Claus Beese (Hrsg.)

Plätzchenduft und Tannengrün


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Paul hatte er keinen Brief oder Wunschzettel erhalten.

      Entgegen der weit verbreiteten Meinung, er müsste durch den Schornstein rutschen, um in ein Haus zu kommen, hatte er das nicht nötig. Geschlossene Türen gab es für ihn nur dort, wo er nicht erwünscht war. Und so spazierte er durch die große Eingangstür, die sich bereitwillig vor ihm öffnete, stiefelte an der verglasten Empfangsloge vorbei, in der eine ältere Dame in einem Modemagazin blätterte und stieg unbemerkt die breite Treppe hinauf. Das war auch eines der Dinge, die sich die jungen Studenten, die ihn aus dieser Welt heraus gerechnet hatten, nicht erklären konnten, dachte er. Er fand seinen Weg ohne neumodische Navigationsgeräte oder Wegbeschreibungen. Sein „Navi“ – wie sie es nannten – war sein Herz, sein Gespür und sein Wunsch, die Menschen an diesem Tag glücklich zu machen. Nun, besser wäre es noch, sie für längere Zeit zu beglücken. Aber das gelang nicht immer. Die Menschen standen ihrem Glück oftmals selbst im Wege.

      Oben begegnete ihm eine ältere Dame im weißen Kittel, die mit ärgerlichem Gesicht und einer Garnitur frischer Bettwäsche an ihm vorbei eilte, ohne ihn auch nur mit einem Blick zu bedenken. Dabei war er ein stattlicher Mann und in seinem rotem Mantel, seinem langen, weißen Bart und dem großen Sack über seiner Schulter gewiss ein ungewöhnlicher Anblick. Schon wieder eine, die nicht an ihn glaubte.

      Grummelnd verschwand die Weißbekittelte in einem der Zimmer. Da war wohl einem der Kleinen ein Unglück passiert. Eigentlich kein Grund, mit so bösem Gesicht durch die Gänge zu streifen, dachte er. Wem war das als Kind nicht passiert? Außerdem war Weihnachten. Das Fest der Freude. Aber hier in diesem „Heim“ war wenig davon zu spüren. Vielleicht – ja, vielleicht müsste er hier öfters einmal vorbeischauen. Und wenn er dann doch durch den Schornstein rutschen musste, weil er „unerwünscht“ war: nun, dann müsste er es eben tun. Da hätten die jungen Herren Studenten dann wieder genügend zu berechnen, um die Unmöglichkeit zu beweisen, dass ein Mann mit seiner Statur durch die heutigen Schornsteine passte. Und ob er das schaffen würde.

      Er schritt weiter durch den langen Gang, der nur dürftig von einer Notbeleuchtung erhellt wurde. Er war fast da, das spürte er ganz deutlich. Dort, hinter der nächsten Tür, wartete der kleine Paul auf ihn, der wohl auch sein Kommen spürte, denn noch bevor er sie erreichte, wurde sie von innen geöffnet.

       Ein paar große, vor kindlicher Freude strahlende Augen starrten ihn an. Pauls Mund stand vor Staunen ein wenig offen, als er den Weihnachtsmann erblickte. Dann legte er schnell einen Zeigefinger vor die Lippen um ihm zu bedeuten, ja leise zu sein und winkte ihn aufgeregt in sein Zimmer.

      „Die Schwestern schimpfen bestimmt, wenn sie dich sehen“, flüsterte er. „Nach dem Zu-Bett-Gehen darf nämlich keiner mehr in die Zimmer kommen.“

      Hastig zog er die Tür hinter sich ins Schloss und strahlte den Weihnachtsmann wieder an.

      „Ich habe ganz fest daran geglaubt, dass du kommst“, wisperte er glücklich. „Ich bin extra wach geblieben. Und ich habe auch Milch und Kekse für dich. Die Milch ist aber noch vom Frühstück; abends bekommen wir keine mehr. Hoffentlich ist sie noch gut. Sie stand den ganzen Tag vor dem Fenster, damit sie nicht sauer wird.“ Er kicherte fröhlich. „Aber die Schwester ist ein bisschen sauer geworden als sie gemerkt hat, dass ein Milchkännchen fehlt. Aber morgen bringe ich es ja wieder zurück. Das ist doch nicht schlimm, oder?“

       Erwartungsvoll schaute er den Weihnachtsmann an, der sprachlos und mit vor Staunen offenem Mund vor ihm stand.

      „Ääh, nein. Ganz bestimmt nicht.“

       Mehr brachte er erst einmal nicht heraus.

      „Setz dich doch“, sagte Paul und deutete auf einen alten Sessel, der vor dem Fenster stand und ließ sich selbst auf sein Bett plumpsen. Doch sofort stand er wieder auf und eilte zu dem kleinen Fenster.

      „Die Milch“, haspelte er aufgeregt und holte ein Blechkännchen vom Fensterbrett. Dann huschte er zum Nachttisch und kramte eilig ein paar in eine Serviette gewickelte Kekse aus der Schublade. Aus einem kleinen Spind holte er eine Tasse und einen Teller, goss die Milch ein und drapierte die Kekse liebevoll auf dem Porzellan.

