Uwe Westphal

Ehrenfried & Cohn


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aber immerhin fast perfektes Hochdeutsch, er zwang sich dazu. Das Jiddische war ihm zuwider. Was wollte er schon von der Herkunft seines Vaters und der Großeltern wissen?

      Die Frankreichreisen sollten Kurt vor allem helfen, sein Französisch fürs Abitur zu verbessern.

      Seine Mutter, die er liebte, aber niemals als besonders gebildet wahrnahm, wünschte sich, dass Kurt Lehrer würde. Er sollte es zu etwas bringen. Als Vorbild dienten ihr viele andere Berliner jüdische Familien in Charlottenburg, die meistens eine französische Haushälterin oder ein Kindermädchen hatten und die dann die Kinder gleich in zwei Sprachen erzogen.

      Kurt war im guten Mittelschnitt seiner Klasse, obwohl während der letzten Kriegsjahre der Unterricht oft ausgefallen war. Ihm war es ziemlich egal, welche tieferen Beweggründe seine Eltern mit dem Urlaub verbanden. Er hatte sich dieses Mal besser auf die Reise vorbereitet. Nur nicht ganz so, wie seine Eltern es wollten. Kurt hatte zum ersten Mal seinen eigenen Koffer mit, und er hatte ihn vollgepackt mit sportlicher und legerer Bekleidung, die ihm seine Mutter noch kurz vor der Abreise im Kaufhaus Nathan Israel nach einigem Bitten und Drängen gekauft hatte. Kurt, eher hager, für seine 17 Jahre aber immerhin schon 175 cm groß und etwas schlaksig, hatte in der Herrenabteilung des Kaufhauses einige Anzüge anprobiert, schließlich einen dunkelblauen Leinenanzug und gleich mehrere Hemden mit weiß abgesetztem Kragen und umschlagbaren Ärmeln mit Manschetten ausgewählt. Denn endlich wollte auch er Manschettenknöpfe tragen, und die abendlichen Restaurantbesuche boten sich dazu bestens an. In der Freizeit- und Sportabteilung des Kaufhauses Wertheim hatte er schon im Juni zwei Paar Wildlederschuhe gekauft, außerdem englische Loafers für den Strandspaziergang. Ein ebenso elegantes wie praktisches Schuhwerk, ohne Schnürsenkel, einfach zum Hineinschlüpfen. Dazu aus der Sportabteilung bei Nathan Israel eine schwarze Badehose mit weißen Streifen an der Seite – genauso ein Modell, wie er es in einer Modezeitschrift in einem Bericht über britische Schwimmer auf einem Foto gesehen hatte. Kurz, Kurt fühlte sich bestens ausgerüstet für die Abende auf der Fähre, vor allem für den Dinnersaal und fürs Flanieren in der Altstadt von Saint-Malo am Nachmittag. Kurt mochte gute Bekleidung und konnte sich niemals satt sehen an den exzellent gekleideten Frauen, die er auf dem Schiff genauestens zu beobachten pflegte. Aber genau das war nun etwas, was seinem Vater völlig unsinnig erschien. Für ihn waren die eleganten Abendempfänge pure Zeitverschwendung. Auf den vergangenen Reisen hatte sich Isidor Ehrenfried schon meistens um 20 Uhr in die Familienkabine verzogen und schnarchend bis zum Morgen durchgeschlafen. So war es auch diesmal. Kaum hatten die Ehrenfrieds von der Bordbesatzung ihre Kabine zugewiesen bekommen, legte sich Isidor erst einmal hin und schlief sofort ein.

      Für Kurt waren die Minuten vor dem Ablegen des Schiffs im Hamburger Hafen die spannendsten. Während seine Mutter die kleinen Schmuck- und Parfümläden auf dem vierten Zwischendeck aufsuchte und nach französischen Parfums durchstöberte, stand Kurt hoch oben an der Reling und wartete auf das Ablegen des laut tutenden Dampfers, dessen drei hohe und fauchende Schornsteine den dicken Dieselrauch in den Himmel bliesen. Mit ihm standen dort noch viele Passagiere, einige winkten wohl Verwandten und Freunden zu, die nicht in Ferien fahren konnten, andere waren einfach fasziniert von dem Lärm der Motoren, die das Schiff bei den engen Wendemanövern im Hafen auf dem Weg in die See erzittern ließen. Abschied, so dachte Kurt, das ist auch ein schönes Gefühl.

      Das Fährschiff nahm jetzt Kurs auf die offene See. Der Hamburger Hafen wurde am Horizont immer kleiner. Zielhafen der Fähre war Bilbao. Das war auch der Grund, warum so viele spanische Passagiere an Bord waren. Laut palavernd und aufgeregt liefen die meisten von einer Seite des Schiffes auf die andere, und kaum waren sie dort angekommen, rief irgendjemand wieder etwas von der gegenüberliegenden Seite, und fast alle rannten wie fröhliche Kinder zurück. Fast pausenlos machten sie Fotos, und auch Kurt hatte seine Leica-Kamera mitgenommen. Ihm gefiel das Spektakel, und er machte am Oberdeck auch schnell die Bekanntschaft mit einem spanischen Mädchen. Er schätzte es auf 16 Jahre, und es war sicher auch mit den Eltern auf der Reise nach Bilbao. „How do you like the Ferry?“, fragte Kurt ein wenig unbeholfen. Und mit einem Strahlen, als wäre es ihr eine große Freude, mit Kurt ins Gespräch zu kommen, antwortete sie mit spanischem Akzent, ohne seine Frage offenbar verstanden zu haben: „How do you do? My name is Maria.“ Auch Kurt stellte sich vor, lächelte Maria an und verabschiedete sich. “See you later, Maria“, sagte er und stieg die Treppen zu den Unterdecks hinab, um nach seiner Mutter Ausschau zu halten. Obwohl die Begegnung nicht länger als eine halbe Minute gedauert hatte, hoffte er, Maria während der zwei Reisetage nach Saint-Malo wieder zu sehen. Draußen auf den engen Gängen der Fähre wurde es etwas ruhiger, dafür erklang nun aus dem Schiffsrestaurant Musik. Die Klänge der Swing-Band drangen leise und zart bis in die Kabine der Ehrenfrieds. Kurt war glücklich. Er freute sich auf die Ferien.

