Nam-Sig Gross

Der männliche Baum


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holte mein altes koreanisches Schulmusikbuch aus dem Regal, in dem die Bücher aus Korea gesammelt sind.

      Der Staub ließ sich leicht wegwischen.

      Ich sang noch mal mit meiner alt gewordenen Stimme den Text des Kinderliedes, den ich aus voller Überzeugung ganz laut gesungen habe:

      „Unser Wunsch ist unsere Vereinigung.

      Selbst im Traum wünschen wir unsere Einigung.

       Lasst uns schnell w iedervereinigen!

      Lasst uns schnell wiedervereinigen!“

      Mühsam aufgebautes Land Korea.

      Die Zerstückelung schmerzt den eigenen Körper.

      Ich rief meine Geschwister in Korea an, in der Hoffnung, dass ich noch lange ihre Stimme zu hören bekomme, wenn auch nur der Schall uns verbindet. Ich hoffe, dass die Geschwister, die durch die Teilung Koreas auseinander gingen, sich wieder fest umarmen können, bevor es zu spät ist.

      Bei einem Wiedersehen nach mehr als sechzig Jahren müsste auch keiner übersetzen, denn sie sprechen doch dieselbe Sprache und ihre Eltern waren aus demselben Blut.

      Mein erster Geburtstag steht im Pass.

      Der zweite Geburtstag, mein eigentlicher biologischer Geburtstag, soll genau ein halbes Jahr davor gewesen sein. Und den Tag, als ich einen deutschen Pass bekam und meinen eigenen koreanischen Pass abgeben musste, weil Südkorea und Deutschland kein Abkommen über eine gleichzeitige Staatsangehörigkeit beider Staaten hatten, nannte ich selbst den dritten Geburtstag.

      Bis ich 50 wurde, feierte ich den ersten Geburtstag, obwohl es nicht der richtige war. Irgendwann hat meine Mutter mir erzählt, dass der Geburtstag, der in meinem Pass steht, nur der Anmeldetag für das neugeborene Kind war. Meine Eltern haben genau ein halbes Jahr nach meiner Geburt meine Ankunft auf der Erde in einem Einwohnermeldeamt gemeldet. Es gab damals, nach dem Koreakrieg, nur eine einzige Meldebehörde weit und breit und die lag sehr weit entfernt von unserem Wohnort. Das Land war völlig ausgebrannt. Die Menschen auch. Es gab keinen Zug, keinen Bus, kein Taxi und noch nicht mal ein Fahrrad. Kein Telefon, kein Postamt, und kein digitales Anmeldeformular. Vor allem kein Essen.

      „Ich musste mich zunächst um dich und auch um mich kümmern nach der anstrengenden Geburt. Und deine fünf Geschwister, noch kleine Kinder, waren auch noch da und warteten auf ihre Mahlzeit. Wir, dein Papa und ich, warteten, bis ich eines Tages soweit war, zu Fuß zur Anmeldebehörde gehen zu können, denn der Fußmarsch hin und zurück dauerte ein paar Tage“, sagte meine Mutter, als ich fragte warum sie mich so spät angemeldet haben.

      Ich bin nicht im Krieg geboren, aber unmittelbar danach. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg fing im Juni 1950 der Koreakrieg an. Zwischen dem Koreakriegsende 1953 und der Regierungsbildung 1957 herrschte Chaos auf allen Ebenen. Genau in dieser Zeit bin ich geboren.

      In einem unruhigen Land ohne Halt und Struktur, da Korea vor dem zweiten Weltkrieg fast 40 Jahre lang japanisch besetzt war und nach den zwei Kriegen nur langsam eine Struktur und eine ordentliche Regierung aufbauen konnte.

      Früher feierte man in Korea zwei Geburtstage ganz groß. Den ersten Geburtstag aus Dankbarkeit, weil das Kind das kritische erste Lebensjahr gut überstanden hatte und den sechzigsten aus Dankbarkeit diesen erreicht zu haben.

      Bei der ersten Geburtstagsfeier, „DOL 돐“ genannt, legt man viele Dinge auf einen Tisch und beobachtet, was das Kind als erstes berührt. Danach, so heißt es, weiß man, was aus dem Kind wird. Greift ein Kind zuerst das Geld, so wird es reich werden. Greift ein Kind den Stift, so wird es Schriftsteller. Und so weiter.

