Claus Beese (Hrsg.)

Plätzchenduft und Tannengrün


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halben Ostsee in den Stiefeln zu folgen. Schließlich hakten mich zwei freundliche Bundeswehrkameraden rechts und links unter, hoben mich ein wenig an und trugen mich das letzte Stück des Weges. Mein gesamter Unterkörper war völlig vereist.

      In der Wachstube am Tor schälten sie den Rotgekleideten und mich aus den Klamotten, und verschwanden mit ihnen.

      „Wir haben Wäschetrockner hier, das geht recht schnell, dann können sie sich wieder anziehen. Bis dahin nehmen Sie die hier”, meinte der Wachhabende und reichte uns ein paar warme Wolldecken. Der alte Mann mit dem weißen Bart und der roten Unterwäsche fasste sich stöhnend an den Kopf, wo eine dicke Beule auf seiner Stirn prangte.

      „Wenn ich nur wüsste, was mich aus meinem Schlitten geworfen hat”, murmelte er. Sein Blick fiel auf mich und meine Angelrute. „Hmmm”, machte er nachdenklich.

       „Ich schwöre, ich habe daran keine Schuld”, beeilte ich mich zu versichern. Doch so wirklich schien er mir nicht glauben zu wollen. Ich begann, die ganze Geschichte zu erzählen und berichtete von dem unsichtbaren Riesenfisch, der meine Rute fast zerlegt hatte.

      Man hatte uns heißen Tee mit Rum gebracht, und langsam kehrte das Gefühl in meine Beine zurück. Auch der Weihnachtsmann ließ sich nicht bitten und leerte seinen Becher. Etwas schien ihn zu beschäftigen, denn er machte einen abwesenden Eindruck.

       „Das habe ich schon von vielen Anglern hier gehört. Und mir selbst ist es auch schon passiert”, sinnierte der Torwächter. „Das Ungeheuer von Staberhuk hat also wieder einmal zugeschlagen.”

      „Ungeheuer?”, klang es wie im Chor aus meinem und dem Munde des Weihnachtsmannes.

      „Ja, Ungeheuer. Noch niemand hat es zu Gesicht bekommen, aber gelegentlich beißt es an den Angelruten an. Es hat bereits viele zerbrochen, unzählige Ruten in die See gezogen, meistens jedoch reißt es sich wieder los, bevor man es auch nur in Sichtweite bekommt. Niemand kann sagen, was es ist. Treibende Bäume, die sich in den Leinen verfangen, Heringshaie oder etwas noch Größeres!”

      Unsere Sachen waren trocken und wir schlüpften hinein. Ah, mollig warm waren sie noch. Nur meine Stiefel trieften vor Nässe. Ich erhielt leihweise ein paar „Knobelbecher” in meiner Größe und versprach, sie in den nächsten Tagen wieder vorbeizubringen. Der Abschied war kurz, auf einen gellenden Pfiff des Alten hin ertönte das Klingen von kleinen Glocken und vor dem Tor der Radarstation landete ein Schlittengespann. Geduldig warteten die Rentiere bis ihr Kutscher eingestiegen war. Der Alte winkte uns zu.

      „Wir sehen uns in nächster Zeit ja des Öfteren!”, rief er gutgelaunt. „Ich habe ab morgen 364 Tage Urlaub und hier ist ein interessantes Angelrevier! Hahaha! Fröhliche Weihnachten!”

      Die Rentiere zogen an und der Schlitten hob ab. Wir standen inmitten der weißen Pracht vor dem Tor und wenn nicht ganz deutlich die Spuren des Schlittens im Schnee gewesen wären, ...!

      „Unglaublich!”, murmelte ich. Der Wachhabende grinste nur.

      „So unglaublich, wie die Geschichte vom Ungeheuer von Staberhuk? Nein, nicht ganz. Tatsächlich verfolgen wir in jedem Jahr zu Weihnachten den Weg des Weihnachtsmannes am Himmel auf unserem Radargerät. Es ist schon toll zu sehen, wie er hoch über uns durch die Nacht flitzt. Na, er hat ja auch allerhand zu tun. Übrigens, volle Deckung. Da kommt unser Weihnachtsessen!”

      Der Wachmann zog mich unter ein Vordach und am Himmel ertönten erneut die Schlittenglocken. Ein hohles Sausen lag in der Luft, dann plumpste ein Netz aus der Dunkelheit und landete genau vor der Radarstation. Es war voller prächtiger Dorsche und Schollen. Lautes Gelächter verlor sich in der Dunkelheit.

      „Das macht er immer so", erklärte der Wachhabende. „Dürfen wir Sie zum Essen einladen? Der Grill steht schon bereit, und es ist genug für alle da.”

       Ich willigte dankbar ein und war mir sicher, dass dies der Beginn einer langen Freundschaft war. Was konnte man sich Schöneres zu Weihnachten wünschen?

