Hanns van Kann

Was einem so auffällt


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      Aber eine geniale Erfindung hilft uns dabei. Einem Spanier könnte sie eingefallen sein.

      Ich meine die Automaten, aus denen sich Nummerntickets ziehen lassen. Kleine Zettelchen mit Zahlen drauf, die einem zeigen, als Wievielter man in einer Warteschlange an der Reihe ist, ob vielleicht noch Zeit genug bleibt, etwas anderes zwischendurch zu erledigen, vielleicht einen Kaffee zu trinken. Eine Leuchtanzeige ruft den Nummernhalter auf, der als nächster bedient wird. Diese Ticketautomaten erfreuen sich zunehmender Beliebtheit und sind überall dort zu finden, wo sich eine längere Schlange bilden kann, z.B. in den Markthallen an einer Fischtheke, wo die Verkäuferin lange Zeit damit verbringt, den gekauften Fisch unter den kritischen Augen einer wartenden Menge und mit deren Ratschlägen fachgerecht zu zerlegen. Oder an einer Wursttheke, wo jemand eine unendliche Zeit damit verbringt, sich von jeder Wurstsorte zwei oder drei Scheiben „aufschneiden“ und abpacken zu lassen. Kann auch die Käsetheke sein. Sogar ein Juweliergeschäft in der Altstadt von Palma hat so ein Ding an der Wand. „Nur eine Frage, mein Herr...“ und schon wurde mir bedeutet, ein Ticket zu ziehen. „Sie sehen doch, mein Herr ... es sind noch Kunden vor Ihnen an der Reihe.“ In der Tat: Gerade wurde Nummer 129 bedient. Ich hatte die Nummer 133 und bin gegangen, ohne meine Frage losgeworden zu sein. Der Juwelier nebenan hat noch keinen Ticketautomat.

      Kennen Sie noch das alte Gasthaus an der Kreuzung der Straße von Llucmajor nach Rapita? Das mit dem Walnußbaum, wo die Hühner immer über die Fahrbahn laufen? Ja, richtig, das meine ich. Weil er dort so gut ist, trinken wir da auf unserem Weg nach Es Trenc, dem schönen Strand im Süden der Insel, gern einen Cortado. Sie kennen ihn ja, den kleinen Schwarzen mit etwas Milch, auf unserem Weg nach Es Trenc, dem schönen Strand im Süden der Insel. Da wohl auch andere und besonders Radfahrer die Gastronomie hier schätzen und vorzugsweise an Sonntagen eine Verschnaufpause einlegen, hat der Wirt, der ständigen Drängeleien überdrüssig, ebenfalls einen solchen einfachen Regulierungsautomaten installiert. „Kaffeeholer Nummer 21, bitte vortreten“, so etwa läuft das jetzt alles, gesittet und ohne Prügeleien. “Tranquilo“ eben. Wirklich praktisch, diese Automaten, und menschenfreundlich.

      Oder versetzen Sie sich in ein deutsches Postamt, so es ein solches in Ihrer Nähe überhaupt noch gibt. Eine endlose Schlange frustrierter Bürger unseres Landes, weil von den x Schaltern nur einer besetzt ist. Sie stellen sich an und werden innerlich immer grolliger, je länger der vor Ihnen damit beschäftigt ist, seine Postbankgeschäfte abzuwickeln oder Rentenangelegenheiten zu klären. Noch eine Frage, noch eine Antwort, endlos meinen Sie. „Hört das denn nie auf da vorn?“ und treten von einem Bein aufs andere, murren, schimpfen, bis Sie endlich Ihre Briefmarke haben. Nichts anderes wollten Sie doch!

      Können Sie sich das, nachdem ich Ihnen gerade den Ticketautomaten beschrieben habe, auch in Spanien vorstellen? Nein, Sie können es nun nicht mehr und beneiden uns und die Menschen hier. Jeder Postbesucher zieht ein Ticket, rekelt sich oder sitzt, je nach Temperament, in den großzügig angebotenen Sesseln, liest den Diario oder El Pais, auch je nach Temperament, und wartet, bis über einem der zahlreichen Schalter seine Nummer aufleuchtet. Entspannt erhebt er sich, legt die Zeitung beiseite und geht ruhigen Schrittes auf seine Schalter zu. Hier empfängt ihn der ebenfalls entspannte, von keiner langen Warteschlange vor seinen Augen entnervte, mallorquinische Postbeamte gutgelaunt mit einem „Buenos dias, que tal?“ Können Sie sich vorstellen, ein hessischer Postbeamter würde Sie am Schalter so begrüßen? Oder gar fragen „Hallo, lieber Freund, wie geht`s?“ Na, da müssen Sie doch lachen!

      So regelt ein einfacher Ticketautomat an der Wand auf simple Art den zwischenmenschlichen Verkehr. Er nimmt die aufgestauten Streitsüchte, verhilft zu südländischer Gelassenheit und lehrt die Anderen, die von draußen kommen, die extranjeros, „Tranquilo“. Wie weise gedacht von dem Erfinder.

      Aber das war nicht immer so. Auch Mallorquiner sind Menschen und suchen sich ihre Vorteile. Heute noch, gelegentlich. Ich meine jetzt nicht solche aus Landverkäufen oder die aus den engen Verbindungen zu Brüsseler Fondstöpfen, sondern solche im täglichen Leben. Zum Beispiel beim Anstehen vor einem Konzert in einem der wunderschönen alten Patios in der Altstadt von Palma. Von diesen Veranstaltungen während der Fronleichnamswoche habe ich Ihnen ja schon berichtet. Wissen Sie es noch? Auch noch die Geschichte, als ein Windstoß dem Violinvirtuosen das Notenblatt vom Ständer wehte? Sie können sich nicht besinnen? Macht nichts, gern erzähle ich sie Ihnen schnell noch einmal. Keine Sorge. Ich verliere den roten Faden schon nicht. Also „Tranquilo“!

