Nam-Sig Gross

Der männliche Baum


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es gab auch kein „Ein-Kind-Gesetz“, wie es in China jahrzehntelang üblich war.

      So bin ich glücklich geboren, als fünftes Mädchen.

      Meine Großeltern väterlicherseits besaßen große Ländereien und als die Japaner diese nicht mehr als gestohlenes Besitztum für sich in Anspruch nahmen, litt die Familie meines Vaters keinen Hunger mehr. Wir konnten unsere eigene Sprache wieder sprechen. Meine Eltern mussten mir keinen japanischen Vornamen geben.

      Dem Lebenswillen und der Weltoffenheit meiner Eltern habe ich es zu verdanken so ein freies Leben zu führen. Alles war da. Die nötige Liebe und Hoffnung, das Haus mit Garten und genügend zu essen. Wir hatten kaum ein besonderes Möbelstück, aber seitdem ich denken kann, hatten wir immer ein Klavier zu Hause, weil mein Vater Musik liebte. Meine älteren Schwestern spielten Klavier und noch andere Instrumente.

      Eines Tages saugte ich gerade an der Brust meiner Mutter, als meine Schwester auf dem Klavier Mozart spielte. Da hörte ich auf zu saugen und weinte ergriffen. Meine Mutter hielt ihren Zeigefinger vor den Mund und sagte, „ganz leise weinen“ und ich weinte dann lautlos.

      Das erzählte mir meine Mutter kurz vor ihrem Tod, als ich fragte: „Mama erzähl mir von meiner Kindheit, an die ich mich nicht erinnern kann.“

      Ich habe ganz früh gelernt, wie man lautlos weint.

      In meiner Kindheit stillte ich meinen Durst mit dem Wasser aus unserem Brunnen, der im Innenhof stand.

      Eines Tages reiste ich nach Korea, um diesen meinen Brunnen wiederzusehen. Das schönste und größte Haus, wie ich es in Erinnerung hatte, war nach mehr als fünfzig Jahren schonungslos heruntergekommen. Neben großen Hochhäusern und breiten Straße wirkte das Haus klein und hilflos. Aber es war noch da.

      Ich war überglücklich.

      Ich berührte die Wände, erst nur mit meinen Fingerspitzen. Ein paar Meter ging ich so an der Mauer entlang, dann berührte ich sie mit der ganzen Hand. Ich spürte genauso wie damals, dass meine Haut die Vibration der Bewegung aufnahm und in mir eine Lust des immer wieder Berührens auslöste. In den Garten konnte ich nicht hineinschauen. Er war durch eine Steinmauer verdeckt. Mein Paradiesgarten, in dem ich mit meinem kleinen nackten Körper den Duft einer Lilie aufgenommen und dem zitronengelben Schmetterling angeboten hatte auf meiner Schulter zu ruhen. Ich bewegte mich damals nicht und wartete stundenlang auf einen vorbeifliegenden Schmetterling.

      Meistens vergeblich.

      Ich klebte Erde auf meine Haut. Die Erde war viel brauner als meine Haut. Wenn die Erde zu trocken war, mischte ich meine Spucke hinzu, damit sie klebrig wurde und besser auf meiner Haut haften konnte. Ich verschmolz mit der Erde und ruhte in ihr. Dort lernte ich die vier Jahreszeiten kennen. Die Jahreszeiten eines Kindes, dessen Wahrnehmung nur deren angenehmen Duft in der Erinnerung eingraviert hatte.

      Mit meinen erwachsenen Augen sah ich mein riesiges Schloss aus der Kindheit, ein Haus mit drei kleinen Zimmern, einer Küche, und einem Bad für die Eltern, sechs Kinder und die Oma. Als das Haus gebaut wurde, kurz nach dem Krieg, gab es kein Baumaterial wie Fliesen oder gutes Holz. Unsere Küche war nicht nur zum Kochen da, sondern auch der zentrale Heizraum. Wenn frühmorgens gekocht wurde, wurden allmählich auch die Schlafräume warm, weil die Zimmer durch Hohlräume unter dem Fußboden mit der Feuerstelle verbunden waren. Wegen nicht vorhandenem Brennholz war dann Reisstroh, das im Herbst geerntet wurde, das einzige Brennmaterial. Einer musste ständig Stroh nachlegen, damit das Feuer nicht ausging, bis der Reis gar war.

