Maxi Hill

David - Die Grausamkeit des Unterlassens


Скачать книгу

      Die Kinder trollen sich eins nach dem anderen aus der Küche. Die Mutter stopft das Wurstpapier in den übervollen Mülleimer und ruft den Großen zu, einer soll ihn nach unten tragen. Einer? Heute kommt nicht mal der gewöhnliche Abzählreim zur Anwendung. Wofür sollten sie den stinkigen Eimer durchs Haus tragen. Wofür! Bekommen sie, was sie möchten?

      Im Zimmer nebenan streift Niklas mit dem einen Fuß den Schuh vom Spann und schleudert ihn in eine Ecke, dann den nächsten. Sven macht sich diese Mühe erst gar nicht. Sie liegen quer auf den Betten. Zwei Burschen von 16 Jahren, mit flaumigen Oberlippen und kindlichem Lächeln. Für das, was sie heute noch vorhaben, ist es noch zu früh. Die Jahreszeit ist nicht günstig. Es wird erst sehr spät dunkel. Sven zappt mit der Fernbedienung derweil nach einem Programm, das ihnen die Zeit bis dahin vertreibt. Irgendwo läuft die Super-Nanny mit Katharina Saalfrank.

      »Eh, mach den Telemüll weg!«, schreit Niklas.

      »Is′ doch RTL. Ich denke, das ist dein Spaßfaktor?«

      »Längst nicht mehr. Und von Erziehung hab ich für heute den Rüssel voll …«, sagt Niklas, wie er manchmal spricht, um vor seinem Bruder nicht als Weichei dazustehen. Dann dreht er sich auf den Bauch und schaut notgedrungen auf den Bildschirm. Die Szene nimmt gerade dramatische Züge an. »Lass ma. Lass ma! … Eh voll krass, der schlägt seine Mutter! «

      Mit offenem Mund verfolgt er das Geschehen zwischen einer Mutter und ihrem missratenen Sohn, doch Sven weiß wieder mal alles besser. »Is’ doch alles gefaket …«

      »Klar. Weiß ich. Is’ nich’ echt. «

      »Du weißt das? Aber sonst niemand. «

      Die turbulente Szene ist gnadenlos. Der 15-Jährige schlägt auf die Mutter ein und wirft sie brutal aus dem Zimmer. Der ältere Sohn steht tatenlos – vielleicht fassungslos - daneben. Draußen stürzt die Frau über den Läufer und liegt im Flur. Die Kamera zeigt, wie sich die Super-Nanny zur Mutter bückt. Keiner vom Fernseh-Team greift ein.

      »Dem gehört mal rechts, links eins aufs Maul und Ruhe ist. «

      »Und der Super-Nanny gleich dazu. Hör dir das an. Hör dir das bloß an! « Niklas ist jetzt ganz Ohr. »Hat die ′se noch alle. Verwöhnt. Verzogen. Prügeln. Schwänzen. Randalieren. Nur noch verhaltensgestörte Kids, oder was …? Ich denk, mich kutscht ′n Elch. «

      »Na ja«, Sven gibt sich weltmännisch. »Das verkauft sich eben gut. «

      In der nächsten Szene sitzt die Super-Nanny mit den Brüdern im Zimmer und redet auf sie ein. Der Prügler steht auf und verlässt wortlos den Raum.

      »Das woll’n die so. Die Nanny ist ′ne verlogene Schlampe, die will nur Quote. «

      Ein unsichtbarer Sprecher sagt, der Junge brauche eine Grenzerfahrung, und die Nanny fragt ihn später, ob er schon Alkohol trinke. »Ja«, antwortet der Junge und grinst. Eine andere Szene zeigt, wie er mit seinem Freund Benjamin in fremde Häuser einsteigt, um sich Geld für Alkohol zu beschaffen.

      Im realen Leben der Sozialwohnung 511 greift auch Sven Brückmann unter sein Bett und holt eine braune Flasche hervor. Er grinst seinem Bruder zu und Niklas greift dankend nach dem Bier. Noch eine Flasche steckt unterm Bett und auch Sven hebt sie an seinen Mund und trinkt sekundenlang, ohne abzusetzen. Die ersten Worte kommen als Rülpser über seine Lippen: »Eh, woll′n wir unsre Alten mal vorschlagen für die Sendung Elterntausch? «

      »Ich wüsst’ was Besseres. «

      In der laufenden Sendung sitzt die Mutter gerade am Tisch in ihrer Wohnung und erzählt Katarina Saalfrank, dass sie sich von ihrem schlagenden Ehemann getrennt habe. Damit sei der Junge nicht fertig geworden. Manchmal sei er schon mittags betrunken und von Schule wolle er gar nichts hören.

      Irgendwie sind Svens Gedanken nicht bei der Sendung. Noch immer spukt ihm sein fixer Gedanke im Kopf herum.

