Nam-Sig Gross

Der männliche Baum


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verlasse ich Dich mit einem Lächeln.

      Ich vergaß den Schmerz des Abschieds, weil ich die Nähe spürte durch ihre geschriebenen Worte.

      Es schmerzt, wenn eine Familie geteilt wird und nicht mehr miteinander spricht. Es ist unverständlich wie es dazu kommen konnte, wo die Familie doch die gleiche Sprache spricht und fast vierzig Jahre lang für dieselbe Freiheit gekämpft hat, für die gemeinsame Freiheit und Identität. Und letztendlich stehen sich nun beide Teile als Feinde gegenüber, mit einem gepanzerten Gesicht.

      Als ich die Grundschule besuchte, sangen wir viel. Da es kein vernünftiges Musikinstrument gab, sangen wir, denn eine Stimme hatten wir alle. Ich kann mich noch ganz genau an den Text erinnern, den ich vor mehr als 50 Jahren gesungen habe als kleines Schulmädchen.

      „Unser Wunsch ist unsere Vereinigung.

      Selbst im Traum wünschen wir unsere Einigung.

       Lasst uns schnell w iedervereinigen!

       Lasst uns schnell w iedervereinigen!“

      Nun, viele Jahre sind vergangen, ohne dass unser Traum in Erfüllung ging. Es wird immer schlimmer mit unserer Feindschaft.

      Die Nordkoreaner wollen den eigenen Bruder im Süden vor den USA und aus dem Kapitalismus retten und die Südkoreaner möchten keine Kommunisten werden wie die Nordkoreaner und sich schon gar nicht der Diktatur Kim unterordnen. Aus lauter Pflicht und Überzeugung, den eigenen Bruder zu retten, kauften die Nordkoreaner Waffen, und dafür hungern sie, wenn es sein muss, auch bis zum Tod. Südkoreaner arbeiteten Tag und Nacht und schafften mit Namen wie Samsung oder Hyundai reiche Menschen im Lande, und sie haben den Arbeitern das Wort „Urlaub“ vorenthalten.

      Ich persönlich habe bis jetzt keinen Krieg erlebt. Aber die Erzählungen von den Menschen, die ihn erlebt haben, reichen aus, tiefstes Glück zu empfinden, nicht daran beteiligt gewesen zu sein.

      Meine Oma erzählte: „Ich habe deine Mutter geschützt vor einem amerikanischen Soldaten, der nach Frauen gejagt hat, um sie zu vergewaltigen, mit einer Waffe in der Hand. Sie war krank und lag im Bett und als der Soldat ins Zimmer kam, habe ich ein blutgetränktes Tuch vor ihre Unterhose gehalten.“ Als ich dann fragte: „Wo hattest du so schnell das Blut her?“, antwortete meine Oma: „Ja, ich habe ganz schnell eins meiner Hühner getötet als ich von Nachbarn hörte, dass Soldaten unterwegs sind, Frauen zu jagen. Es war Hühnerblut. Wir hatten ein paar Hühner gehalten hinter unserem Haus. Nach 40 Jahren Ausbeutung durch die Japaner und dem anschließenden Koreakrieg war man schon sehr reich, wenn man ein paar eigene Hühner besaß.“

      Ich fragte „Wo war mein Papa? Warum hat er seine Frau nicht beschützt?“

      „Dein Papa war zum Glück schwer krank und lag mit Tuberkulose im Krankenhaus. Ich sage dir ‚zum Glück’, weil sonst mein Sohn im zweiten Weltkrieg als japanischer Frontkämpfer in der Mandschurei nicht überlebt hätte und schon gar nicht im Koreakrieg als koreanischer Soldat. So wärst Du ja gar nicht erst geboren worden“, antwortete sie.

      Meine zwölf Jahre ältere Schwester erzählte dann ganz stolz: „Zuerst habe ich vor nordkoreanischen Soldaten gesungen und bekam Reiskuchen, und danach habe ich dasselbe Lied vor amerikanischen Soldaten gesungen und bekam Schokolade. Ich habe aber dann meine Beute immer mit nach Hause genommen und mit meinen jüngeren Geschwistern geteilt.“ Meine älteste Schwester hatte bereits vier jüngere Geschwister, die sie mit ihren Süßigkeiten, die sie schwer verdient hatte, versorgen musste.

