geben. Wenn sie seither etwas vermeiden will, dann Krach im diesem Haus. »Ich kann das schon verstehen, Frau Hedel. «
Ellen richtet sich auf, unterstützt ihren Rücken mit beiden Händen, die sie fest gegen die Lenden presst. »Es sind immerhin zwischen fünf und sieben Euro jeden Monat. Dafür kann man schon ordentlich was einkaufen oder Schulmaterial für die Kinder. Das muss man den Menschen zugestehen. «
»Schulmaterialien? Liebe Frau Herold …«
Die Hedel kommt vorsichtig über die noch feuchten Stufen näher zu Ellen herunter. So wie sie den Handlauf loslässt, fährt ihr Finger in eindeutiger Geste an die Gurgel: »Darum wird es wohl gehen! Oder um eine Schachtel Zigaretten mehr oder weniger. Mir muss man nichts erzählen. Erst gestern wieder …«
Unten geht die Tür auf und Frau Brock tritt über die Schwelle. Ihre ausgeblichene Kittelschürze verdeckt die blassen, dicklichen Knie der Frau nicht. Aus unerklärlichem Grund besinnt sie sich auf etwas und schließt die Tür wieder von innen. Nach Sekunden betretenen Schweigens nutzt Ellen die Gelegenheit: »Jetzt, wo die Schlecker-Pleite der Familie zusätzliche Probleme bringt, habe ich durchaus Verständnis für die Ablehnung. «
Frau Hedel kommt Ellen so nah, dass sie den schlechten Atem der Frau und den Dunst ihrer Kleidung nach Fleischbrühe ertragen muss.
»Die hat doch längst nicht mehr dort gearbeitet. Was meinen Sie denn, warum die ihre Kinder aus dem Heim zurückgeholt haben. Den Falk, die Susi und den David. Das Kindergeld für drei Gören zusätzlich ist ein ziemlicher Batzen. «
Ellen hört auch diese beiden Kinder-Namen zum ersten Mal. Sie interessiert sich nicht für Kindergeld und dergleichen. Ihre Gedanken kreisen: Dann war der Kleine, der auf der Schwelle gesessen hat, bis jetzt im Heim? Kein Wunder, dass ich den nicht kenne.
»Warum waren die Kinder im Heim? «, fragt sie wie beiläufig.
»Na weil die Birthe, die Mutter eben, sich aus dem Fenster gestürzt hatte, damals vor vier Jahren in etwa. Das hat sie nun davon. Wird wohl nichts mehr mit ihrer Hüfte. Wird wohl ewig humpeln. «
Ellen hatte sich auf einiges gefasst gemacht, aber für die Hedel ist es ein Leichtes, sie Tag für Tag mit ihren Neuigkeiten zu verblüffen.
»Vor vier Jahren? «
»Oder fünf.« Frau Hedel presst die Lippen aufeinander und schnauft stoßweise aus der Nase. »Der David war kaum ein halbes Jahr und völlig verwahrlost soll er gewesen sein …«
»Dann müsste David ja schon mindestens viereinhalb Jahre alt sein? «
»Das bestimmt«, sagt die Frau und will zu einer weiteren Tirade ansetzen. Nicht, dass es Ellen nicht interessieren würde, aber jetzt will sie sich keine weitere Bemerkung zuschulden kommen lassen. Außerdem bäckt in ihrem Herd ein Kuchen und die Wäsche in der Maschine müsste längst aufgehängt werden. Es wird noch alles zerknittern in der Trommel. Rasch bückt sie sich, wischt hurtig über den letzten Absatz und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie schon viel zu viel Zeit unnütz vertan hat. Als die Hedel die Fassung wiedererlangt, wischt sie ihren Ärger mit den Handrücken an der Bluse ab und steigt über die feuchten Stufen ihrer gemeinsamen Wohnetage entgegen.
Genervt, dass ihr das Kind nach Frau Hedels Gerede schon wieder im Kopf herum geistert, nimmt Ellen sich nach getaner Arbeit ein Buch zur Hand und lenkt ihre Gedanken weg von diesem Haus, weg von der Familie mit den unbekannten Sorgen, weg von dem Kind, das viel älter ist als es aussieht. Auch weg vom Mitleid für die Mutter, die sich nicht ohne Grund aus dem Fenster gestürzt haben wird.
Zum Glück hat sie selbst einen guten Mann – die wohl beste Partie überhaupt, die sie hätte machen können. Sie fühlt sich respektiert und kann sich nicht vorstellen, mit einem anderen Menschen so als Mann und Frau zusammenleben zu müssen.
Mit all der Leidenschaft, die sie aufbringen kann, mit all der Dankbarkeit für ihr gutes Leben, deckt sie zwei Stunden später auf dem Balkon den Kaffeetisch und stellt den noch warmen Kuchen dazu. Oliver ist nicht anspruchsvoll, aber ein Wochenende ohne selbstgebackenen Kuchen ist kein Wochenende.
