wurde bleich.
„Hat sie dir das wirklich erzählt? Was hat sie noch gesagt?“
„Aber Mutter, Freya ist ein Mädchen und hat ständig irgendwelche Träume. Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie sich neuerdings nachts mit alten Frauen trifft?“
Darauf wusste Gerda keine Antwort, zumindest keine, die zu geben sie bereit war.
„Es ist nichts weiter. Aber höre auf, deiner Schwester Angst einzujagen. Versprich es mir. Du bist ihr Bruder und musst sie beschützen.“
Baldur bekam rote Ohren.
„Ich verspreche es!“
„Dann geh zu deiner Schwester und entschuldige dich.“
Nachdem Baldur den Raum verlassen hatte, sank Gerda auf einen Küchenstuhl. Was hatte Freyas Traum zu bedeuten? War es nur ein Traum, oder war ihr wirklich eine Frau erschienen? Natürlich war es keine Winselmutter gewesen. Die Anwesenheit dieser Todesbotin hätte Gerda gespürt. Konnte es sein, das die Schwesternschaft nach so vielen Jahren versuchte, Kontakt aufzunehmen?
War das Gejammer in Wirklichkeit eine Botschaft in der alten Sprache ihres Volkes? Und warum erschienen sie ihrer Tochter und nicht ihr?
Das waren viele Fragen auf einmal und die Beantwortung einer jeden war wichtig. Aber wo sollte sie nach Antworten suchen?
Es war lange her, dass sie mit einem Mitglied ihres Standes geredet hatte.
Es war auch kein angenehmes Gespräch gewesen, genauer gesagt könnte man es auch als Streit bezeichnen, ein Streit, der ihr Leben verändert hatte.
Gedankenverloren sah Gerda die Bilder von damals in Ihrem Gedächtnis auftauchen…
Niemand konnte sagen, wie es geschehen war, dass die Ereignisse ein derartiges Eigenleben entwickeln konnten. Gerade noch waren die Schwestern vom Orden der Lamia gefürchtet, aber auch verehrt worden. Man erkannte ihre Überlegenheit und ihre Macht an, opferte ihnen und errichtete Tempel zu Ehren der alten Götter, welche den Schwestern ihre Macht verliehen hatten. Doch dann waren, zunächst nur vereinzelt, Stimmen laut geworden, die gegen die Bevormundung durch die Schwesternschaft aufbegehrten. Aus den einzelnen Stimmen wurde schon bald ein vielstimmiger Chor.
Die Menschen gingen soweit, den Schwestern alles Übel der Welt zur Last zu legen. Wann immer etwas Fürchterliches geschah, machte man eine Hexe dafür verantwortlich. Zu guter Letzt rief der Anführer der Menschen seine Artgenossen zur Jagd auf die Schwesternschaft auf. Aus diesem Grund hatten sich die Schwestern heute versammelt. Sie wollten ihre Vorgehensweise beraten. Die Macht musste zurückerlangt werden. Hilda war die Älteste und zugleich die Anführerin. Jeder hatte Respekt vor ihr, ihr Wort galt als Beschluss!
Doch heute hatte ihre Autorität einen erheblichen Schaden erlitten, und der Grund war Gerda und ihre Starrköpfigkeit.
„Du weigerst dich, unseren Entschluss umzusetzen?“
Fassungslosigkeit zeichnete sich in Hildas Gesicht ab. Die Blicke aller Anwesenden waren auf sie und Gerda gerichtet.
„Ich sehe ganz einfach keine Notwendigkeit darin, den Dreckpfuhl aufzusuchen, den die Menschen Stadt nennen. Lasst sie doch toben. Auch das geht irgendwann vorbei. Sie können uns nicht gefährlich werden!“
Gerda hatte bei ihren Worten trotzig ihr Kinn nach vorn geschoben.
Sie würde diesen Wahnsinn nicht mit machen, nicht dieses Mal.
Es war die verrückteste Idee, die Hilda je gehabt hatte. Gerda sollte zu den Menschen gehen und herausfinden, wie stark sie wirklich waren und ob man sich vor ihnen fürchten musste. Sie sollte verkleidet unter ihnen leben, ein Gleicher unter Gleichen. Diese Schmach würde sie nicht über sich ergehen lassen.
