Uwe Westphal

Ehrenfried & Cohn


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aus diesem Konflikt gesucht hätte. Natürlich ärgerte es Ehrenfried auch, als jüdischer Chef bezeichnet zu werden, das empfand er schon fast als eine Verunglimpfung seiner Person.

      Windschild und Glasow also, die NSDAP-Parteimitglieder, nun plötzlich als Partner und Anteilshaber eines jüdischen Konfektionsbetriebs? Ehrenfried hörte im Innersten Max Graumann aufjaulen. Und Simon Cohn würde ihn für völlig verrückt erklären. Was dann aber geschah, das verwunderte selbst Ehrenfried, der inzwischen nicht einmal mehr den muffigen Essensgeruch in der Werkstatt wahrnahm. Glasow, der schon viele Jahre im Betrieb verbracht hatte und der vor wenigen Minuten noch von Ariern und jüdischen Chefs schwadroniert hatte, wurde ganz zugänglich.

      „Das ist ein faires und großzügiges Angebot“, sagte er mit fast gönnerhafter Miene und sah dabei Windschild an. Er wollte wissen, wie hoch der Prozentsatz denn werden könne und verfiel dabei gleich wieder in seine etwas devote Haltung, die er als Angestellter jahrelang wahrlich nicht nur gespielt hatte. Ehrenfried war das jetzt erst einmal einerlei. Es war überhaupt nicht seine Art, alle Karten gleich auf den Tisch zu legen. Noch wusste er ja nicht, welche Trümpfe er hatte.

      Erst einmal hatte sein Angebot die Wirkung nicht verfehlt. Ehrenfried hatte Zeit gewonnen, die neuen Geschäftsmodalitäten auszuhandeln und musste nicht über die angeblichen Gräben zwischen Juden und Ariern reden. Das hätten Windschild und Glasow wohl gern so gehabt. Dabei hatten diese Unterschiede für den Aufstieg der Firma „Ehrenfried & Cohn“ überhaupt keine Bedeutung gehabt. „Gut“, sagte Ehrenfried lächelnd und wieder ganz der alte Arbeitgeber, „dann ist diese Versammlung ja jetzt beendet, und wir haben ein Ergebnis. Bitte denken Sie über das Angebot nach. In den kommenden Wochen werden wir konkrete Schritte einleiten.“ Mit der Aussicht auf dieses weitere Geschäftstreffen und dem Hinweis auf die zukünftige gute Zusammenarbeit verabschiedete Ehrenfried sich Richtung Werkstattausgang, vorbei an David Landauer, der im Türspalt stand und alles mit angehört hatte.

      Als Ehrenfried in der warmen Sommerluft vor dem Firmengebäude in der Mohrenstraße 24 stand, schaute er auf seine Armbanduhr. Obwohl die Begegnung nur fünfzehn Minuten gedauert hatte, fühlte sich Ehrenfried erschöpft. Er atmete tief durch und sah Landauer an, der jetzt ebenfalls draußen vor der Tür stand. Als Ehrenfried noch ein Kind gewesen war, hatte ihm sein Vater Isidor manchmal Bilder gezeigt. Vergilbte Familienfotos aus Posen. Landauer erinnerte Ehrenfried an manche Gestalt auf diesen Fotos. Familien mit zehn oder gar mehr Kindern waren da zu sehen. Sein Vater, damals noch unverheiratet, hatte seine Familie und seine Heimat im Jahre 1896 auf dem Weg in die große und stürmisch wachsende Metropole Berlin mit ihren vielversprechenden Handelschancen zurückgelassen.

      Die meisten Männer auf diesen Fotos trugen eine Kopfbedeckung. Sie sahen sehr biblisch und deshalb fast alle gleich alt aus. Die Männer aus Ehrenfrieds Familie waren in Posen seit gut 80 Jahren fast ausnahmslos im Altkleiderhandel beschäftigt. Denn nur der war den Juden erlaubt. Der Handel, die Herstellung und der Verkauf neuer Bekleidung unterlagen den strengen Bedingungen der Handwerkskammern. Die verlangten einen Gesellenabschluss oder sogar eine Meisterprüfung für die Herstellung von Bekleidung und die Ausbildung von Lehrlingen. Jüdische Schneider erhielten fast nie die Anerkennung der Handwerkskammern. Denn die fürchteten die Konkurrenz und die niedrigen Preise der jüdischen Schneider. Dennoch, das wusste Ehrenfried sehr gut: In den dörflichen und kleinstädtischen Provinzen Posens und Galiziens hatten die jüdischen Schneider in den vergangenen 60 Jahren meist eine ordentliche Ausbildung bekommen. Viele dieser Schneiderwerkstätten waren recht primitiv. Doch trotzdem ging eine große Zahl technisch sehr begabter junger Schneider aus dem Schtetl hervor. Wer von ihnen nach Berlin zog, weil er auswandern wollte oder vor Pogromen fliehen musste, der konnte sich oft gut behaupten. Diese Leute führten dann mitunter Betriebe mit bis zu 30 Arbeitern. Trotzdem hatten die wenigsten ein Interesse daran, sich bei den Handwerkskammern anzumelden. Man hätte sie dort wohl auch kaum als Mitglied haben wollen. Das wusste Ehrenfried von Schneidern, die es versucht hatten.