Verflucht
»Kuchen will der Hundsfott! «, schreit Birthe Brock und schlägt mit der flachen Hand derb auf die kleinen Finger, die nach dem Tablett gieren, das auf der Kühltruhe steht. »Wer sein Mittag nicht isst, kriegt auch keinen Kuchen. «
Genaue Töne formen die Lippen des Kindes nicht, aber es beißt und kratzt und tritt nach der Mutter. Das ist zu viel für Birthe. Ihre ganze Verzweiflung des Tages schlägt um in jene Kraft, die sie bei ihren Schmerzen in Bein und Hüfte oft vergisst. Wie von Sinnen schlägt sie zu. Zuerst erwischt sie den Rücken, dann die Oberarme und schließlich treibt ihre Wut die an Kraft schwellenden Schläge gegen den Kopf des Kindes, das nicht aufhören will zu schreien und um sich zu schlagen. Sie packt das Balg, bändigt die Schreie mit harter Hand und schleift das Kind ins Zimmer, stößt es hinein und verschließt die Tür. Zu allem steht man alleine da …! Ihre Lippen formen diese Worte nicht, ihr Kopf schiebt sie hin und her, den ganzen Tag schon, an dem sie Leute spazieren gehen sah, fein gekleidet, oder die Nachbarsleute im Auto auf Tour fahren hörte. Wann gab es das für sie das letzte Mal? Nicht einmal zur Glucke konnte sie heute mit …
Derweil ringt das siebente Kind der Birthe Brock hinter der Tür nach Luft. Sein Kopf ist nicht mehr blass, er ist rot und die Lippen bläulich. Nach einer Minute beginnt es zu schreien, mit Händen und Füßen auf den Boden zu schlagen, die Kissen und Decken aus seinem Bett zu reißen und im Zimmer zu verteilen. Und dann ist es wieder so weit. Der warme Strahl rinnt an seinem Schenkel herunter. Einen Moment genießt es das Gefühl. Die Pfütze auf dem Boden wird größer und größer, und es weiß, was es für die Frau hinter der Tür bedeutet, zu der es Mutti sagen soll. Sie wird ihn packen und mit der Nase hinein stupsen. Das kann David verhindern, er ist ja nicht dumm. Er legt das Deckbett über die Pfütze und sich selbst darauf. Eine Weile noch zeigt seine Stimme, dass er wieder lebendig ist, aber bald findet er Gefallen an einem Stock, an dem sein Bruder einen Gummi befestigt hat. Noch beherrscht er es nicht, eine Murmel oder Erbse mit dem Gummi abzuschnippen, aber er hat Geduld. Wenn bloß der Bauch nicht so rumoren würde.
Birthe Brock horcht an der Tür. Alles ruhig. Es wäre ja noch schöner! Macht denn hier jeder was er will. Sie hat das Leben mal wieder so richtig dicke. Schon einmal hatte sie Schluss machen wollen. Einfach Schluss! Ob sie Gregor strafen wollte oder ihre Söhne, die nie wirklich mit anpacken, das war ihr damals selbst nicht klar. Aber eine Strafe wäre nur gerecht gewesen. Nun aber hat sie den Schaden ihres Fenstersprunges ganz allein und sie krankt noch immer daran. Ihr Hüftknochen war gebrochen. Und nun hinkt sie, weil sie nicht einmal zu einer Reha gehen konnte. Ein bisschen ambulant geübt, aber nicht einmal das hat sie durchgestanden. Freilich war Gregor erschrocken und sogar für kurze Zeit zugänglicher geworden, belohnte sie auch hier und da mit dem, was er Liebe nennt. Die Kinder kamen sofort in ein Kinderheim. David hatte ihr vom ersten Tag an Scherereien gemacht, wollte schon als Baby nicht ordentlich essen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wären die Kinder noch immer dort. Vielleicht hätte sie ja wieder eine kleine Arbeit gefunden. Besser als diese Ohnmacht, von all dem abhängig zu sein, was sie bei den Ämtern bekommt. Freilich, Gregor macht es sich einfach. Wenn kein Geld im Hause ist, muss sie zum Amt, irgendeine Zuwendung ergattern. Sie leben vom Kindergeld und von diversen Sozialzuwendungen. Und wenn das alles nicht reicht, schickt Gregor sie wieder los wegen irgendwelcher Berechtigungsscheine. Er macht sich um nichts Sorgen. Jeden Tag sitzt er nach der Arbeit in der Kneipe, und als sie sich einmal beschwerte, bot er ihr an, einfach mitzukommen und ihren Frust hier zu Hause zu lassen. Dass das alles noch mehr ins Kontor schlägt, will er nicht begreifen. Und dann – war sie wieder schwanger mit Chrissi und ein Jahr später mit Moni - als ob sie noch dieselbe wäre wie vor dem Sturz. Schlimmer noch, als ob sie nicht schon genug Gören um sich herum und auch durchzufüttern hätten.
Es ist kurz nach sechs. Die Großen sind unterwegs und Gregor muss sie noch nicht befürchten. Ihre Hand greift hinter den Vorhang unter der Spüle. Nicht sofort, aber dann fischt sie die Flasche hervor. Das muss jetzt sein. Gregor weiß nichts davon. Es ist ihre eiserne Reserve