      „Die habe ich leider nicht selber gebacken. Das dürfen wir nicht, sagen die Schwestern. Die halten uns für zu dumm dafür. Dabei habe ich das früher immer selber gemacht. Mit Ulrike, als sie noch ein Kind war. Wir hatten ja nicht so viel Geld, um alles zu kaufen. Außerdem war es so viel schöner. Da haben wir uns schon wochenlang auf Weihnachten freuen können, wenn es im ganzen Haus nach frisch gebackenen Plätzchen und Keksen duftete. Meine Frau hatte es ja nicht so mit dem Backen und als sie gestorben war, da habe ich es gelernt. Und Ulrike hat es dann von mir gelernt. Sie backt die besten Plätzchen auf der ganzen Welt.“

      Paul schaute den Weihnachtsmann traurig an.

      „Naja, das ist nun leider alles nicht mehr möglich. Weißt du...“

       Die Freude verschwand aus seinem Gesicht und damit alles Kindliche, das vorher dort gewesen war. Da saß er nun vor ihm, ein alter Mann in einem alten Schlafanzug. In einem lieblosen Zimmer mit kleinem Fenster, ohne Hoffnung und so voller Traurigkeit, dass dem Weihnachtsmann das Herz weh tat. Der „kleine Paul“, der ihn vorhin so glücklich in sein Zimmer gewunken hatte, er war verschwunden. Und der alte Mann vor ihm erzählte traurig weiter:

      „Weißt du, manchmal bin ich wieder wie ein kleines Kind. Dann vergesse ich alles, weiß nicht mehr, wie ich heiße, wo ich wohne, wie ich meine Schuhe zubinden soll. Oder sogar, was Schuhe überhaupt sind. Und dann kann ich nicht alleine sein. Dann muss jemand auf mich aufpassen, sich um mich kümmern. Das hat Ulrike immer getan. Sie ist ein gutes Kind. Aber dann wurde Heinrich arbeitslos und sie musste arbeiten. Er ist auch ein guter Mann, hat sich immer um mich gesorgt. Aber so ganz gesund ist er auch nicht mehr. Das ging einfach nicht, als Ulrike arbeiten gehen musste und den ganzen Tag auf den Beinen war. Heinrich alleine hat es einfach nicht geschafft. Sie wollten beide nicht, dass ich hierher komme. Aber ich habe ja doch gemerkt, dass es so nicht weitergeht...“

      Wieder schwieg er und ein paar Tränen kullerten über seine Wangen.

      „Besuchen können sie mich auch nicht so oft. Dafür ist es zu weit. Und die Bahnfahrt kostet so viel. Und es ist auch immer so traurig, wenn sie wieder weg müssen. Dann weinen wir alle. Das tut mir am meisten weh. Wenn ich sehe, wie traurig die beiden sind.“

       Schweigend sahen sich beide an. Was sollte er da nur tun, fragte sich der Weihnachtsmann. Wie konnte er nur helfen? Und wollten die beiden – Heinrich und Ulrike – wirklich, dass der alte Paul wieder zu ihnen kam? Das war ja das Wichtigste.

      „Und da hast du mir geschrieben?“, fragte er Paul.

      „Ja. Das war die Idee von Ulrike. Als ich mal wieder nicht so richtig im Kopf war, naja, als ich wieder wie ein Kind war. Das war wohl so vor drei Wochen. Da waren die beiden nämlich zu Besuch. Und da hat sie gesagt: Schreib doch an den Weihnachtsmann. So wie früher, als du noch klein warst. Da hast du auch immer einen Wunschzettel geschrieben, so wie ich selber. Vielleicht kann er ja helfen. Das hat er immer gemacht. Und dann hat sie noch gesagt: Wir schreiben selber auch einen Wunschzettel an ihn. Dann haben wir uns hier an den Tisch gesetzt und geschrieben.“

      „Sie hat auch einen Wunschzettel geschrieben?“, fragte der Weihnachtsmann.

      „Ja, das hat sie. Ich weiß natürlich nicht, was darin stand. Das muss ja ein Geheimnis bleiben. Aber das weißt du ja am besten.“

      „Das sollte ich wohl wissen“, erwiderte der Alte im roten Mantel, während er in seinen großen Taschen kramte. Wo hatte er nur die Liste mit den Wunschzetteln hin gesteckt? Wahrscheinlich wurde er langsam auch ein wenig alt und vergesslich. In der letzten Tasche fand er ihn endlich und fuhr mit dem Finger über die Namen.

      „Karl-Heinz, Fritz, Klaus-Dieter, Marina, Nathalie......“, murmelte er leise vor sich hin. „Da! Ulrike.“

       Hoffentlich war es die Richtige. Er suchte noch schnell den passenden Brief dazu. Eine säuberliche Handschrift. Schönschrift. Das musste sie sein.

      „Lieber Weihnachtsmann“, stand da. „Ich habe dir lange nicht mehr geschrieben. Aber heute muss ich es einfach tun und ich hoffe, dass du meinen Brief auch liest. Früher hast du es immer getan,