hielt ihren Teddy im Arm und aß eine gemischte Tüte. Die weißen Schnuller schmeckten süß und sauer zugleich. Die mochte Alwina am liebsten.

      Vorgestern hatte sie Rita auf der Straße getroffen.

       „Hallo!“, grüßte Alwina.

       „Hallo!“, wiederholte sie.Rita schwieg und blickte zu Boden. Alwina ließ den Kopf hängen. Sie steckte die Hände in ihren Anorak. Schließlich drehte Alwina sich um und trottete nach Hause. Will Rita nicht mehr meine Freundin sein? Alwina wurde kalt bei der Erinnerung. Sie kuschelte sich tiefer in ihre Decke.

      Letzten Sonntag war sie, wie so oft, mit ihrem Vater in die Kirche gegangen.

       „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!“, flüsterte der Vater. Alwina wurde ganz warm und es kribbelte auf den Unterarmen. Zum Mittagessen gab es Sauerbraten, Alwinas Lieblingsgericht.

      „Wir hatten nix zu freten, aber Kippen! Tagelang hatten wir nix zu freten! Da hamm we Rüben geklaut! Das war gefährlich! Der Bauer stand nachts mit der Schrotflinte am Feld. Dem Rudi hat er `ne Ladung in den Arsch gejagt! Der hat geschrien!“ „Wilhelm!“ sagte die Mutter.

       „Ihr solltet Gott auf Knien danken! So viel zu essen habt ihr! Gott auf Knien danken!“ Langsam wurde das Geschrei des Vaters leiser. Alwina stocherte in ihrem Essen herum und rutschte auf der Küchenbank hin und her.

       „Jetzt ess doch, Kind!“, forderte die Mutter. Bei der Erinnerung an das immer gleiche Geschrei des Vaters am Sonntag wurde Alwina ganz steif, selbst hier im Karton.

      Ein anderes Mal hatte der Vater geweint:

       „Sie haben sie gepackt und in die Wagons gestoßen wie Vieh. Ich habe das gesehen in Rotterdam, die Nazzis haben sie geschlagen und getreten, die Juden. Da waren Frauen und Kinder, die bluteten!“ Der Vater weinte noch mehr. Alwina saß auf der Küchenbank und starrte auf den Sonntagsbraten.

       Schweinebraten. Sie machte sich ganz klein und traute sich nicht mehr zu atmen. Hoffentlich ist es bald Zeit für die Kinderstunde im Fernsehen.

      Sonntags in der Kirche fühlte sich der Vater ganz fest an. Manchmal schaute Alwina nach links und rechts: Alle waren ins Gebet vertieft. Sie rückte ein Stück näher an ihren Vater heran. So nah es eben ging während der Heiligen Messe. Er roch gut, nach Rasierwasser und Zigarren. Sein dicker Bauch lugte aus dem Wintermantel hervor. In diesen Momenten war er ihr Pappa.

      Dann war da noch der Kommunionunterricht.

       „Bei der ersten heiligen Kommunion empfangt ihr den Leib Christi. Jesus Christus ist am Kreuz für die Sünden der Menschen gestorben. Er ist auch für euch gestorben!“ Alle Kinder im Kommunionunterricht hatten geschwiegen bei den Worten des Pfarrers. Niemand machte auch nur einen Mucks, trat unter der Bank oder kicherte. Es war vollkommen still.

      Hier in ihrem Karton hörte Alwina den Pfarrer wieder ganz deutlich sprechen. Sie faltete ihre Hände. Der liebe Gott war für sie da! Immer, wenn sie an die erste Heilige Kommunion dachte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Danach prickelte es überall. Alwina beschloss, einfach schon jetzt zur Kommunion zu gehen.

      Es war frühmorgens an einem kalten Sonntag. Alwina schaute aus dem Fenster. Auf den Ginsterbüschen im Garten lag Raureif. Das Gelb war mit weißem Zuckerguss überzogen. Die Pfützen waren über Nacht zugefroren. Darin spiegelte sich der Ginster. Sie zog sich schnell an, nahm, was sie gerade fand: die alte braune Hose und den roten Pullover, von dem die Mutter sagte, er sei ihr zu klein. Dann noch Anorak und Stiefel. Hunger hatte sie keinen. Aber vielleicht Fieber?

      Ihr war ganz heiß und schwindelig. Sie öffnete ganz leise ihre Zimmertür und schlich den Flur entlang. Vor der Schlafzimmertür ihrer Eltern hielt Alwina den Atem an. Es war nur das Schnarchen des Vaters zu hören. Sie ging vorsichtig ins Bad und öffnete das Fenster. Es quietschte.

