Richard Mackenrodt

Die kleine Insel am Ende der Welt


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bei NBE eine mehrtägige Schulung durchlaufen, und sie beherrschten es perfekt. Simone, die Assistentin, begutachtete die Sonnenbrille des Größeren und stellte fest, dass auch sie über eine integrierte Mini-Kamera verfügte.

      »Na gut, Herr Black, oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen«, sagte Lisa, »ich spreche dann also zu dieser Sonnenbrille. Hier ist Lisa Bürger, Messebau B&B. Es gibt einen guten Grund dafür, dass ich morgen nicht hier sein werde. Meine Teilhaberin heiratet, und weil ich auch ihre beste Freundin bin, muss ich dabei sein. Ich nehme an, das verstehen Sie.«

      Der größere der beiden Männer legte die Hand über den kleinen Knopf, den er im Ohr hatte, um die Außengeräusche besser abzuschirmen. Dann fragte er: »Wann genau wird Frau Buffonacci heiraten?«

      »Mittags«, sagte Lisa.

      »Sie könnten also morgens noch hier vorbeischauen.«

      »Das wäre so«, antwortete Lisa, »wenn die Hochzeit in München stattfinden würde. Oder am Tegernsee. Frau Buffonacci heiratet aber auf einer kleinen sizilianischen Insel.« Während sie das sagte, bekam Lisa das Gefühl, dass mit ihrem rechten Schuh etwas nicht stimmte. Sie blickte hinunter. Einer dieser kleinen, offiziellen Messe-Flyer klebte unter ihrer Fußspitze. Lisa scharrte mit der Sohle ein wenig über den Steinboden, aber das nützte nichts, der Flyer schien wie angetackert zu sein und blieb wo er war.

      Ein paar Kilometer entfernt saß Phillip Schwarz, in einen schwarzen Bademantel gehüllt, auf seiner luxuriösen schwarzen Toilette, und während er sich entleerte und anschließend vollautomatisch gesäubert wurde, ohne einen Finger rühren zu müssen, starrte er auf den in die schwarze Wand eingelassenen 80-Zoll-Bildschirm, auf dem er sehen konnte, wie Lisa Bürger mit dem Stück Papier unter ihrer Fußsohle kämpfte. Er ahnte, von welcher kleinen sizilianischen Insel die Rede gewesen war. Aber er wollte es genau wissen.

      Kathrin Schmidbauer beobachtete, wie sich auf ihrem Bildschirm eine Nachricht vervollständigte. Sie lautete: »Fragen Sie bitte, um welche Insel es sich handelt.« Kathrin sprach in ihr Headset: »Herr Black möchte gerne wissen, von welcher Insel die Rede ist.«

      In der Messehalle lauschte der NBE-Mann, was der Knopf im Ohr ihm übermittelte, dann wiederholte er Kathrins Frage. Lisa wunderte sich darüber, dass ihr unsichtbarer Auftraggeber es so genau wissen wollte, gab aber freundlich Auskunft: »Das entzückende, winzige Eiland hat 400 Einwohner, ist sechs Stunden vom Festland entfernt und heißt Linosa.« Lisas Smartphone begann wieder zu vibrieren, aber diesmal reagierte sie nicht darauf. Wieder scharrte sie mit dem Schuh hin und her. Sie hasste Abreisetage, an denen morgens noch etwas zu erledigen war, und dieser verdammte Flyer unter der Sohle fing an, sie wahnsinnig zu machen.

      Unterdessen blickte Kathrin Schmidtbauer erwartungsvoll auf ihren Monitor. Der kleine Schriftbalken blinkte aber nur vor sich hin, ohne einen neuen Text auszuspucken. Ein Kurier trat mit einer Sendung an Kathrins Schreibtisch und wollte eine Unterschrift von ihr haben. Sie bat ihn mit einer Geste, noch einen Moment zu warten, denn sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, ob ihr Chef noch etwas zu sagen hatte, und wusste, da würde noch etwas kommen. »Herr Black?« sagte sie mit aufforderndem Unterton. Nun fing der kleine Balken endlich an, sich rasch zu bewegen, und es bildete sich eine kurze Nachricht: »Wünschen Sie Frau Bürger eine gute Reise Der Kurier sah interessiert zu, eine solche Art der Kommunikation hatte er noch nicht gesehen.

      Während der große Mann in Schwarz die guten Reisewünsche übermittelte, hielt Lisa ihren rechten Schuh in der Hand und hatte Mühe, den mittlerweile reichlich zerknitterten, schmierigen Flyer zu entfernen. Darunter befand sich der breit getretene Kaugummi, der inzwischen fast die Ausmaße eines Bierdeckels hatte. Sie wandte sich an ihre Leute und fragte, ob jemand ein Teppichmesser hatte, mit dem man den Kaugummi abschaben könnte. Der kleine Mann in Schwarz hielt ihr wortlos ein schwarzes Taschenmesser hin. Lisa nahm es dankend entgegen, amüsiert über das stetige, offensichtliche Bemühen der zwei, immer ganz besonders cool zu wirken.