      Kapitel 1

      Berliner Hitze

      Kurfürstendamm, Berlin, Juni 1935, Café Reimann. Drinnen herrschen Gedränge und Hektik, es duftet nach aufgebrühtem Kaffee und frisch gebackenen Schrippen, nach Kuchen. Von draußen dringt der Krach der vorbeifahrenden Straßenbahnen und Autos. Passanten winken, Droschken hupen. Im Reimann die gestikulierenden und schwatzenden Modeschöpfer, Vertreter, die Zwischenhändler, die Konfektionäre. Ein Bazar im Herzen Berlins. Das Reimann.

      Die neuesten und wildesten Branchengerüchte über Auftragslagen, Lieferengpässe und billige Bankkredite. Um Geld geht es fast immer. Und über Spekulationen darüber, welcher Konfektionär welchem Konkurrenten die besten jungen Talente abwerben möchte. Wurde nicht über das Einkommen gesprochen, dann darüber, welcher erfahrene Konfektionär gerade wieder ein neues Auto gekauft hatte oder den Betrieb wechselte. Und der Tratsch: Wer hat gerade mit wem eine Affäre? Wer hat sich in einer der privaten Badeanstalten daneben benommen? Ehrenfried bestellte sich wie fast jeden Morgen seinen Kaffee im Reimann. Immer ohne Milch und Zucker, alle Kellner wussten das, die Bedienung war schnell, hier kannte man sich. Das Reimann war für Ehrenfried so etwas wie ein zweites Büro geworden. Was die Banken und die Wall Street für die Aktionäre waren, das war das Reimann für die Berliner Bekleidungsindustrie. Ehrenfrieds Firma Ehrenfried & Cohn in der Mohrenstraße war nur fünfzehn Autominuten vom Café entfernt; auf dem Weg dorthin besorgte sich Ehrenfried jedes Mal schnell die neuesten Zeitungen und Magazine. Die Mohrenstraße lag inmitten des Berliner Konfektionsviertels, das im Norden vom Prachtboulevard Unter den Linden, im Westen durch die Friedrichstraße, im Süden von der Kochstraße und im Osten durch die Jerusalemer Straße begrenzt wurde. Jedes Mal, wenn Ehrenfried im Reimann saß, hatte er das unbestimmte Gefühl, als hätten er und die vielen anderen jüdischen Cafébesucher ihr Reimann verteidigt und gehalten. Denn etwa vier Jahre zuvor, am 12. September des Jahres 1931, war das Reimann von Nazis überfallen worden. Kurt und Lore hatten an jenem Abend die Synagoge in der Fasanenstraße verlassen, wo sie mit vielen anderen Juden das Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest begangen hatten. Als sie auf die Straße traten, erblickten sie mit Schrecken brüllende Nazihorden. „Prost Neujahr! Juda verrecke! Deutschland erwache!“, so scholl es durch die Straßen. Die Nazis prügelten auf Passanten ein, die sie für jüdisch hielten. Ein älterer Mann in Begleitung einer Dame wurde niedergeschlagen und am Boden liegend mit Fußtritten traktiert. Die Polizei schritt nicht ein. Sie hielt sich zurück. Einige Augenzeugen kommentierten solche Szenen kaltherzig und ungerührt: „Warum tragen diese dicken Jüdinnen auch Pelze und Blumensträuße?“, und: „Die Leute haben recht. Auf der einen Seite Not und auf der anderen Festtagskleider.“ Immer wieder hallten die Parolen über den Kurfürstendamm: „Juda verrecke! Schlagt die Juden tot!“. Die Nazitrupps schlugen die Scheiben des Reimann ein. Schüsse fielen. Einige Cafébesucher wurden schwer verletzt. Die Rädelsführer des Pogroms wurden später zu geringen Geldstrafen verurteilt. Vor Gericht waren sie von Roland Freisler und Hans Frank verteidigt worden. Jetzt, vier Jahre später, waren Ehrenfried und viele andere jüdische Konfektionäre noch immer Stammgäste in ihrem Café Reimann.

      Schon während der Fahrt in seinem Mercedes Benz Richtung Reimann hatte Ehrenfried einen Blick auf die Zeitungen geworfen. Politik interessierte ihn, viel wichtiger aber waren die Wirtschaftsseiten mit den Devisenkursen. Obwohl er nun wirklich keinerlei Sympathien für die Nazis hatte, bewunderte Ehrenfried doch die Stabilität der Reichsmark. Nur zu gut konnte sich Ehrenfried an die Inflationszeit erinnern, die Deutschland im Jahre 1923 heimgesucht hatte. Damals hatten manche Händler