„Entweder beugst du dich dem Entschluss der Mehrheit oder du bist nicht länger eine von uns.“
Die Zeit schien still zu stehen, alle hielten den Atem an. Das war ungeheuerlich! Noch nie war eine der Schwestern aus der Gemeinschaft verbannt worden. Gerda konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte.
„Seit wann bist du die Mehrheit, Hilda? Wenn dir so viel an deinem Plan liegt, dann geh doch selber!“
„Bitte sei vernünftig, Gerda. Du bist die Jüngste von uns und kannst mit deinem Aussehen problemlos unter ihnen leben Wir brauchen dich.“
Erst drohen, dann schmeicheln- typisch Hilda. Zornig wollte Gerda auffahren, doch dann sah sie die Angst in Hildas Augen. Das verwirrte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.
Ach, hätte sie doch die Angst richtig gedeutet, hätte sie doch nur eine Ahnung der folgenden Geschehnisse gehabt.
„Na gut ich gehe. Aber wenn ich wiederkomme, habe ich etwas gut bei dir!“
„Was immer du willst, mein Täubchen.“
Hilda wusste, dass sie es hasste, wenn man sie „mein Täubchen“ nannte.
„Geht es dir gut, Liebste? Du bist blass!“
Mühsam zerriss Gerda den Schleier der Erinnerungen. Sie hatte sich soweit in die Vergangenheit geträumt, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Arnulf nach Hause gekommen war.
„Ich habe nur nachgedacht. Baldur hat Freya heute schreckliche Geschichten über die Winselmutter erzählt. Du kennst ja unsere Tochter. Sie ist sofort in Tränen ausgebrochen.“
„Ich werde mit dem Jungen reden.“
Hilflos hob Arnulf die Schultern. Er würde natürlich nicht ernsthaft mit Baldur schimpfen. Das war nicht seine Art. Arnulf war ein gutmütiger Mann, zu gutmütig, wie Gerda manchmal fand.
Vom Wesen her ähnelte er eher Freya, während Gerda und Baldur einen ähnlichen Charakter hatten.
„Wie war es in der Stadt? Hast du alles bekommen?“
Es war Arnulf deutlich anzusehen, wie angenehm ihm der Themenwechsel war.
„Bis auf den Ballen Stoff habe ich alles mitgebracht. Letzte Nacht haben Unbekannte beim Tuchhändler eingebrochen. Sie hatten es wohl auf die Weinfässer abgesehen, die er in seinem Keller lagert. Jemand hat sie anscheinend dabei überrascht und übel zugerichtet. Es soll ausgesehen haben, als wären sie von einem Wolfsrudel angefallen und zerfleischt worden. Niemand konnte sie bisher identifizieren.“
Betroffen sah Gerda ihren Mann an.
„ Glaubst du es war der Tuchhändler?“
„Wohl eher nicht. Er liegt zusammen mit den Dieben tot in seinem Keller.“
„Erik ist tot? Aber wer sollte den zu so etwas fähig sein?“
Arnulf zuckte mit den Schultern.
„ Du solltest doch besser als ich wissen, wozu Menschen fähig sind. Schließlich haben wir uns nicht ohne Grund für ein Leben ohne Nachbarn entschieden.“
Er hatte Recht, mehr sogar, als er ahnen konnte. Gerda hatte oft gesehen, was Menschen einander anzutun in der Lage waren, zu oft. Aber dennoch war sie diesmal beunruhigt. Es fühlte sich seltsam an, als wäre alles, was im Moment geschah unglaublich wichtig.
„Vielleicht sollte ich selber in die Stadt reiten. Ich kann den Stoff ja auch auf dem Markt kaufen.“
Arnulf sah seine Frau ängstlich an.
„ Du willst allein in die Stadt?“
„ Jetzt tu doch nicht so, als wäre ich ein kleines Kind. Du weißt, dass ich sehr gut auf mich selbst aufpassen kann. Wenn ich mich beeile, kann ich am frühen Abend wieder zurück sein.“
Die Stadt Wolfsstein war nur acht Meilen entfernt. Sie verdankte ihren Namen einem gigantischen