      »Sie beide«, fragte Lisa lächelnd, »haben Sie eigentlich auch Superkräfte?«

      Die Männer ließen auch diesmal nicht erkennen, wie sie die Frage fanden.

      …… Auf einmal aber spannte der kleinere von beiden seine Armmuskeln an. Der andere tat es ihm gleich. Die Körper der beiden Männer schienen an Volumen zuzunehmen, als würden sie aufgeblasen werden. Die Hemden spannten an den Oberkörpern, bis sie aufzureißen begannen, erst an der Brust und dann auch am Bauch. Die Kragenknöpfe wurden weggesprengt, mitsamt den Krawatten, die durch die Luft segelten. Als nächstes platzten, nahezu gleichzeitig, die Hosen der Männer. Im nächsten Moment rissen sie sich mit wenigen Bewegungen die Kleider vom Leib, und es zeigte sich, dass sie darunter weite, königsblaue Capes trugen, über hautengen purpurroten Superhelden-Anzügen. An den Füßen leuchteten silbern funkelnde Schuhe, und an den Händen außerordentlich lange, gleißend weiße Stulpen-Handschuhe ……

      »Frau Bürger?« Erst die etwas besorgte Stimme ihrer Assistentin zog Lisa wieder zurück in die Realität. Sie schüttelte sich ein wenig, und schon zerplatzte die merkwürdige Vision wie eine Seifenblase im Wind. Die beiden Männer hatten nichts bemerkt, Simone aber schon. Lisa ärgerte sich insgeheim über sich selbst. Sie wusste doch, wie sie auf derart bildreiche Anspielungen reagierte. Lisas Fantasie benötigte nur einen winzigen Anstupser, um in wilder Raserei davon zu galoppieren. Ein Satz oder auch nur ein einziges Wort konnten genügen, und schon war sie in einer anderen Welt. Das Dumme war nur, dass Lisa diese wilden Ritte nicht kontrollieren konnte, so wie gerade eben. Sie fürchtete solche Momente, und deswegen war sie, gerade im Beruf, stets um große Sachlichkeit bemüht. Das mit den Superkräften war ein ganz blöder Ausrutscher gewesen, der sich sofort gerächt hatte.

      In der Zwischenzeit wollte der Kurier von Kathrin Schmidtbauer wissen, was denn mit ihrem Chef nicht stimmte. Konnte er nicht sprechen? War er krank? Oder hässlich wie die Nacht? Hatte sie ihn überhaupt schon einmal gesehen?

      »Niemand im gesamten Unternehmen hat ihn jemals gesehen«, erwiderte sie.

      Während die NBE-Männer den Messestand genauer in Augenschein nahmen, versuchte Lisa mit dem Taschenmesser den Kaugummi von der Schuhsohle zu schaben. Aber er war feucht und glitschig und widersetzte sich ihren Bemühungen. Er zog Fäden und blieb nun auch an der Klinge und an Lisas Fingern kleben.

      »Sie können meine Schuhe haben«, sagte Lisas Assistentin und unterdrückte dabei einen gewissen Ekel. »Ich habe auch Größe 40.«

      Lisa unterbrach ihren Kampf gegen den Kaugummi, sah ihre Mitarbeiterin offen an und sagte mit klarer, freundlicher Stimme: »Simone, nur weil ich Ihre Chefin bin, müssen Sie sich nicht vor mir in den Staub werfen.«

      Simone nickte nervös und ärgerte sich darüber, das Angebot gemacht zu haben. Lisa ihrerseits sah ein, dass eine befriedigende Reinigung der Schuhsohle im Moment nicht zu erreichen war. Sie zog den Schuh wieder an und versuchte mit einem Papiertaschentuch wenigstens das Taschenmesser zu reinigen, was aber genauso aussichtslos war. Der kleinere Mann in Schwarz gab ihr zu verstehen, dass das nicht nötig war. Sie müsse doch schließlich ihr Flugzeug nach Palermo bekommen. Lisa legte das Taschenmesser dankbar auf ein Tischchen, verabschiedete sich und verließ, gefolgt von ihrer Assistentin, zügig die Halle. Dabei fütterte sie ihr Smartphone mit der Nummer von Chiara.

      1.400 Kilometer entfernt erhob sich eine kleine, entzückende Insel aus dem tiefblau glitzernden südlichen Mittelmeer, nicht mehr allzu weit von Tunesien entfernt. Linosa war eine Vulkaninsel, und wäre sie genauso arm an Vegetation gewesen wie ihre größere Nachbarin Lampedusa, so hätte sie dem Auge nicht sonderlich geschmeichelt. Aber das Lavagestein der drei Vulkankrater Monte Vulcano, Monte Rosso und Monte Nero war fruchtbarer Boden, und so wuchsen hier Mastixbäume, Opuntien und ein paar Buscharten, die es nur auf Linosa gab, wie etwa die Valantia Calva, die, zum Überleben entschlossen, ihre Wurzeln in den nackten Fels zu bohren verstand wie keine zweite Pflanze. Deswegen war Linosa, zumindest zum Teil, eine grüne Insel. Zu Zeiten der Römer hatten hier Sklavenhändler und später Piraten gehaust. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Insel dauerhaft besiedelt worden. Der sizilianische König Ferdinand