Erich Szelersky

Alte Rechnung


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kam ich wieder zu Bewusstsein. In meinem Kopf hämmerte es, als ob ein Schnellzug über die Gleise von Malmö nach Stockholm rasen würde. Alles drehte sich vor meinen Augen. Wo war ich? Was war geschehen? Verschwommene Fragmente einer Erinnerung geisterten in meinem Gehirn umher. Ich lag auf dem Rücken und konnte mich nicht rühren. In meinem Handrücken steckte eine Nadel mit dem Schlauch für eine Infusion. Als ich mich ein wenig auf die Seite drehen wollte durchzuckte ein stechender Schmerz meinen linken Arm. Vor meinen Augen lag ein trüber Schleier, durch den das kalkweiße Licht einer Lampe schien. Köpfe waren über mich gebeugt. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Ich schloss die Augen und drehte meinen Kopf vorsichtig zur Seite.

      Wie lange mochte ich hier schon liegen? Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, aber so sehr ich mich auch anstrengte, irgendetwas blockierte mein Gehirn. Ich wusste nicht, wo ich war, und es fiel mir auch nicht ein, wie ich an diesen Ort gekommen war.

      »Herr Jonsson; hören Sie mich?« Jonsson; das war ich. Lennart Jonsson, schwedischer Staatsbürger, siebzig Jahre alt. Irritiert nickte ich mit dem Kopf, ließ es aber sofort wieder, weil mir der Kopf zu platzen drohte.

      »Herr Jonsson; Können Sie mich hören und sehen?«

      Vorsichtig öffnete ich die Augen. Der milchige Schleier verstellte mir den klaren Blick auf die Person, die mich angesprochen hatte.

      Eine Hand winkte hinter dem Milchschleier vor meinen Augen herum. Mit größter Mühe versuchte ich zu antworten, doch es kam nur ein gequältes Ja aus mir heraus.

      Aus dem einen Kopf wurden langsam mehrere, und alle starrten mich an.

      »Wo bin ich?«

      Die Köpfe kümmerten sich nicht um meine Frage.

      »Sie können mich hören, Herr Jonsson. Können Sie mich auch sehen?«

      »Ja. Wo bin ich?«

      »Im Krankenhaus. Wir kümmern uns um Sie. Machen Sie sich keine Sorgen.«

      »Warum bin ich hier?«

      »Sie hatten einen Unfall, Herr Jonsson.«

      »Einen Unfall?«

      »Ja, einen Unfall.«

      »Was für einen Unfall?« Ich war verwirrt. Mit der Hand, in der keine Nadel steckte, rieb ich mir über die Augen.

      »Ich kann nicht richtig sehen?«

      »Das kommt schon noch. Sie haben lange geschlafen.«

      »Warum?«

      »Das besprechen wir später. Schlafen Sie jetzt wieder. Wir kommen wieder, und dann geht es Ihnen bestimmt schon wieder besser.«

      Düsseldorf-Oberkassel

      Penthaus 8. August 2010

      Er hatte es geschafft. Helmut Sikorra stand auf der Terrasse seines Penthauses in Düsseldorf-Oberkassel und schaute über den Rhein auf die Silhouette der Düsseldorfer Altstadt. Er liebte es, sonntags morgens auf die noch verschlafene Altstadt zu schauen und den Glocken von St. Andreas, St. Maximilian oder der sich vor den Touristen etwas verschämt versteckenden Neanderkirche zuzuhören.

      Besonders liebte er die Neanderkirche. In ihr wurde er konfirmiert, hier wurden seine beiden Kinder getauft, und in ihr hatte er seine große Jugendliebe geheiratet. Das war vor achtunddreißig Jahren; lange her. Er hätte sich gewünscht, dass seine in dieser Kirche geschlossene Ehe unter einem glücklicheren Stern gestanden hätte, aber das hatte sie nicht.

      Helmut Sikorra engagierte sich im Freundeskreis für Musik in der Kirche. Für den Erhalt der Barockkirche, die von evangelischen Christen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts errichtet worden war, und für die musikalischen Veranstaltungen, die in ihr stattfanden, spendete er viel Geld. Sikorra war nicht sehr religiös, aber für ihn war dies ein Beitrag, dass sich das künstlerische Leben in der Stadt auch im Umfeld dieser Kirche weiter entwickelte.

      Hätte man ihn gefragt, was ihm an der Neanderkirche so sehr gefiel, wäre Helmut Sikorra vielleicht die Antwort schuldig geblieben, doch wer ihn kannte wusste, dass es die, für eine in der Blütezeit des Barock entstandene Kirche, ungewöhnliche Schlichtheit war, die ihm gefiel.