      So siedelten sich im Ostteil Berlins zahlreiche jüdische Schneiderwerkstätten an. Für die Umsetzung der Schnittentwürfe der Berliner Konfektion wurden sie rasch unverzichtbar. Doch schon nach dem Weltkrieg, das hatte Ehrenfrieds Vater erzählt, gingen immer mehr junge Schneidertalente in die großen Firmen der Konfektion. Denn dort konnten sie sehr viel mehr Geld verdienen. Als Ehrenfrieds Vater in Berlin ankam, konnte er rasch ein gut gehendes Geschäft für Seiden und Stoffe in Moabit aufbauen. „Isidor Ehrenfried – Stoffe aller Art“, das stand auf dem Firmenschild über dem Laden, in dem er vier Verkäufer beschäftigte. Kurt Ehrenfried wuchs in Berlin-Moabit auf, ging dort zuerst auf die Grundschule und wechselte an ein Gymnasium in Charlottenburg.

      Landauer also sah diesen Männern auf den alten Fotos aus Posen, die Isidor seinem Sohn manchmal gezeigt hatte, sehr ähnlich.

      Ehrenfried mochte Landauer – aber er war für ihn auch die Vergangenheit, das Alte Testament, und beides passte, so meinte Ehrenfried, weder in die heutige Zeit noch in seine Lebenserfahrung. Landauer ging nicht ins Café Reimann. Er mied die Revuen und das Kino, er scheute vor den Tanzveranstaltungen der Konfektionsbranche zurück. Stattdessen ging Landauer jeden Freitag und überhaupt an allen jüdischen Feiertagen in die orthodoxe Synagoge. Obwohl gerade mal Mitte 20, hatte Landauer schon drei Kinder. Er lebte mit ihnen und seiner Frau in einer muffigen Wohnung am Prenzlauer Berg.

      Ehrenfried wohnte in einem Haus in der Bleibtreustraße. Sieben Räume, neben der Küche ein Aufenthaltsraum und gleichzeitig der Schlafraum für Hertha, die Köchin und Haushälterin der Ehrenfrieds. An der Rückseite des Hauses ein kleiner Garten, um den sich Lore mit Hingabe kümmerte. Ehrenfried hatte sich diesen Wohlstand hart erarbeitet. Und genau deshalb war er oftmals entnervt und verärgert, wenn Landauer zu hohen jüdischen Feiertagen, etwa zu Pessach, Rosh ha-Schana oder Jom Kippur einen Tag frei haben wollte, weil er seinem Glauben nach nicht arbeiten könne – oder, da war sich Ehrenfried niemals ganz sicher, einfach nicht wollte. Ob Landauer nicht wollte oder nicht konnte, dieser Unterschied war Ehrenfried letztlich egal, weil die Wirkung im Betrieb die gleiche war. Landauer war viel öfter außerhalb der Firma als Glasow und Windschild, die höchstens zu Weihnachten einmal nach einem zusätzlichen freien Tag fragten.

      Ehrenfried machte Landauer nicht selten Vorwürfe. „Was interessiert es unsere Kunden in Dresden, in München, in Amsterdam, in Wien oder Sydney“, hatte er ihm noch im vergangenen Jahr beim Neujahrsfest vorgehalten, „ob du die Thora lesen oder beten musst?“ Landauer war für Ehrenfried eine stete und ungewollte Erinnerung daran, wo er selber herkam. Und Simon Cohn polterte manchmal: „Landauer ist ein aus dem Zeitrahmen gefallener Moses.“ Auch Ehrenfried hätte ihm das gerne oft gesagt, aber er wollte ihn nicht zu sehr kränken. Landauer war labil und sehr empfindlich. Außerdem war er ein guter Zwischenmeister und vertrat mit größter Sachkunde eine lange Familientradition von jüdischen Schneidern. Jetzt also stand Landauer in seinen ausgewaschenen Hosen vor Ehrenfried und rauchte. Das Rauchen war wohl seine einzige schlechte Angewohnheit, die er zuhause nicht ausleben durfte. Er hatte fast etwas Messianisches an sich.

      „Herr Ehrenfried“, fing er sehr bedachtsam an zu reden, flüsterte fast und vermied aus Respekt vor Ehrenfried sogar jeden Anflug von jiddisch oder Berliner Dialekt, „meine Familie und ich werden in einigen Monaten nach England auswandern. Wir haben bereits unsere Papiere aus London bekommen. Ich kann nicht mehr lange für Sie arbeiten.“ Und dann, gleich nachsetzend: „Bitte behalten Sie das aber für sich, und sagen Sie niemandem etwas davon, vor allem nicht hier in der Werkstatt.“ Landauer blickte Ehrenfried nun ziemlich unsicher an. Beide hatten, seit Landauer vor vier Jahren begonnen hatte, für die Firma zu arbeiten, nur sehr selten private Worte miteinander gewechselt.

      Einmal allerdings hatte Ehrenfried eher unfreiwillig gleich die ganze Familie Landauer kennen gelernt. Es war Mitte November 1933. Die Mutter von Landauers hochschwangerer Frau Irina rief völlig aufgeregt und fast atemlos in Ehrenfrieds Büro bei der Perschke an. Sie entschuldigte sich immer wieder für diesen Anruf. Im Hintergrund hörte die Perschke Kneipenlärm. Schließlich kam heraus, dass David jetzt sofort nach Hause kommen müsse. Sein drittes Kind würde heute noch zur Welt kommen, die Wehen hätten schon begonnen. So kam es, dass Ehrenfried sich großherzig bereit erklärte, Landauer sofort in seinem fast neuen Mercedes Benz 200 in die Schönhauser Allee 188 zu dessen Wohnung zu fahren.

      Ehrenfried