Richard Mackenrodt

Die kleine Insel am Ende der Welt


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waren fruchtbar und mehrten sich, und so kam es, dass sie nach einigen Jahren nicht mehr in den weit verzweigten Höhlen der Insel leben wollten, sondern sich Häuser bauten und sie bunt anmalten. Von der industriellen Revolution, die auf dem europäischen Kontinent immer mehr um sich griff, bekam Linosa lange Zeit nichts mit. Nur selten liefen Schiffe vom Festland in dem kleinen Hafen ein. Die Weltkriege kamen und gingen, und die meisten Inselbewohner wussten nicht einmal etwas davon. Erst in den 1960er Jahren wurde von Sizilien aus ein Telefonkabel nach Linosa gelegt und eine Schule eröffnet. 1973 bekam die Insel eine Meerwasserentsalzungsanlage. Einige Jahre später fanden die ersten Touristen nach Linosa, und es wurden Pensionen und Zeltplätze eröffnet. Aber der Fremdenverkehr blieb stets sehr überschaubar – die Insel war einfach zu klein, um ihn im großen Stil zu betreiben, und viel zu weit weg vom Festland. Es würde immer unzählige Urlaubsziele geben, die schneller und preiswerter zu erreichen waren.

      Hier war Chiara Buffonacci geboren worden, und hier war sie aufgewachsen, genau wie ihre große Schwester Maria und ihr kleiner Bruder Gaetano. Aber wie alle heranwachsenden Linoser, die es weder zur Landwirtschaft noch zur Gastronomie zog, stellte sich den Schwestern nach dem Ende der Schulzeit ein Problem. Sie wollten studieren, in Rom oder Florenz, aber ihre Eltern wollten sie nicht gehen lassen. Vater Rodolfo, ein Weinbauer, dessen Reben dem felsigen Boden einen erstaunlich guten Wein abtrotzten, verbot seinen Töchtern, die Insel zu verlassen. Hier gehörten sie hin, hier würden sie bleiben, und damit basta. Als Rodolfo begreifen musste, dass die beiden sich nichts mehr verbieten ließen, weil sie jetzt volljährig waren, versuchte er es stattdessen mit dem Druck auf die Tränendrüse: Was sollte denn hier auf der Insel aus ihnen werden ohne die beiden Mädchen? Sie würden vereinsamen und die Weinberge verdorren, und das alles wäre dann einzig und alleine ihre Schuld. Doch Chiara und Maria ließen sich nicht beirren. Sie verwiesen auf ihren Bruder Gaetano, der auf der Insel bleiben und sich um alles kümmern würde. Sie dagegen würden regelmäßig zu Besuch kommen, und alles wäre gut. Rodolfo musste die Mädchen ziehen lassen, auch wenn es ihm das Herz brach, wie er zu betonen nicht müde wurde. Die Schwestern fuhren mit der Fähre nach Porto Empedocle und setzten zum ersten Mal in ihrem Leben den Fuß aufs Festland. Ein Bus brachte sie nach Rom, wo sie sich an der Universität einschrieben. Die lebenslustige Chiara wurde Studentin der economia, was der deutschen Betriebswirtschaftslehre entsprach, und Maria studierte tedesco, also Deutsch. Die ernstere der Buffonacci-Schwestern hatte großes Talent für Sprachen, war die beste Englisch-Schülerin gewesen, die Linosa je gesehen hatte, und nachdem sie sich mit Hilfe von Büchern bereits Spanisch und Französisch beigebracht hatte, war sie entschlossen, sich mit dem Deutschen nun auch die sperrigste und vermutlich uncharmanteste Sprache der ganzen Welt zu eigen zu machen. Sie studierten zwei Jahre lang an der La Sapienza in Rom, bevor Chiara ihre Schwester zu einer Studienreise nach München begleitete. Ein Kommilitone der Ludwig-Maximilians-Universität verliebte sich in Maria und überredete sie, für ein Auslandssemester hier zu bleiben. Chiara wollte sich von der großen Schwester nicht trennen und entschied, dass ein Semester in der Fremde auch ihr nicht schaden konnte. An das erste Semester wurde noch ein zweites angehängt, und nach dem dritten war beiden klar, dass sie in München zu Ende studieren würden. Die schönen, dunkelhaarigen Insulanerinnen waren unzertrennlich. Wollte ein Münchner eine der beiden erobern, musste er sich gut mit der anderen stellen, sonst hatte er schon verspielt. Eine wirklich feste Bindung wollte ohnehin keine der beiden eingehen, denn für sie stand fest, dass sie nach dem Ende ihres Studiums in ihr Heimatland zurückkehren würden. Maria würde auf dem Festland als Sprachenlehrerin arbeiten, und Chiara plante, sich der wirtschaftlichen Zukunft von Linosa zu widmen. Sie wollte, dass die Insel einen größeren, moderneren Hafen bekam und einen Flugplatz, auf dem kleinere Linienflugzeuge landen konnten. Dadurch würden Handel und Tourismus angekurbelt, und damit die ganze Wirtschaft der Insel. Das alles kostete natürlich eine Menge Geld, das die Insel nicht hatte, und deswegen musste jemand ein überzeugendes Konzept erarbeiten, das man auf dem Festland vorlegen konnte. Darin sah Chiara ihre berufliche Bestimmung, ja ihre Mission.

