Erich Szelersky

Alte Rechnung


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keinen Kontakt mehr.«

      Münster

      4. Dezember 2010

      »Es ist Zeit, Herr Wittenberg«, sagte der Chauffeur.

      »Ja, Bernhard, ich komme. Sagen Sie schon einmal meiner Frau Bescheid, dass ich gleich los muss.«

      Siegmund Wittenberg saß an seinem Schreibtisch in der ersten Etage seines Hauses in Münster-Wilkinghege, nicht weit entfernt von dem gleichnamigen Schloss. Das Haus gehörte der Familie seiner Frau Gerda Schulte-Terlinden-Wittenberg in der sechsten Generation, ebenso wie alles drum herum, was weit und breit zu sehen war. Zweihundertfünfzig Hektar gutes Ackerland. Eine eingesessene, allseits geachtete und manchmal auch ein wenig, wenn auch nur heimlich, beneidete Familie.

      Siegmund Wittenberg hatte Gerda an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelm-Universität in Münster kennengelernt.

      Sie war die bezauberndste Tänzerin auf dem Semesterball 1972. Er hatte sich sofort in sie verliebt, und auch sie zögerte nicht, Ja zu sagen, als er sie zu Weihnachten 1973 fragte, ob sie seine Frau werden wolle. Später hatte er sich manchmal gefragt, ob er sie auch geheiratet hätte, wenn sie nicht aus dem Hause der Schulte-Terlinden gekommen wäre. Sie liebte ihn und zeigte für alle seine Marotten Verständnis, und in ihrer Bodenständigkeit war sie ihm sogar sehr liebenswert, aber mit der Zeit stumpfte er immer mehr ab, wenn er sie sah, und begab sich immer wieder in Affären mit anderen Frauen. Ihr Leben verlief nach einigen Jahren Ehe wie bei vielen anderen auch. Jeder erledigte seine Aufgaben, doch ansonsten lebten beide weitestgehend nebeneinander her. Nur manchmal kam das alte Feuer wieder auf. Dann verschlug es ihm die Sprache, wenn sie mit einem Lächeln in ihrer unnachahmlichen Art ihren westfälischen Dickschädel durchsetzte.

      Gerda hatte ihm immer den Rücken für seine vielfältigen Aktivitäten freigehalten und sich ganz besonders um die beiden Söhne und das Haus gekümmert.

      Als auch sie spürte, dass die Ehe in den alltäglichen Kleinigkeiten erstickte und mit Siegmund über die gesellschaftlichen Verpflichtungen hinaus keine weiteren gemeinsamen Erlebnisse zu erwarten sein würden, konzentrierte sie ihr Engagement auf soziale Themen.

      Angeregt von einer Freundin gründete sie einen Verein, der sich zum Ziel setzte, Waisenkinder an Pflegeeltern zu vermitteln oder Adoptiveltern zu finden. Eine schwierige Aufgabe, zu der eins zum anderen kam. Sponsoren mussten gefunden werden, die immer größer werdende Verwaltung musste gemanagt werden, und die Probleme bei der Integration von Kindern, die über Jahre nur das Heimleben kennengelernt hatten, in Pflegefamilien waren immens. Dank der großzügigen Unterstützung der Heime durch ihren Verein wurden die Lebensverhältnisse dort so familiär wie nur eben möglich gestaltet, und Gerda Schulte–Terlinden-Wittenberg investierte viel Zeit und große Mühe in dieses soziale Projekt, das bald schon über die Grenzen Westfalens bekannt wurde. Ihr Mann unterstützte sie und erkannte ihre Leistungen an. Als sie eine Einladung zu einer im Fernsehen populären Gesprächsrunde bekam, freute er sich mit ihr, und in diesem schon längst verloren geglaubten Gefühl der Gemeinsamkeit hatten sie nach langer Zeit wieder einmal miteinander geschlafen.

      Sie neigte etwas zur Korpulenz, aber auch Siegmund sah man als jungem Mann schon an, dass er später wahrscheinlich einmal dick werden würde.

      Siegmund Wittenberg kam aus einer katholischen Familie und war in Ostwestfalen aufgewachsen. Er bestach auch Gerda´s Eltern mit seinen guten Manieren, die er zweifellos besaß, die er allerdings ebenso schnell vergaß wie er sie mit seinem einnehmenden Charme einsetzen konnte. Er hatte das, was man eine gute Erziehung nennt, auch wenn er sie meistens nur denjenigen zeigte, die er mochte oder die er brauchte.

      Siegmund Wittenberg passte gut in die Familie Schulte-Terlinden. Ebenso wie seine Schwiegereltern verstand er es, soziales Handeln und seine Pflichten als guter Katholik mit seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen in hervorragender Weise zu verbinden.

      Gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Schwiegereltern besuchte er allerdings die Akademie für Land- und Forstwirtschaft nicht. Er wollte sich nicht zu sehr in die landwirtschaftlichen Betriebe der Familie seiner Frau einbinden lassen. In das gesellschaftliche Umfeld der Schulte-Terlindens im Münsteraner Establishment ließ er sich jedoch gerne integrieren.

      Das Haus, in dem Gerda Schulte-Terlinden-Wittenberg, so nannte sie sich nach ihrer Heirat, und Siegmund Wittenberg lebten, hatten sie auf dem Grundstück des Stammhofes gebaut. Mit viel Liebe zum Detail und großer Verbundenheit mit der Tradition der Familie bauten sie in den ersten Jahren ihrer Ehe das unter Denkmalschutz stehende Bauernhaus zu einem repräsentativen Herrenhaus um.

      Urkundlich erwähnt wurde der Hof zum ersten Mal im siebzehnten Jahrhundert, als ein Gotthold Terlinden ihn erwarb. Zu dieser Zeit war er noch erheblich kleiner als heute; aber nach und nach kam immer etwas dazu, und die Schulte-Terlindens waren auch darauf bedacht, das, was sie besaßen, zu erhalten und wenn es ging, zu vermehren. Geschickte Heiraten vermehrten den Besitz; und wenn es galt, bei in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen Nachbarn zuzugreifen, zögerten sie nicht. Natürlich halfen sie auch, wie es die Christenpflicht forderte; aber auch als Christ war man nicht verpflichtet, sein eigen Hab´ und Gut zu riskieren. Die Familie Schulte-Terlinden verstand es trefflich, ihre Pflichten als gute Katholiken mit den eigenen Interessen zu verbinden.

      Siegmund Wittenberg fügte sich in die wirtschaftlichen Aktivitäten der Familie ein, und dabei bewies er viel Geschick, was ihm die Hochachtung seiner Schwiegereltern einbrachte und eine gewisse Toleranz bei seinen Eskapaden. Zwischen Siegmund und seinem Schwiegervater bestand die stille Übereinkunft, dass er großzügig die Augen verschloss, so lange Siegmund einen gesellschaftlichen Skandal vermied.

      Wittenberg stand von seinem Schreibtisch auf und ging die Treppe hinunter zur Haustür. An den Wänden hingen seine Jagdtrophäen. Er war ein passionierter Jäger. Unten erwartete ihn Gerda. Seit siebenunddreißig Jahren waren sie inzwischen verheiratet. Auf seine Art liebte Siegmund sie, obwohl er schon seit fast zehn Jahren eine Freundin hatte.

      Sie war deutlich jünger als er, geschieden und sehr realistisch. Kennengelernt hatten sie sich auf einer Tagung. Ihr gefiel der Hauptredner des Abends, vielleicht imponierte er ihr auch mehr. Jedenfalls ließ sie sich auf ihn ein, und er fühlte sich geschmeichelt, bei einer jüngeren und dabei auch noch attraktiven Frau Erfolg zu haben. Es war ihr völlig klar, dass Wittenberg sie niemals heiraten würde. Das ging schon deshalb nicht, weil eine Scheidung von Gerda Schulte-Terlinden-Wittenberg völlig ausgeschlossen war. Es wäre ein gesellschaftlicher Skandal im konservativen Münster gewesen, und den scheute Siegmund Wittenberg am meisten.

      Eine Schlagzeile

      »Scheidung wegen einer Jüngeren!

      Siegmund Wittenberg trennt sich nach siebenunddreißig Jahren Ehe von seiner Frau Gerda Schulte-Terlinden«

      in den Westfälischen Nachrichten wäre sein Ruin gewesen, zumindest hätte sie seine Ächtung in der Gesellschaft zur Folge gehabt. Er war nicht der einzige im katholischen westfälischen Kernland, der es mit ehelicher Treue nicht so genau nahm, doch gerade in einem solchen Umfeld katholischer Moral, in dem der Schein gewahrt bleiben muss, weil er mehr wert war als die Lebensbedürfnisse der Menschen, wäre sein Leben nach einer Scheidung zerstört gewesen.

      Gerda wusste von dem Verhältnis. Sich anderen anzuvertrauen, dazu war sie zu stolz. Also nahm sie es so hin und hoffte darauf, dass der Spuk bald vorüberging. Inzwischen hoffte sie schon zehn Jahre.

      »Du siehst bezaubernd aus.« Wittenberg strahlte seine Frau an. Sie hakte sich bei ihm ein und ging mit ihm zum Auto, das Bernhard vorgefahren hatte. Er hielt Wittenberg die Türe auf, damit er einsteigen konnte. Siegmund Wittenberg setzte sich an das Steuer. Heute würde er selbst fahren. Er ließ den Motor an und winkte Gerda durch das Fenster kurz zu.

      »Ich bin spätestens am Mittwoch wieder zurück.«

      Königstein / Taunus

      Autobahnraststätte, 4. Dezember 2010

      Reinhard Saatkamp nahm Herbert Rensing in den