      »Für die Kleinen wäre ein Elterntausch vielleicht ganz gut. «

      »Für David nicht. Der sieht in allen nur böse Monster. Vielleicht auch in uns. «

      »Wir tun dem doch nüscht. «

      »Hm, keine Ahnung, aber gut geht ′s dem nich. «

      »Der nervt ja auch …! Kolossal. «

      Niklas nickt. Kaum traut er sich die Worte über seine Bierlippen zu schicken, die ihm auf der Zunge brennen: »Wenn der könnte, der würde mit der Mutter genau so … na, wie der da eben. «

      Die Geste von Niklas’ Kopf zum Fernseher hin ist klar, die von Sven ist es nicht.

      »Die hätten die Gören nicht nach Hause holen sollen. Das wäre besser … auch für uns. «

      »Hast doch gehört. Dann wäre noch weniger Geld im Haus. «

      Gerade bringt die Fernseh-Mutter ihrem Sohn das Essen ins Kinderzimmer. Der reißt den Teller an sich und schreit sofort: Verpiss dich! Zu Katharina Saalfrank, die mit im Zimmer sitzt, sagt er: Ich kann meine Mutter nicht leiden. Die ist gegen meine Freunde

      Zum Glück haben Sven und Niklas Brückmann sich gegenseitig und sie können sich aufeinander verlassen. Keiner von ihnen spricht es aus, aber ihr Problem, das bleibt nicht unausgesprochen.

      »Wenn die so viel Knete für uns Kinder kriegen, können die doch auch mal die 25 Euro für die Klassenfahrt locker machen … Dann müssten wir nachher nicht …«

      Was zu sagen wäre, verschluckt Niklas, weil Sven es ohnehin nicht hören will.

      »Fuffzig«, wendet der ein. »Zum Glück hat der Alte wenigstens noch was gecheckt. «

      »Zum Glück nicht das andere … Das vom Heiraten. Das hätte dem die Sprache verschlagen …«

      Verwöhnt

      Der Tag, an dem es Ellen Herold die Sprache verschlägt, ist ein düsterer. Regen fällt wie ein bleierner Vorhang vor das Bild der Stadt. Am windstillen Himmel hängen schwere, graue Wolken, die beschlossen haben, kein einziges Blinzeln der Sonne hindurch zu lassen. Es ist ein kühler Spätsommertag, kühler als es der letzte Augusttag zu sein hat. Gemessen an den Temperaturen hätte sie eine gefütterte Jacke vertragen, aber gemessen am Kalender entschloss sie sich für eine ganz normale Kostümjacke.

      Als sie fröstelnd das Haus betritt, gibt es diesen Moment der Sprachlosigkeit. In der ersten Sekunde wundert sie sich. In der zweiten ist sie sofort in Sorge und schon die dritte erfüllt sie mit Zorn. Auf den kalten Stufen im Parterre sitzt David Brock nur im Unterhemdchen und Slip, barfüßig und, wie es scheint ungewaschen und ungekämmt, wobei letzteres für Ellen völlig unwichtig ist. Mit seinen unfassbar hellgrünen Augen schaut das Kind zu ihr auf und Ellen glaubt ein Lächeln der bleichen Lippen zu erkennen. Ein zärtliches Mitleid löst die Wut in ihr auf, die niemanden als die Eltern betrifft. Der Blick des Jungen bewirkt in Sekundenschnelle ihre herzliche Zuneigung.

      Es war dieser besondere Augenblick. Hätte sie ihrem Temperament freien Lauf gelassen, wäre sie mitsamt dem Jungen zu den Eltern marschiert und hätte denen auf ihre Art Bescheid gesagt. So aber nimmt sie das Kind, steigt in den Aufzug und fährt an der Etage vorbei, in der David wohl eine Bleibe, aber kaum ein gutes Zuhause haben dürfte. Andererseits betrifft ihr Zorn das ganze Haus: Wie viele Leute sind schon an dem Kind vorbei gegangen? Angewidert vielleicht. Gleichgültig allemal. Wer noch halbwegs bei Trost ist, muss doch erkennen, dass dem Kind etwas fehlt!

      Die großen Augen des Jungen, der wie angewurzelt in ihrem Arbeitszimmer steht und die Gegenstände bestaunt, die noch von ihren eigenen Kindern zurückgeblieben sind und die zu entsorgen sie nicht übers Herz bringt, wirken auf Ellen wie ein göttlicher Ritterschlag. Behutsam bringt sie in seine Nähe, wovon sie glaubt, dass es ihm gut tun könnte. Eine flauschige Decke gegen den ausgekühlten Körper. Zwei Scheiben von dem Gugelhupf, auf die sie mit bunten Plätzchen rasch ein Gesicht zaubert. Und ein Glas warme Milch, in die sie mit flinker Hand einen Schuss Honig gegeben hat. Sie hält sich zurück, will ihn nicht erschrecken.