Claus Beese (Hrsg.)

Plätzchenduft und Tannengrün


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eigenen Erfahrungen gemacht, hatte gute und schlechte Zeiten erlebt.

      Eins aber hatten sie alle gemein: sie liebten Geschichten. Es konnten wahre sein, die sie selbst erlebt hatten und die für sie – und vielleicht auch für andere – eine besondere Bedeutung hatten. Aber ebenso konnten sie aus dem Reich der Phantasie stammen, einer anderen, ganz besonderen Welt mit ihrem Zauber. Sie konnten besinnlich, nachdenklich, manchmal traurig, aber ebenso heiter und voller Lebenslust sein.

      Sie waren wie das Lagerfeuer, an dem sie nun saßen und das sie wärmte. Das heitere Knistern harziger Kiefernzweige oder ein Funkenregen weckte bei dem einen Erinnerungen an lustige kleine Begebenheiten, die rote Glut brachte den anderen zum Träumen von längst vergangenen Zeiten, von Liebe, von funkelndem rotem Wein. Die lodernden Flammen waren ein Aufbruch, die Kraft der Jugend. Die Wärme war Geborgenheit, war Vertrauen. Und der Wind, der sie umwehte, erzählte seine eigene Geschichte.

      „Weihnachten. Das ist mehr als eine Geschichte. Es ist etwas ganz Besonderes, für jeden von uns auf seine eigene Art“, sagte Claus leise und blickte in die Runde. „Ich würde euch gerne eine Geschichte erzählen, wenn ihr wollt. Und vielleicht fällt euch ja auch etwas ein, das ihr uns erzählen könntet.“

      Ja, das wollten sie, darum waren sie hier. Und so rückten sie näher an das Feuer, das sich in ihren Augen spiegelte.

      Das Ungeheuer von Staberhuk

       Von Claus Beese

      Welcher Teufel hatte mich geritten, ausgerechnet am Vormittag des Heiligen Abend angeln zu wollen? Ich will es nicht beschwören, aber es bestand durchaus die Möglichkeit, dass es mit dem Wunsch meiner beiden weiblichen Familienangehörigen zusammenhing, Weihnachten auf Mallorca zu verbringen. Mir fehlte dafür jedes Verständnis, denn zwar wurde das Fest der Feste nahezu überall auf der Welt und in jeder Klimaregion gefeiert, doch Heiliger Abend ohne Schnee, Christbaum und ein wenig Gemütlichkeit war nun mal für mich kein Weihnachtsfest. „Feliz Navidad” anstelle Fröhlicher Weihnachten war nichts für mich, und anstatt am Strand von Malle bei 20 Grad zu grillen, stand ich lieber bei knappen null Grad am Strand von Fehmarn, um mir seefrischen Weihnachtsdorsch zu angeln.

      Der laue Westwind ließ keine festliche Stimmung aufkommen, aber wozu auch? Frau und Tochter vergnügten sich bei den Spaniern, und mir allein würde der olle Rauschebart sicher nichts unter den Baum legen. Da konnte ich genau so gut selbst für mein Festtagsmenü sorgen, ohne dass sich zwei Nasen kraus zogen. Niemand würde mit spitzer Stimme sagen: „Riechst du es? Ich glaube, Papa kommt gleich heim. Heute gibt es wohl Fisch anstatt Gans!”

       Nein, mein Weihnachtsgeschenk hatte ich mir selbst gemacht. Angelsachen gepackt, rein in den Wagen und ab nach Staberhuk. Weit und breit kein Frost, kein Schnee, das Meer plätscherte mit leisen Wellen gegen den Strand. Klasse Wetter! Wenn jetzt noch die Geschuppten mitspielten, würde ich mir heute Abend leckere Dorschfilets in der Pfanne goldbraun braten.

      Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich in meinem Leben schon viele Dorsche gefangen habe, was also auf ein gewisses Maß an Erfahrung schließen lässt. Doch heute war es wie verhext, nichts, aber auch rein gar nichts tat sich an der Rute. Ich hatte nur „kleines” Gepäck dabei, rechnete ich doch damit, größere Mengen an Fischfilet nach Hause schleppen zu müssen. Allerdings sah es im Augenblick eher nicht danach aus. Ah, vermutlich falsche Stelle. Ein paar hundert Meter weiter in Richtung Leuchtturm fiel der Grund etwas steiler ab, und dort würden sich die Dorsche vermutlich stapeln.

      Ich merkte recht schnell, dass sie das nicht taten. Egal, was ich als Köder an die Leine baumelte, es ließ sich keiner der Ostsee-Leoparden zum Biss überreden. Also noch etwas weiter in Richtung Kap. Ich krabbelte über Felsblöcke, stapfte durch den tiefen Sand, schlidderte über Geröll und kam dabei gut ins Schwitzen. Ich merkte weder, dass es langsam dämmerig wurde, noch dass die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt gefallen war. Der Wind hatte auf Nord gedreht, und ich schaute erstaunt in den Himmel, als plötzlich weiße Flocken herabsegelten. Im Nu machte sich ein Schneetreiben auf, wie ich es noch nie gesehen hatte. Der scharfe Nordwind wehte die Eiskristalle mit solcher Wucht heran, dass sie mir schmerzhaft ins Gesicht schlugen. Wie kleine Nadelstiche piekste das. Ich zog die Ohrenklappen meiner Fellmütze herab, stellte den Kragen meiner Jacke hoch und wollte in die Handschuhe schlüpfen. Wo waren sie noch gleich? Ah, richtig. Im Wagen. Dort hatte ich sie nämlich vergessen. Gut, denn dort würden sie mit Sicherheit nicht nass werden können.