      Je näher an der Kochstelle desto wärmer war der Fußboden in den Zimmern. Wir Kindern stritten oft, wer auf dem wärmsten Platz liegen durfte, während der eiskalten Wintertage. Wenn meine Mutter ganz früh morgens mit dem Kochen anfing, weil wir vor der Schule auch eine warme Mahlzeit zu uns nehmen sollten und wir unser Mittagessen in einer Blechdose mitnahmen, war für uns die Welt in Ordnung.

      Der Essensduft und der immer wärmer werdende Fußboden machten unsere Seelen und Körper absolut glücklich.

      Unser Badezimmer bestand aus einer gusseisernen Badewanne, die auf primitivem Zementboden stand. Nicht einmal im Traum hätten wir daran gedacht, dass irgendwo auf der Welt automatisch heißes Wasser aus einer Leitung fließen könnte. Das Bad diente auch als Waschraum zum Reinigen der Kleidung von neun Personen. Dafür gab es ein Waschbrett aus Holz, das mit mehreren Rillen versehen war. Wenn das Brunnenwasser im tiefen Winter einzufrieren drohte, war das ein großes Problem und keiner wusste so recht, wie man es verhindern konnte.

       Das Haus hatte einen geräumigen Innenhof mit dem überdimensional großen Brunnen. Wir zogen unser nötiges Wasser in einem Eimer, der aus Blech hergestellt war, mit einem Seil hoch. Wenn wir Kinder beim Spielen geschwitzt hatten, durften wir mit frischem Brunnenwasser duschen. Wir machten unseren Oberkörper frei und bückten uns ganz tief, sodass das Wasser aus dem Eimer über unseren Rücken floss.

      Dieser hohe aus Stein gebaute Brunnen war nicht tief, so dass wir das Seil nicht so lang herunterlassen mussten, um Wasser zu bekommen. Wenn die Sonne in den Brunnen hineinschien, konnte man den Boden sehen, so klar war das Wasser, das sich darin sammelte.

      Als es eines Tages so weit war, dass ich selbst den Innenraum des Brunnens sehen konnte, ohne von meinen älteren Geschwistern angehoben zu werden, fühlte ich mich erwachsen. Von da an konnte ich auch mein Wasser mit eigenen Händen hochziehen. So wusste ich, dass ich meinen Durst nun jederzeit selbst stillen konnte.

      Aber es dauerte nicht lange, da zogen meine Eltern in die Hauptstadt nach Seoul, um uns Kindern eine bessere Bildung zu ermöglichen.

      Als jüngstes Kind behielt ich mein ganzes Leben lang die Sehnsucht nach dem Duft der Gartenerde und nach dem Brunnen, die mir nur so kurze Zeit zur Verfügung gestanden hatten.

      Nun stand ich als ältere und fremde Frau vor der Haustür, weil ich noch einmal diesen Brunnen sehen wollte. Als ich vorsichtig an die Holztür klopfte, kam ein alter Mann und fragte, was ich wollte. Ich sagte: „Ob ich einen Blick in das Haus werfen darf? Hier wohnte ich als kleines Kind.“ Er schaute mich ganz genau und nachdenklich an, blieb aber stumm, fragte nicht wo ich jetzt lebe und warum ich zurückgekehrt sei.

      Ich fand meinen Brunnen.

      Er war so niedrig, dass er gerade mal bis zu meiner Hüfte reichte. Auf seinem Grund wuchsen ein paar grüne Pflanzen, die schon den Rand erreicht hatten. Der Brunnen war lange ausgetrocknet. An dem Tag schien keine Sonne. Ich hätte ihre Spiegelung im Brunnenwasser sehr vermisst. Der alte Mann sagte beim Abschied: „Leider müssen wir bald ein neues Zuhause finden. Das Haus wird abgerissen, weil neue Hochhäuser gebaut werden.“ Ich machte ein paar Fotos. Unauffällig. Ich war glücklich mit meiner alten Haut die Erinnerung aus meinen Kindertagen wiederaufnehmen zu können.

      Den Garten konnte ich nicht wiedererkennen. Die Schneeballblumen und die Lilie waren nicht mehr da. Nur der Kakibaum stand noch.

      Ich verdrängte, was der alte Mann beim Abschied gesagt hatte.

      Manche Tatsachen werden gewollt vergessen.

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