      Bei der sechzigsten Geburtstagsfeier, „HANGAB 한갑“, stellt man viele Speisen auf den Tisch, die man mit Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn teilt.

      Viele meiner gleichaltrigen Freunde aus Korea hatten dasselbe Problem wie ich mit ihren Geburtstagen. Wir lachten eines Tages gemeinsam, als wir feststellten, dass wir mit unserem Schicksal der vielen Geburtstage nicht ganz allein dastanden. Wir hatten bis dahin alle geschwiegen, weil wir uns für unsere Eltern schämten, dass sie versäumt hatten, unsere Geburt rechtzeitig anzumelden.

      Und da war auch die Angst ein „Brücken-Kind“ zu sein. Es gab viele Waisenkinder nach dem Koreakrieg, die unter der Brücke lebten. Waisenhäuser gab es ja nicht. Einige der Kinder waren so klein, dass sie nicht einmal sagen konnten, wer ihre Eltern oder Geschwister waren. Sie konnten bei mitfühlenden Menschen bleiben, die den weinenden Kindern am Straßenrand ihre Hand reichten.

      Das Leben trägt viel Kraft in sich.

      Aber die gegenseitige menschliche Zuwendung ist es, die unser Leben lebenswert macht.

      Der Tag an dem ich meinen deutschen Pass bekam, ist mein dritter Geburtstag. Auch wenn ich auf dem Papier nun Deutsche bin, fühle ich mich Korea nicht weniger zugehörig. Sich zugehörig zu fühlen hat nichts damit zu tun, bei welcher Behörde man gemeldet ist. Mein Name und Geburtsdatum, wo ich geboren bin, wo ich zurzeit lebe und wie mein Geburtsname war, steht alles in meinem Pass.

      Dennoch fand ich in meinem Inneren Raum für eine veränderbare Identität. Dies ermöglicht es mir, mich in der Fremde heimisch zu fühlen.

      Die Namensgebung nehmen die meisten Koreaner sehr ernst. Da unsere Namen aus der chinesischen Bildersprache gewählt, aber koreanisch ausgesprochen werden, schreiben wir auch das chinesische Symbol neben unseren koreanischen Vornamen, um die Bedeutung in der richtigen Übersetzung zu verstehen.

      Manchmal holen sich Eltern den Rat einer Schamanin ein, damit sie auf keinen Fall einen Fehler machen bei der Festlegung der Deutung. Ein Traum der Mutter während ihrer Schwangerschaft, kann auch eine große Bedeutung für das neugeborene Kind haben. So werden für manche Kinder die Namen festgelegt, bevor sie geboren werden, weil die Eltern an die höhere Macht der Träume glauben. Es gibt viele Traumdeuterinnen in Korea, meistens ältere Frauen, die über das Leben Bescheid wissen. Erscheint im Traum ein Drache, soll es ein Junge mit großer Macht werden. Träumt eine schwangere Frau von einer schönen Blumenwiese, ein Mädchen mit anmutigem Gesicht.

      Bei der Benennung der Söhne spielen auch die Namen der Ahnen eine Rolle. Zum Beispiel verwendet man die mittlere oder die letzte Silbe aus dem Namen des Vaters. So kann man erraten zur wievielten Generation der Neugeborene gehört.

      Da der Name der Töchter nach der Heirat aus dem ursprünglichen Familiendokument entfernt wird, ist man in ihrer Namensgebung freier. Die Frauen werden nach der Heirat der neuen Familie zugesprochen. Dadurch wird ihnen ihre alte Identität genommen.

      Nach meiner Heirat mit einem deutschen Mann wurde mein Mädchenname aus dem Stammbuch meiner Familie gestrichen, aber meines Mannes Name wird im Dokument meiner Familie registriert, als hinzugekommenes männliches Familienmitglied.

      Es soll inzwischen ein anderes Gesetz geben. Gesetze, die Frauen betreffen, werden von dem augenblicklichen Gedankengut ständig verändert. Meistens von Männern.

      Mein Name bedeutet „männlicher Baum“, obwohl ich eine Frau bin. Ich habe etwas darunter gelitten, als ich noch zur Schule ging. Viele andere Mädchen hießen „wertvolle Perle“ oder „schöne Lotusblüte“.

      Meine Eltern haben sich meinen Namen überlegt,