      Ganz im Gegensatz zu mir. Ich verwandelte mich innerhalb von Minuten in einen wandelnden Schneemann. Es schien mir geraten, langsam ans Einpacken zu denken. Heute würden sie ungeschoren davonkommen. Ich war geneigt, den Ostseedorschen eine gewisse Galgenfrist einzuräumen, noch dazu wo doch Weihnachten war. Ich würde in diesem Jahr ausnahmsweise einmal die Nächstenliebe auch den Fischen angedeihen lassen. Petrus sei Dank, waren es ja nur drei Tage, nach deren Ablauf es keine Ausflüchte mehr gab. Die Pfanne wartete.

      Upps! Was war das? Die Schnur ließ sich nicht einkurbeln. Ich hatte nicht aufgepasst, und so war an den Schnurlaufringen dickes Eis gewachsen. Die Schnur hing fest, und ich musste die Ringe irgendwie auftauen. Zu allem Überfluss zerrte etwas mit uriger Kraft an der Leine. Ein Königreich für ein Feuerzeug, warum musste ich auch Nichtraucher sein? Der Fisch zog an der Leine und normalerweise müsste jetzt die Rolle die Schnur freigeben, um den Druck auf die Rute zu vermindern. Doch das ging ja nicht! Ich spürte so etwas wie Panik aufkommen. Das Gerät war kurz vor dem Bersten, als ich mich entschied, dem Fisch ins Wasser entgegenzugehen. Ah, ich lag völlig richtig mit meiner Vermutung, dass es hier schnell tiefer würde. Die Ostsee eroberte meine Stiefel, und der Fisch zog noch immer. Um mich herum wirbelten die weißen Flocken und hoch über mir fingerten die Lichtbalken des Leuchtturmes durch die Dunkelheit. Während mir unten die Beine abstarben, rann mir oben der Schweiß in die Augen.

      Wie verrückt muss man eigentlich sein, fragte ich mich, um dies hier nicht schnellstmöglich zu beenden? Ich kam zu dem Ergebnis, dass ich noch nicht verrückt genug war und watete zurück zum Strand. Die Rute würde im nächsten Augenblick zerbrechen oder die Schnur mit lautem Knall zerreißen. Egal. Verbissen kämpfte ich mich weiter den Strand hinauf, als das Unerwartete geschah. Schlagartig ließ der Zug am anderen Ende der Leine nach, und ich fiel vornüber. Das war nicht angenehm, ersparte mir aber eine unliebsame Begegnung mit dem schweren Blei. Mit einem scharfen Laut zischte es an mir vorbei und verschwand in der flimmernden Dunkelheit des Abendhimmels. Es flog zielsicher in die Richtung, aus der das leise Schellen von Schlittenglocken zu vernehmen war. Dann folgte ein dumpfer Schlag, als sei es gegen irgendetwas gestoßen. Vom Himmel hoch ertönte ein unterdrückter Schrei, dann fiel etwas Rotes herab und landete in einer der Schneewehen, die der Wind mittlerweile aufgetürmt hatte.

      Meine Hosenbeine waren im Nu steifgefroren, doch stakste ich zu dem weißen Haufen hinüber und fing an, das merkwürdige Ding auszugraben, das da vom Himmel gefallen war. Ich hoffte, dass es kein teurer Satellit gewesen war, doch andererseits beruhigte mich die Überzeugung, dass kein Angelblei so hoch fliegen konnte. Ich zerrte und zog an einer roten Mütze, griff auch in den mächtigen weißen Bart und langsam kam ein alter Mann mit leichtem Übergewicht zum Vorschein. Ganz offensichtlich war er ohnmächtig, und ich wünschte, irgendjemand würde jetzt hier vorbeikommen, um mir zu helfen.

      „Halt! Was machen Sie da?”, ertönte hinter mir eine scharfe Stimme. Ich blickte mich um. Eine Handvoll Bundeswehrsoldaten war im Anmarsch. Sie mochten von der nahe gelegenen Radarstation kommen und der erste von ihnen hob abwehrbereit seine Schneeschaufel. Offenbar schien ihr Motto das der Pfadfinder zu sein. „Allzeit bereit, zu jeder Jahreszeit!”

      „Wonach sieht es denn aus? Ich habe mit meiner Angel irgendwas vom Himmel gefischt. Helfen Sie mir mal, alleine kriege ich den Kerl nicht aus der Schneewehe.”

       Man musste nur klare Anweisungen geben, dann wurden auch keine dummen Fragen gestellt. Hilfreiche Hände packten zu, und gemeinsam zogen wir den vom Himmel Gefallenen aus dem Schneehaufen.

       „Wenn das nicht der Weihnachtsmann ist...”, murmelte der Soldat, den ich bereits auf dem Herweg als Wachhabenden am Tor der Station gesehen hatte. Ich schaute ihn groß an, und mein Blick verhieß nichts Gutes. Weihnachtsmann!