Erich Szelersky

Alte Rechnung


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Methoden unterstellte, überkamen ihn schon mal Zweifel. Meistens geschah dies, wenn ihm ohne irgendeinen besonderen Anlass Geschehnisse einfielen, die er schon längst verdrängt hatte. Dann konnte es auch schon einmal vorkommen, dass er Mitleid für seine Frau empfand.

      Für Frau Sikorra entwickelte sich das Leben mit Helmut Sikorra zu einer Qual. Sie hatte Helmut einmal sehr geliebt. Sie mochte seine direkte Art, seinen Humor, seine lebensbejahende Fröhlichkeit, und sie bewunderte sein Durchsetzungsvermögen. Es gab nie eine Situation, in der sie Angst hatte, wenn er in ihrer Nähe war; aber im Laufe der Jahre ihrer Ehe änderte sich ihre Einstellung zu ihm. Er vernachlässigte sie immer mehr, und das merkte sie.

      Sie suchte nach einem Ausgleich, wenn er unterwegs war, und das kam immer häufiger vor. Ein guter Freund half ihr, wieder als Fotografin zu arbeiten, und sie war recht erfolgreich. Sie richtete sich ein Atelier ein. Geld war vorhanden, und Helmut war nicht geizig, doch alle Bemühungen, ihn für ihre Arbeit zu interessieren, blieben erfolglos. Helmut Sikorra lehnte sie und ihre Leistungen nicht ab. Es war für sie schlimmer. Er ignorierte sie einfach.

      Helmut Sikorra war nach der Fusion der MicroData mit der Global Technologies zum Vorstand der neuen United Technologies aufgestiegen, einem international tätigen Technologiekonzern. Dieser Job forderte ihn und erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit. Es kam für sie auch nicht überraschend, dass er ihr eines Tages eröffnete, auszuziehen, und eine Wohnung in Düsseldorf zu nehmen. Sie nahm das zur Kenntnis. Was blieb ihr auch anderes übrig, doch insgeheim litt sie sehr darunter, dass ihre Ehe gescheitert war. Immer öfter tröstete sie sich mit Alkohol. Sikorra blieb dies nicht verborgen, doch je mehr sie trank desto mehr stieß sie ihn ab, und desto weiter entfernte er sich von ihr. Als dann die Töchter das Haus in Bad Homburg verließen, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch und verbrachte mehrere Wochen in der Klinik.

      Nach ihrer Entlassung arbeitete sie eine Zeit lang als freie Fotoreporterin. Dies wurde ihr aber nach einer Weile zu uninteressant. Sie wollte nicht länger auf den Schuss eines Fotos warten, das es auf die Titelseiten der internationalen Magazine schaffte und sie mit einem Schlag berühmt machen würde. Ein solches Foto könnte sie über Nacht wohlhabend machen und ihr damit die finanzielle Unabhängigkeit von ihrem Ehemann bringen, doch sie gab diese Art von Fotografie auf und wurde wieder künstlerisch tätig.

      Ihre Arbeit lenkte sie von ihren Sorgen ab, und ein Jugendfreund bestärkte sie in ihrem Schaffen.

      Zwei Jahre später bekam sie ihre erste Fotoausstellung. In ihrer ersten Freude schickte sie Helmut eine Einladung.

      Am Tag der Eröffnung war sie sehr nervös. Ihre Gedanken kreisten darum, ob Helmut käme. Sie hoffte darauf, denn die öffentliche Anerkennung war ihr nicht so wichtig wie die persönliche Meinung ihres Mannes. Die Ausstellung war ein Riesenerfolg. Die Presse überschlug sich in ihrem Lob. Sie wurde gefeiert; aber Helmut war nicht gekommen.

      Noch in der Nacht ihres bis dahin größten Erfolges und zugleich auch ihrer schlimmsten Enttäuschung entschloss sie sich, neu anzufangen. Als sie die Scheidung einreichte, akzeptierte er ausdruckslos ihre Bedingungen. Wahrscheinlich hatte er mit größeren finanziellen Forderungen gerechnet, doch für so etwas war sie sich zu schade. Und sie brauchte seine finanzielle Unterstützung bald auch nicht mehr. Sie hatte sich von ihm abgenabelt; in jeder Beziehung.

      Helmut Sikorra trank einen Espresso. Alte Geschichten fielen ihm wieder ein. Vor allem dachte er an die Menschen aus seiner Zeit bei MicroData. Damals, vor mehr als zwanzig Jahren, noch lange vor der Fusion, als sie noch alle zusammen bei der MicroData waren, hatten sie eine sehr erfolgreiche Zeit gehabt. Und eine sehr schöne. Sie waren alle Direktoren und hatten die Welt unter sich aufgeteilt.

      Herbert Rensing war zuständig für Deutschland, Österreich und die Schweiz, sowie für Osteuropa.

      Reinhard Saatkampf für Mittel- und Südamerika,

      Siegmund Wittenberg kümmerte sich um Frankreich, Be Ne Lux und Südeuropa sowie Südafrika.