      Und dann bin ich geboren, kurz nach dem Koreakrieg. Eine neue Hoffnung.

      Ein neues Lebenszeichen, in einer Zeit, in der eine Frau nicht entscheiden konnte über die Entstehung eines Lebens. Meine Mutter hatte keine Antibabypille und auch keine „Pille danach“.

      Ich kenne meine Heimat von Geburt an als geteiltes Land.

      So lebte ich auf einer Insel, die keine ist. Nach Norden gibt es keinen Zugang, sodass Südkorea nur von Meer umgeben ist. Mit einem Auto ins Ausland zu fahren kennen wir nicht.

      Das Verlangen nach Aufmerksamkeit haben die Nordkoreaner im Laufe von mehr als sechs Jahrzehnten in die Tat umgesetzt, meistens mit mündlichen Drohungen, aber auch, wenn dies nicht genügte, mit kleinen kriegerischen Handlungen. Aber wenn die Südkoreaner mit den USA vor der Nase der Nordkoreaner mit militärischen Waffen im Manöver den schönen koreanischen Aprilhimmel verzieren, ist das auch keine diplomatische Art, sich zu präsentieren.

      Je länger die Verletzung und die Teilung anhalten, desto schwieriger wird es, sie zu heilen.

      Die Zeit des Wiedergutmachens läuft davon. Die Kruste einer Wunde vertrocknet.

      Meine Großeltern, die gegen die japanische Kolonialmacht ihr Leben riskierten, leben nicht mehr. Weil die Japaner durch die Atombombe zum Verlierer des Krieges wurden und uns unser Land wiedergaben, durften meine Eltern ihren japanischen Namen wieder gegen den eigenen Namen tauschen und ihre eigene koreanische Sprache wieder sprechen. Aber auch sie leben nicht mehr. Selbst wir, die unsere Eltern respektierten, weil sie sich für uns geopfert hatten und wir deshalb ein besseres Leben als sie haben, sterben langsam aber sicher aus.

      Ich bin eine koreanisch aussehende Deutsche.

      Meine Kinder haben koreanische und deutsche Eltern und leben in Deutschland. Sie kennen das Land Korea von ihren Urlaubsaufenthalten. Meine koreanische Familie sind ihre koreanischen Verwandten und meines Mannes Familie sind ihre deutschen Verwandten. Die Entfernung zwischen beiden Ländern ist viel größer, aber wir stehen uns nicht als Feinde gegenüber wie die Nord- und Südkoreaner, die nur durch einen paar Meter Niemandsland getrennt sind.

      Der Koreakrieg 1950 war ein Krieg der großen Mächte, in der Zeit, in der vom kalten Krieg die Rede war. Korea als politischer Spielball.

      Wir wurden geteilt.

      Der Norden als kommunistische und der Süden als kapitalistische Zone. Brauchen die Mächtigen immer noch einen Ball zum spielen? Sind die Koreaner noch so abhängig von außen, dass sie ihren eigenen Bruder nicht erkennen?

      Die Deutschen haben es geschafft ihr Land wieder zu vereinen. Die Geschichte lebt durch ständige Verwandlungen.

      Während des Koreakriegs entstanden viele Kinder aus Vergewaltigungen. Meine älteste Schwester erzählte mir: „Wusstest du, dass solche Kinder im Waisenhaus mit einem Pinsel und dunkler Tinte versuchten ihre blonden Haare zu färben, damit sie so schwarze Haare bekämen, wie alle anderen koreanischen Kinder? Diese Kinder wurden nicht akzeptiert. Sie hatten nicht das Recht zu einem normalen Leben, denn sie sahen etwas anders aus.“ Sie erzählte auch: „Die nordkoreanischen Soldaten haben nicht nach Frauen gejagt, wie die Amerikaner.“

      Meine Multi-Identifikation löscht nicht die große Sehnsucht, nach