      Aber es kam alles ganz anders. Kurz vor ihrer letzten Prüfung lernte Maria einen Mann kennen, der ein paar Jahre jünger war als sie, eigentlich noch ein Bürschchen. Sie wurde von ihm schwanger, sah in der Affäre aber nicht die geringste Perspektive, und reiste ab. Maria, die sich eigentlich geschworen hatte, nie mehr in Linosa zu leben, kehrte in den Schoß der Familie zurück und bekam dort ihr Kind.

      Zu dieser Zeit hatte Chiara sich längst mit einer Architekturstudentin angefreundet. Lisa Bürger war trotz ihrer sehr kurz geschnittenen, frechen erdbeerblonden Haare eine Frau mit außerordentlich femininer Ausstrahlung. Chiara fand das faszinierend. Die kurzhaarigen Frauen, die sie bisher – vor allem in Italien – gekannt hatte, waren unter den Rubriken Kampflesbe und Mannweib einzuordnen gewesen. In Lisa aber hatte Chiara eine Seelenverwandte gefunden. Die beiden verstanden sich so gut, dass Maria – trotz aller Sympathie für Lisa – manchmal mächtig eifersüchtig wurde. Nach Marias Abreise in die Heimat stand auch Chiara vor ihrer letzten Prüfung, von der anzunehmen war, dass sie mit genauso großem Bravour absolviert werden würde wie alle Prüfungen davor. Aber was dann? Sollte sie ihrer Schwester nachfolgen und sie unterstützen, gemeinsam mit der Familie? Obwohl Chiara das Gefühl hatte, dass das von ihr erwartet wurde, gab sie Lisas Überredungskünsten nach und schrieb sich zusammen mit ihr an der Fachhochschule in Detmold ein, für einen Aufbaustudiengang in Messebau. Chiara war überzeugt, das Richtige zu tun, hatte aber dennoch ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Schwester, mit der sie bisher das ganze Leben geteilt hatte. Maria hatte eine schwere Zeit durchzumachen, und sie war nicht an ihrer Seite. Um das zu kompensieren reiste Chiara, während sie in Westfalen studierte, so oft nach Linosa, wie sie nur konnte, oft gemeinsam mit Lisa, die von der Familie Buffonacci äußerst herzlich aufgenommen, ja fast schon adoptiert wurde. Lisa wurde die Patentante von Marias Tochter Francesca und stellte bald fest, dass sie zu den Buffonaccis ein innigeres Verhältnis hatte als zu ihrer eigenen Familie.

      Lisa hatte sich in all den Jahren immer unglaublich gefreut, wenn sie nach Linosa reiste, und konnte es gar nicht erwarten, dort zu sein. Nur dieses Mal, auf dem Weg zu Chiaras Hochzeit, war das anders. Hätten eine Lungenentzündung oder ein gebrochener Knochen sie von der Reise abgehalten, Lisa hätte sich nicht beklagt.

      Chiara saß auf einer weiß gekalkten Mauer vor dem Haus ihrer Eltern und war sofort am Apparat, als Lisa endlich zurück rief: »Bist du schon am Airport?«

      »Nein«, antwortete Lisa, »aber ich mache mich jetzt auf den Weg.«

      »So spät?!«

      »Früher ging nicht.«

      »Lisa, du darfst den Flieger nicht verpassen!«

      »Tu ich nicht.«

      »Stell dir nur mal vor…«

      »Stopp«, sagte Lisa, und Chiara verbiss sich den Rest des Satzes. Sie wusste, mit welcher unkontrollierbaren Fantasie Lisa gesegnet war, und dass es selten eine gute Idee war, sie anzusprechen mit »stell dir nur mal vor«.

      »Was sind das für Geräusche?« wollte Lisa wissen.

      »Papa und Gaetano und noch ein paar Männer bauen einen Pavillon.«

      »Wie sieht er aus?«

      »Der Pavillon? Dicke Holzbohlen, und darüber werden riesige Leinentücher gespannt.«

      »Nicht der Pavillon, Dummchen. Dein Bruder.«

      Chiara lachte. »Ach so! Na, er hat eine kurze Hose an, sein muskulöser Oberkörper glänzt in der Sonne, seine Zähne funkeln, weil er ständig am Lachen ist, und seine schweißnassen Locken reichen fast bis auf die Schultern. Ist es das, was du wissen wolltest?«

      »Das ist ganz genau das, was ich wissen wollte.«

      »Du weißt, dass er dich vergöttert, Lisa. Du müsstest nur mit dem Finger schnippen, und er würde Schluss machen mit all seinen halbseidenen Romanzen. Auf der Stelle.«

      »Es fühlt sich aber an«, sagte Lisa, »als wäre er auch mein Bruder, nicht nur deiner.«

      »Er sieht das anders.«

      »Ich weiß.«

      »Lukas macht auch eine ganz gute