      Oh je! Sie drehte sich um und lauschte. Das Schnarchen des Vaters war nicht mehr zu hören. Alwinas Herz klopfte. Da! Das Schnarchen hatte wieder begonnen. Sie unterdrückte den Seufzer, stieg in den Fensterrahmen und sprang in den Hof.

      Alwina landete auf Händen und Füßen. Sie richtete sich auf und ging los. Den Weg zur Kirche kannte sie auswendig. Erst an der Schule vorbei, bei Ritas Omma abbiegen, dann immer geradeaus bis zur Bude. Von da konnte Alwina die Kirche schon sehen. Sie war allein auf der Straße. Alle anderen schliefen noch. Es war so still. Und so kalt. Ihr Atem sah aus wie kleine Wolken. Die Glocken hörten auf zu läuten. Alwina rannte. Außer Atem erreichte sie die schwere Kirchentür, kurz bevor sie geschlossen wurde.

      Alwina schlüpfte hinein. Sie versuchte nicht zu keuchen und musste husten. Schnell kniete sie nieder, bekreuzigte sich und setzte sich in die letzte Bank. Die Bank war leer. Nur am anderen Ende kniete eine alte Frau mit Kopftuch und betete.

      „Großer Gott, wir loben dich!“, sang die Gemeinde. Alwina rutschte unruhig hin und her. Die alte Frau schaute zu ihr. Alwina hielt inne. Warum dauert das so lange? Lesung, Fürbitte, Predigt ... Alwina rutschte erneut hin und her. Die alte Frau guckte nun böse. Alwina zwang sich, still zu sitzen.

      Alles in ihr drängte danach, einfach nach vorn zu laufen. Wann ist es endlich soweit? Alwina begann langsam bis tausend zu zählen. Neunhundertachtundachtzig, in der ersten Reihe stand eine Frau auf. Neunhundertneunundachtzig, es standen weitere Erwachsene auf und bildeten eine Schlange vor dem Altar. Juchhu! Schnell schaute sie sich nach der alten Frau um. Die erhob sich langsam, um sich anzustellen. Alwina folgte ihr.

      Ganz langsam ging es nach vorn. Schritt für Schritt. Geflüster und Wispern. Im Kommunionunterricht hatte Alwina gelernt, dass man vor der Kommunion beichten musste. Dazu war es jetzt zu spät! Was tun? Ich habe Strichmännchen auf Peters Hausaufgaben gekritzelt und die Zigaretten meiner Schwester weggeworfen, sagte sie schnell und leise zum lieben Gott. Der Pfarrer hatte gesagt, in der Not dürfe man kurz vor der Kommunion beichten.

      Alwina blickte auf. Sie stand vor dem Pfarrer. Wenn er mich jetzt wegschickt? Der Pfarrer sagte nichts. Alwina schloss die Augen und öffnete den Mund. „Dies ist mein Leib.“ Der Pfarrer legte ihr die Hostie auf die Zunge. Sie schmeckte nach Papier und war ein bisschen klebrig. Alwina schluckte. Ihre Knie wurden weich, ihr wurde schummerig. Sie ging zu ihrem Platz zurück. Dort kniete sie nieder und faltete die Hände. Du musst jetzt beten! Danke, lieber Gott, danke! Alwina betete lieber noch ein Vaterunser.

      Der Vater riss die Haustür auf.

       „Das ist eine Todsünde! O Herr, meine Tochter hat eine Todsünde begangen!“ Er stand wutentbrannt vor ihr. Alwina erstarrte. Sie ließ den Kopf hängen und schaute auf die Fußmatte. Die Matte war beige und geflochten, wie ihre Zöpfe.

       „Jetzt kommt erst mal rein! Die Leute hören doch alles!“ Die Mutter schob den Vater ins Wohnzimmer. Alwina nahm sie bei der Hand und führte sie ebenfalls ins Wohnzimmer.

      „Das ist eine Todsünde!“ Der Vater brüllte und brüllte. Woher nur wusste er, was sie getan hatte? Alwina stand mitten im Wohnzimmer. Ihre Ohren klingelten. Dann sah sie den ersten Speicheltropfen fliegen. Sie folgte seinem Flug mit den Augen. Er machte einen großen Bogen und landete auf der Armlehne des braunen Ledersofas. Dort versickerte er im Leder. Es folgte der zweite Tropfen. Er flog viel flacher als der erste. Im geraden Flug prallte der Tropfen gegen die Wohnzimmerscheibe. Der dritte Tropfen sank zu Boden. Der Teppich war sein Landeplatz.

      Sie war einmal mit