      Es entsprach seinem Naturell, nicht mit Wohlstand zu protzen, und deshalb liebte er diese kleine Kirche, die vor mehr als dreihundert Jahren nur in einem Innenhof gebaut werden durfte, weil der römisch-katholische Landesherr eine protestantische Kirche versteckt wissen wollte.

      Erst die Zerstörungen des zweiten Weltkrieges haben die Kirche stärker ins Blickfeld der Menschen gerückt. Wie durch ein Wunder hatte sie den Krieg annähernd unbeschadet überstanden, während die sie umgebenden Häuser dem Bombenhagel zum Opfer gefallen waren.

      Als die Glocken verklungen waren, ging Helmut Sikorra zurück in seine Wohnung und begann den Tag. Seit sieben Jahren war er ein vermögender Pensionär. Vorher war er ein vermögender Manager gewesen, bis er seinen Vertrag als Vorstand eines internationalen Konzerns nicht mehr verlängerte. Für viele war es unverständlich, dass er seinen gut dotierten Job aufgab, obwohl der Vertrag erneut verlängert werden sollte. Sikorra hat über die Motive für seine Entscheidung nie gesprochen. Eine große Verabschiedungszeremonie lehnte er ab. Von seinen engsten Mitarbeitern verabschiedete er sich persönlich, und in einer Videobotschaft an die Belegschaft gab er sein Ausscheiden aus dem Unternehmen, das er als das weltweit beste, innovativste und zukunftsorientierteste der IT-Branche bezeichnete, bekannt. Als er am Ende seiner kurzen Rede erklärte, mit ruhigem Gewissen in den Ruhestand zu gehen, weil er die UniTec in den Händen der Besten ihres Faches wisse, jubelten ihm Tausende Mitarbeiter in der ganzen Welt zu, die seine Abschiedsworte auf riesigen Videowänden mit verfolgten.

      Mit seiner neu gewonnenen Freiheit ging Helmut Sikorra sehr bewusst um. Er kümmerte sich um seine Hobbies und versuchte, das zerrüttete Verhältnis zu seinen Töchtern in Ordnung zu bringen.

      Er hatte alles, was er brauchte. Geld, ein Haus in einer der besten Lagen Düsseldorfs, ein Anwesen in den Bergen oberhalb eines der schönsten Skigebiete Österreichs, einen eigenen Hubschrauber, den er selbst flog, seit er vor acht Jahren die Lizenz erworben hatte, und ein Liebesverhältnis mit einer fünfundzwanzig Jahre jüngeren Frau, das so lange völlig unproblematisch für ihn war, solange er sie mehr mit seiner finanziellen Großzügigkeit als mit seiner Warmherzigkeit bediente. Das lag ihm auch näher, denn warmherzig war er nicht. Helmut Sikorra brauchte keine Zuneigung, und er verbreitete auch keine Wärme.

      Seine Frau hatte ihr Leben lang darunter gelitten, dass er sich für sie nur am Rande interessierte, und seine beiden Töchter machten sich bald nach dem Abitur aus dem Staub. Eine studierte an der Sorbonne in Paris, die andere lebte im Sommer an der Cote d`Azur und im Winter in St. Moritz. Keiner wusste so recht, womit sie ihr Geld verdiente. Es hieß, sie sei eine erfolgreiche Geschäftsfrau.

      Helmut Sikorra war viel unterwegs gewesen. Es hatte ihn nicht gestört, wenn er wochenlang von seiner Familie nichts hörte. Er ging auf eine Geschäftsreise und kam irgendwann wieder zurück. Anfangs hatte seine Frau ihn noch gefragt, wann er denn voraussichtlich wieder zurück wäre. Als er darauf unbestimmt antwortete und sich nie an einen möglichen Termin hielt, wurde ihr klar, dass er ihr nicht sagen wollte, wann er wieder zurück sein würde. Helmut Sikorra hielt dieses Verhalten für einen Teil seiner persönlichen Freiheit.

      Jetzt, nach seiner Pensionierung, wenn er auf der Terrasse stand und über den Rhein den Glocken zuhörte, kamen ihm manchmal Zweifel, er könnte vielleicht auf einen wesentlichen Teil seines Lebens leichtfertig verzichtet haben. Meistens schüttelte er sich dann, so als wollte er diesen Anflug von Sentimentalität abschütteln. Er hasste diese Gefühle. Sie waren für ihn ein Zeichen von Schwäche, und wenn Helmut Sikorra etwas hasste, dann war es Schwäche. Sein Leben lang hatte er sich nach oben geboxt. Dazu bedurfte es neben geistiger Flexibilität und eloquentem Umgang Disziplin und erbarmungsloser Härte. Sikorra glaubte daran. Sein Leben lang folgte er dieser Überzeugung, denn nach seiner Vorstellung konnte man ohne diese Eigenschaften keine Karriere machen.

      Erst im Alter,