Patrick Fiedel

Leon und der magische Kristall


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      „Ich kann nicht. Heute schaffe ich Level 23, ich weiß es.“

      ‚Dingdong.‘

      „Ben, gehst du jetzt bitte zur Tür?“, erwidert seine Mama nun etwas bestimmter.

      „Gleich habe ich es, jetzt nur noch, ja, hier noch und …“

      ‚Dingdong.‘

      „Verdammt. Game Over. So ein Mist. Dem werde ich was erzählen an der Tür.“

      ‚Dingdong.‘

      Ben schnappt sich eine Handvoll Kekse aus der Verpackung auf seinem Schoß und schiebt sie sich in den Mund. Dann quält er sich aus seinem gemütlichen Sessel, legt den Controller zur Seite und geht zur Tür. Bewaffnet mit schlechter Laune und vor sich hin schimpfend wackelt er über den Flur. Ben holt tief Luft, drückt die Klinke der Haustür nach unten und ist bereit, dem Störer seiner kostbaren Computerzeit ein nie dagewesenes Meckergewitter um die Ohren zu schmettern, kommt aber nicht einmal zum ersten Wort.

      „Ben. Wieso hat das so lange gedauert? Saßt du auf dem Klo?“, fragt ihn Leon aufgeregt und grinsend.

      „Waff iff denn lof?“, erwidert Ben mit dem Mund voller Kekskrümel.

      „Warum hat das so lange gedauert?“, will Leon wissen.

      Ben, der sich mittlerweile beruhigt und die restlichen Krümel aufgegessen hat, antwortet: „Level 23, mein Lieber. Ich war so nah dran.“

      „Und, hast du es geschafft?“, fragt Leon erstaunt.

      „Haha, sehr witzig. Wer hat denn gerade geklingelt und geklingelt, hm?“, erwidert Ben mit finsterer Miene.

      „Was gibt es denn?“, fragt er seinen besten Freund.

      „Nicht hier. Es gibt Neuigkeiten. Wir müssen Finn noch abholen und zu Herrn Tarius fahren. Meine Schwester kommt auch hin“, antwortet Leon schnell.

      „Alles klar. Ich beeile mich“, reagiert Ben freudig und ohne nachzufragen.

      Wenn sie zu ihrem Lehrer wollen und Leon so aufgeregt ist, dann kann das nur etwas Tolles bedeuten und mit ihrem gemeinsamen Geheimnis zu tun haben.

      „Brauchen wir Verpflegung? Ach, was solls. Ich packe einfach etwas ein“, spricht Ben und sucht einige süße Vorräte zusammen.

      Kurze Zeit später stehen beide vor der Haustür. Ben ist etwas größer als Leon und seitdem sie denken können, sind sie beste Freunde. Ben ist nicht nur etwas größer als Leon, er ist auch etwas dicker. Er sagt oft, dass er schwere Knochen habe und dass natürlich das Wachstum daran schuld sei, dass er etwas dicker ist aber im Grunde wissen beide, dass sein Gewicht vom vielen Naschen kommt. Ben setzt sich seinen Helm auf und nur die Spitzen seiner kurzen braunen Haare stehen noch hervor. Er schwingt, etwas angestrengt, sein rechtes Bein über den hellbraunen Sattel seines nigelnagelneuen hellblauen Fahrrades.

      „Es kann losgehen, Leon“, ruft er entschlossen.

      Leon setzt sich seinen Schutzhelm auf, richtet ihn und zieht seine Handschuhe fest, dann platziert er sein Longboard auf der Straße, stellt seinen rechten Fuß auf das Board und pusht mit dem linken Bein so kräftig, dass er in wenigen Sekunden ordentlich schnell wird und dann die lange Straße hinunterrollt. Ben fährt hinter ihm her und muss kräftig in die Pedale treten, damit er den Anschluss nicht verliert. Die Jungs fahren vorbei an kleinen und großen Einfamilienhäusern mit grünen Vorgärten. Hier und da sieht man einige Erwachsene beim Laubharken oder auch beim Heckeschneiden. Gelegentlich hört man ein leises ‚pf, pf, pf‘ der wasserspuckenden Rasensprenger. Dann geht die Straße in eine lange Kurve. Sie kommen an einem großen gelben Haus vorbei. Eine junge Frau steht mit ihrem Laubbläser in der Einfahrt und macht so viel Wind, dass Leon und Ben die Blätter um die Ohren fliegen.

      „Entschuldigung“, ruft sie noch laut hinterher, aber die Jungs sind schon vorbeigefahren.