      Smerald Spahiu, dieser begnadete Künstler, hub gerade an mit dem 2. Satz der Sonate Nr. 6 in A Dur von Paganini, ich glaube, es war das Allegro assai. Behutsam ließ er den Bogen über die Saiten des wertvollen Instruments streichen, das Publikum lauschte ergriffen. Großartig, dieser Künstler, wie er es versteht, Paganini zu interpretieren. Da, ein Wind kam auf, vom Meer hergetragen. Leicht, ganz leicht nur wehte er durch den Innenhof des CAN ZAGRANADA, im 16. Jahrhundert das ehemalige Wohnhaus der Familie Rossinyol de Sagrada – welch ein klangvoller Name! – einem Schmuckstück mittelalterlicher Baukunst. Sonst, bei sommerlichen Temperaturen, empfindet man auf Mallorca einen leichten Wind als sehr angenehm, man ist ihm dankbar. Jetzt aber waren ihm Paganinis Sonatennoten im Weg, er blies sie hinweg vom Notenständer, unversehens, rücksichtslos, geradewegs auf den jahrhundertealten Natursteinboden. Stellen Sie es sich vor! In einem Konzert! Vor vielen Menschen! Es half auch nicht das verzweifelte Bemühen des Künstlers, sie unter unglaublichen Körperverrenkungen mit dem Instrument in der einen, dem Bogen in der anderen Hand am Fallen zu hindern. Das Notenblatt nahm seinen Weg.

      Unruhe im Hof, Schweißtropfen auf Spahius Stirn. Ein Musikfreund sprang auf, übrigens ein deutscher Tourist, wie sich später herausstellen sollte. Beherzt griff er das Notenblatt und versuchte, ja, er versuchte es auf seinen Platz auf dem Notenständer zurückzulegen und mit der unverzichtbaren Wäscheklammer zu fixieren. Achten Sie mal bei einem Konzert im Freien – in unserem Deutschland werden Sie allerdings nur selten Gelegenheit dazu zu haben – auf dieses Requisit. Also, er versuchte, sagte ich – doch es sollte mißlingen. Die Klammer sprang ihm in der verständlichen Aufregung aus der Hand, und wieder lag das Blatt auf dem ehrwürdigen Boden des Patios. Erneutes Bücken, Aufnehmen, endlich auf dem Notenständer mit der Klammer sichern. Spahiu begann erneut mit dem 2. Satz, nachdem das Publikum die spontane Hilfsaktion mit reichem Beifall quittierte, wie Sie sich denken können. Und später dann auch das einfühlsame Spiel des sich dankbar verneigenden Virtuosen.

      Es wäre dazu noch viel zu sagen, aber ich will nicht noch weiter abschweifen. Ich wollte Ihnen doch über die Erfahrungen beim Anstehen um einen Konzertplatz berichten. Aus uns unerfindlichen Gründen werden die Tore der Patios erst kurz vor Beginn der Veranstaltungen geöffnet. Jedem wird einleuchten, daß die Reihe der Einlaß heischenden Konzertfreunde immer länger wird, zumal kein Eintrittsgeld zu bezahlen ist. Wer nicht bei den ersten Anstehenden ist, den – nein, den bestraft nicht etwa das Leben, soweit will ich nicht gehen – aber der hat später beim Kampf um eine guten Sitzplatz das Nachsehen. Denken Sie an das Paganini-Konzert mit Smerald Spahiu. Da es dort noch keine Ticketautomaten gibt, bedeutet das, sich eine Stunde vorher anzustellen und auszuharren. Man sieht sich um, sieht dabei dies, sieht das und man sieht auch den einen oder anderen Mitbürger, wie er von ungefähr an der Schlange entlangflaniert. Einfach nur so, hin und her – meint der Unkundige, aber auch nur der. Jetzt muß man aufpassen, was passiert:

      Der Auf- und Abgehende verhält, sieht rein zufällig und bemerkenswerterweise immer im vorderen Drittel der Schlange einen alten Bekannten, winkt ihm zu und schon wechseln sie über Köpfe hinweg zunächst nur einzelne mallorquinische Worte, solche, die Sie und ich nicht verstehen, die beide jedoch ungemein zu interessieren scheinen. Sie wechseln weiter, Sätze nun schon, und führen, ehe man sich`s versieht, ein anregendes Gespräch. Die Umstehenden, so Mallorquiner, folgen dem mit wachsender Aufmerksamkeit. Die anderen, Nichtmallorquiner, verständnislos, sichtlich verärgert. Da man es gewohnt ist, alles der Reihe nach zu tun, zuhören nämlich und aufpassen, übersehen die Mallorquiner gern, daß sich der Flaneur, wieder wie von ungefähr, längst in die Schlange eingereiht hat, um nun, nach herzlicher Umarmung, ein Kuß links, ein Kuß rechts, den begonnenen Meinungsaustausch zu intensivieren. Er hat seinen Platz gefunden und hält ihn, der Schlaumeier, mit der Aussicht auf einen bevorzugten Sitz im Patio aus dem 16.Jahrhdrt. Dann hätte es auch er sein können, der das heruntergewehte