      Der Schwede Lennart Jonsson verantwortete Skandinavien, Finnland, United Kingdom, Kanada und die USA.

      Sein eigener Verantwortungsbereich umfasste den mittleren Osten, Südostasien, China, Japan, Australien und Russland.

      Mit von der Partie war noch Dr. Viktor Theißen, der Leiter der Entwicklung.

      »War eine geile Zeit«, dachte er, ich sollte die Jungs mal wieder einladen. Vielleicht auf die Hütte. So wie früher, als wir dort immer die Jahresplanung gemacht haben.

      Innsbruck

      Tiroler Landeskrankenanstalten, 12. Dezember 2010

      Als ich wieder erwachte erkannte ich das spärliche Licht der Deckenlampen der Intensivstation des Krankenhauses in Innsbruck. Ich schaute mich um und suchte eine Uhr, fand aber keine. Es ist angsteinflößend, weder die Uhrzeit noch den aktuellen Wochentag zu kennen. Wie lange mochte ich hier schon gelegen haben? Zwei, drei Stunden; einen Tag; länger? Um mich herum standen Apparaturen. Auf einem Bildschirm konnte ich die rhythmischen Bewegungen meiner Herzstromkurve erkennen. Mein Herz schlug, also lebte ich noch.

      Vorsichtig richtete ich mich ein wenig auf. Draußen schneite es nicht mehr. Durst quälte mich. Meine Zunge drohte mir am Gaumen festzukleben. Es musste doch hier irgendwo eine Klingel geben, mit der ich jemanden rufen konnte, der mich von meiner Qual befreite. Ich suchte nach dem Hilfe bringenden Knopf. Vergebens, es gab keinen Knopf. Ich ergab mich in mein Schicksal.

      Wenn man hilflos irgendwo liegt, verliert man das Gefühl für die Zeit. Ich hatte den Eindruck, es müssten zwischenzeitlich Stunden vergangen sein, als sich die Türe öffnete und eine junge Frau herein kam.

      »Hallo Herr Jonsson. Ausgeschlafen?« Ich schaute sie verständnislos an.

      »Ich bin Schwester Andrea. Wie geht es Ihnen?«

      »Ich habe Durst.« Die Schwester brachte mir ein Glas mit Wasser. Sie hob meinen Kopf und hielt mir das Glas an den Mund. Ich trank in hastigen Schlucken.

      »Sie haben großes Glück gehabt, Herr Jonsson. Zwei, drei Stunden länger, und Sie wären erfroren.« Ich legte den Kopf zurück auf das Kopfkissen.

      »Wo?«

      »Wissen Sie nicht, was Ihnen passiert ist?«

      »Nein.« Ich griff nach dem Glas, das Schwester Andrea noch in ihren Händen hielt. Es kam mir viel schwerer als früher vor. Als ich das Glas zum Mund führen wollte, zitterte ich und vergoss etwas Wasser.

      »Dr. Bichler wird sich gleich um Sie kümmern. Dann sehen wir weiter.« Sie nahm mir das Glas aus der Hand und verließ das Zimmer. Kurz darauf trat der Arzt ein.

      »Hallo Herr Jonsson. Ich bin Dr. Bichler. Wie fühlen Sie sich?« Mir war nicht danach, mit dem Arzt große Gespräche zu führen. Also redete er weiter.

      »Die Gleisarbeiter der Staatsbahn haben Sie gefunden, als sie die Strecke vom Schnee frei räumen wollten. Sie lagen nur ein paar Meter neben den Gleisen.« Die Gleise, richtig. Ich hatte die Gleise gesehen und entschieden, ihnen zu folgen. Irgendwo würden sie mich zu einem Ort bringen, an dem ich Hilfe bekäme. Der Arzt bemerkte, dass ich mich zu erinnern versuchte.

      »Sie haben großes Glück gehabt.«

      »Ich war schon fast unten, oder?«

      »Ja, fast. Wahrscheinlich haben Sie nur deshalb überlebt, weil Sie aus Ihrer Heimat Skandinavien kalte Temperaturen gewohnt sind. Trotzdem. Wir mussten Ihnen die Zehen des rechten Fußes und zwei vom linken abnehmen.« Mir wurde übel. Der Arzt sah wohl, dass mir die Farbe aus dem Gesicht entschwand und legte seine Hand auf meinen Arm.

      »Es ging nicht anders. Wie gesagt, Sie hatten, als Sie hier eintrafen, sehr starke Unterkühlung und Erfrierungen. Zum Glück waren nur die Zehen nicht mehr zu retten.

      Sie hatten mich im Schnee gefunden. Ganz langsam lichtete sich der Nebel, der mein Gehirn umgab. Der Wildspitzhof, die Schüsse und die Toten. Ich hätte die Einladung nicht annehmen dürfen. Warum ist das alles geschehen? Ich schloss meine Augen. Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Ich