      Vorsichtig geht Leon tiefer in die Hocke und lehnt sich nach rechts. Er drückt sein Board in die Kurve. Sein rechter Schutzhandschuh berührt dabei den Boden und gibt ihm einen stabilen Halt. Dann geht es wieder geradeaus und Leon nimmt seine nach vorn gebeugte Skispringerhaltung an. Seine Arme verschränkt er dabei hinter dem Rücken. Der Fahrtwind bläst seinen warmen Atem in die Augen der Jungs. Leon rauscht durch eine von Kastanien umgebene Straße, vorbei an den mit Laub bekleckerten parkenden Autos. Ben kommt von hinten angeradelt und ist jetzt direkt neben Leon.

      „Wollen wir tauschen?“, fragt Ben seinen Freund und blickt dabei freudig auf das rasant schnelle Longboard.

      „Na gut“, antwortet Leon etwas skeptisch und bremst ab. „Sei aber vorsichtig! Du weißt, was beim letzten Versuch passiert ist.“

      „Ich passe schon auf“, reagiert Ben und schwingt sich prompt auf das Longboard.

      „Bahn frei. Ich komme“, ruft er lauthals und Leon kann nur mit dem Kopf schütteln.

      Sie überqueren einen verwaisten Fußgängerüberweg und fahren dann schnurgerade auf den Park zu. Ein glatt asphaltierter Rad- und Fußweg schlängelt sich durch den Stadtpark. Die Blätter der Bäume schimmern in den schönsten Farben und einige Kinder stürzen sich unter lautem Lachen in bunte Laubberge. Ben und Leon kommen am kleinen Teich vorbei und können dabei beobachten, wie ein paar ausgewachsene Wildenten gackernd über das Wasser schwimmen.

      „Vorsicht“, ruft Leon seinem Freund laut zu, „da vorn sind Fußgänger.“

      Ben fährt vor Leon und die beiden Jungs rasen an einer Gruppe älterer Damen vorbei.

      „Guten Tag, die Damen“, sagt Ben freundlich, kann aber nicht verhindern, dass diese leicht erschrecken.

      Leon sieht beim kurzen Umdrehen noch, dass eine der sechs Damen ihnen etwas hinterherruft und mit ihrem Spazierstock winkt, aber für ein „Guten Tag“ ist es nun doch zu spät, denkt er sich.

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      Leon liebt es, am Wochenende die Wege und Parkanlagen entlangzufahren. Auf den Straßen sind so gut wie keine Autos unterwegs und wenn die Sonne scheint, dann vergisst er in solchen Momenten die Schule und die vielen Hausaufgaben, die er manchmal machen muss. Am Ende des Parks müssen die Jungs leider anhalten. Ben setzt seinen linken Fuß auf den Boden und bremst das Longboard so langsam ab. Leon steigt gemächlich von dem Fahrrad ab und die beiden Freunde verlassen die Ruheoase über einen von der Ampel grün beleuchteten Fußgängerüberweg.

      „Du hast doch heimlich geübt?“, fragt Leon seinen Freund.

      „Nur auf der Spielkonsole“, antwortet Ben grinsend und gibt Leon sein Longboard zurück.

      Sie sind jetzt im kleinen Stadtzentrum und laufen auf dem holprigen Fußweg am Spielzeuggeschäft vorbei, in dessen Schaufenster die neusten Spielzeuge thronen. Ben und Leon bleiben kurz stehen und begutachten die blinkende Auswahl, dann gehen sie weiter. Vorbei am Bücherladen und dem Bäcker mit den großen Buchstaben über dem Eingang.

       „Hm, das riecht so gut“, sagt Ben, während er seine Nase in die Luft hält und wie ein Fährtenhund schnuppert. „Das sind Pfannkuchen, ja, Pfannkuchen.“

      Leon rollt nur leicht mit den Augen und schiebt seinen Freund schnell am Bäcker vorbei. Dann, kurz bevor es um die Ecke geht, müssen sie noch am Plattenladen vorbei, aus dem schon von Weitem Musik nach außen schallt. Sie kommen näher und dann kann Leon ihn hören. Den Klang des Herzschmerzentsetzens, die Musik des Weltuntergangs. Ein Schmalzangriff auf seine Ohren. Hat er heute Morgen noch seine Familie davor retten können, dudeln die gefährlichen Klänge schon wieder in seine Lauscher. Schnell geht er mit seinem Longboard unter dem Arm am großen Schaufenster vorbei und versucht, den schnulzigen Tönen auszuweichen. Er wirft einen schnellen Blick in das Geschäft und kann nur kurz sehen, wie ein älterer Verkäufer mit langem Pferdeschwanz zur Musik mitwippt und ein junges Mädchen einen roten Kopfhörer ausprobiert. Sie blickt dabei kurz zur Tür und Leon sieht ihr zufällig in die Augen. Warum er dabei plötzlich blöd grinsen