      Der kleine Paul

       Von Klaus-Dieter Welker

      Wollte man den Statistiken Glauben schenken, dann gab es ihn eigentlich nicht. Junge Studenten hatten sein Dasein unmöglich gemacht. Mit spitzer Feder, mit Hochleistungsrechnern und anderem intelligenten Unfug hatten sie errechnet, wie schnell er sein musste, um jedes Kind an Weihnachten zu bescheren. Wie viele Rentiere er vor seinen Schlitten spannen musste, um die ganzen Geschenke in der Christnacht transportieren zu können, und dass diese – und dann auch er – bei der errechneten wahnwitzigen Geschwindigkeit letztendlich verdampfen würden. Er schüttelte den Schnee von seinem Mantel und schaute auf seine Rentiere. Natürlich „dampften“ sie ein wenig. Das war ja auch kein Wunder, die kalte Luft ließ den Atem vor ihren Mäulern kondensieren. Aber von einem „Verdampfen“ konnte gewiss keine Rede sein.

      Was wussten diese jungen Hüpfer schon von den Wundern der Weihnacht? Bei ihnen musste alles berechenbar, messbar und in Zahlen belegbar sein. Da fing das ganze Unglück ja an. Kaum waren die Menschen alt und klug genug, um zu rechnen und zu schreiben, begannen sie, sich als „allwissend“ zu betrachten. Und je älter und „klüger“ sie wurden, desto weniger glaubten sie an die Wunder dieser Welt. Es war also nur eine Frage der Zeit bis sie auch ihn aus ihren Gedächtnissen gerechnet hatten, keine Briefe mehr mit ihren großen und kleinen Wünschen an ihn schickten und darauf vertrauten, dass er sie, so gut es eben möglich war, erfüllen würde. Und gar zu viele erzählten ihren Kindern überhaupt nicht mehr von ihm, sondern mieteten sich gleich einen „Weihnachtsmann“, der ihn ersetzen sollte. Vielleicht würde es nicht mehr lange dauern, bis er überflüssig wurde.

      Nein, das waren zu trübe Gedanken für diese Nacht. Noch war es nicht so weit, noch gab es Menschen, die an ihn glaubten. Und die wollte und durfte er nicht enttäuschen. Er schaute auf seine Liste, die in den letzten Jahren immer kürzer geworden war. Da mussten diese jungen Studenten mal dringend ihre Berechnungen aktualisieren, dachte er wehmütig schmunzelnd. Die Zahlen, die sie zugrunde gelegt hatten, waren längst überholt. Ja, früher einmal...

      „Ach was, hör auf damit“, schimpfte er sich selbst.

       Der nächste auf seiner Liste war Paul. ‚Sankt-Vincent-Heim‘ hatte in Schönschrift auf dem Brief gestanden, der an ihn adressiert gewesen war. Das war selten geworden; inzwischen schrieben ihm die Menschen mit Computern oder Schreibmaschinen. Oder sie legten ihren Wunschzettel auf das Fensterbrett – falls sie ihn nicht gleich ihren Eltern, Ehegatten oder sonstigen Verwandten gaben, damit die wussten, was sie im nächsten Juwelier-, Spiele- oder Geschenkladen einzukaufen hatten.

      „Lieber Weihnachtsmann“, hatte in dem Brief von Paul gestanden, „ich wünsche mir so sehr, dass Heinrich wieder eine gute Arbeit findet, damit Ulrike nicht mehr arbeiten muss und wieder mehr Zeit für mich hat. Und dass ich dann vielleicht wieder nach Hause kann. Ich vermisse die beiden so sehr. Hier bin ich ganz allein, obwohl ganz viele andere auch hier sind. Aber die haben meistens keine Zeit für mich. Die meiste Zeit bin ich alleine in meinem Zimmer und nach draußen darf ich nur, wenn eine Schwester dabei ist. Aber die müssen sich ja noch um so viele andere kümmern. Bitte, bitte! Du kannst bestimmt eine Arbeit für Heinrich finden. Und wenn das nicht geht, könntest du dann vielleicht machen, dass sie mich öfters besuchen kommen?

       Viele Grüße an das Christkind. Dein Paul.“

      Der Brief war ordentlich und ohne Fehler geschrieben. Entweder ist er ein kluges Bürschchen, oder es hat ihm einer geholfen, dachte er. Nur die Wasserflecke unter „Dein Paul“ passten nicht dazu.

      „Tränen“, dachte der alte Mann. Er hatte lange gegrübelt, als er den Brief gelesen hatte. Nein, ein Paul aus einem ‚Sankt-Vincent-Heim‘, war ihm nicht bekannt. Er hatte sich auch die Briefe der letzten Jahre angeschaut. Da war keiner von dem kleinen Paul dabei. Es schien also ein neuer „Kunde“ zu sein. Da musste er sich besondere Mühe geben.

      Das ‚Sankt-Vincent-Heim‘ lag abseits der kleinen Stadt. Die meisten Fenster waren dunkel; nur im Treppenhaus brannte Licht. Es war wohl nur eine kurze Weihnachtsfeier gewesen und die Kinder lagen bestimmt schon in ihren