schrille Surren der Hausglocke riss Daphne schlagartig aus den Gedanken. Misstrauisch überlegte sie, wer ihr einen Besuch abstatten könnte.
„Daphne?“, ertönte es kurze Zeit später hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und starrte in Florians Gesicht. Flo war ein enger Freund von Daphne, der mit ihr bis zum Abitur die Schulbank gedrückt hatte.
„Wie bist du hereingekommen?“, fragte Daphne erschrocken. Anscheinend hatte sie in ihrer geistigen Abwesenheit vergessen, die Haustür abzuschließen.
„Na, durch die Tür ...“, lachte Florian übermütig. Er war wie immer gut gelaunt.
Daphne machte ein paar Schritte in seine Richtung, ehe sie mit ernster Miene direkt vor ihm stehen blieb und abwartete, was ihn zu ihr trieb.
„Daphne, du musst unbedingt einmal hier raus, um auf andere Gedanken zu kommen“, begann er. Dabei sah er ihr tief in die Augen, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Doch Daphne verzog nur grimmig das Gesicht. Denn es war genau dieser Satz, den sie nicht mehr hören konnte. Viel zu oft hatte sie ihn bereits aus dem Mund ihrer besten Freundin Lydia gehört.
„Kommst du morgen mit?“, wollte Flo weiter wissen. Er ließ nicht locker. „Lydia und ich, wir wollen mit dir ins Kino gehen ...“ Mit seinen stahlblauen Augen sah er sie erwartungsvoll an.
Doch Daphne schüttelte nur gedankenverloren den Kopf. Sie wusste, es würde heute schwer werden, ihn mit einem Nein abzuspeisen.
„Morgen geht es leider nicht. Da besuche ich schon Dany“, sagte sie zögerlich.
Florian seufzte laut, ehe er weitersprach. „Du besuchst Daniel doch schon oft genug ... Der Unfall ist jetzt zwei Jahre her – glaubst du, deine Eltern und auch Dany würden wollen, dass du dich so gehen lässt?“
Verbittert verschränkte Daphne demonstrativ die Hände vor der Brust. „Du benimmst dich so, als würde es Daniel gar nicht mehr geben ...“ Ihre Stimme klang traurig, beinahe niederschmetternd, das fiel ihr selbst auf. Dabei hatte Flo ja recht – sie musste wieder mal etwas für sich tun. Außer zum Arbeiten als Hilfskraft in der hiesigen Apotheke bei einem Freund ihres verstorbenen Vaters und ihren unregelmäßigen Besuchen auf der Uni, verließ sie schließlich kaum noch das Haus.
„Du weißt genau, wie ich es meinte!“, erwiderte Florian trocken.
Daphne wich seinem durchdringenden Blick gekonnt aus, wie sie das bereits seit zwei Jahren erfolgreich praktizierte, wenn sie sich vor irgendetwas drückte.
„Was ist jetzt – kommst du morgen mit?“, versuchte Florian es ein weiteres Mal.
„Nein, Dany ist mir wichtiger als irgend so ein bescheuerter Kinofilm.“ Sie spürte, dass ihre Stimme ein wenig zu hart geklungen hatte. Schließlich meinte er es nur gut mit ihr.
„Gut, wie du meinst. Aber beschwer dich nachher nicht, wenn du irgendwann alleine und ohne Freunde dastehst“, schmollte er, drehte sich um und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Na toll! Jetzt hatte sie ihn vergrault! Dabei war das alles andere als das, was sie gewollt hatte!
Daphne verdrehte genervt ihre Augen, aber nicht etwa wegen Florian, sondern weil sie genervt von sich selbst war!
Gerade, als sie sich über ihr eigenes Verhalten ärgerte, fiel ihr ein, dass sie beinahe einen wichtigen Termin vergessen hätte. Schuld daran war Florians überraschender Besuch, der so nicht eingeplant gewesen war.
„Verdammter Mist!“, fluchte sie laut und blickte auf die große Uhr, die neben dem Schreibtisch an der grün tapezierten Wand hing. Ihr blieben gerade mal knappe fünf Minuten Zeit, bis ihr potenziell zukünftiger Untermieter vorbeikommen würde.
Drei Leute hatten sich aufgrund des Inserats, das sie ins Internet gestellt hatte, gemeldet. Zweien davon hatte Daphne bereits abgesagt, da sie einfach nicht zu ihr gepasst hatten. Der letzte Interessent wollte sich die in ihrem Haus leer stehende Wohnung im Erdgeschoss heute ansehen, und sie hoffte inständig, dass es dieses Mal klappte.
Eigentlich war die untere Wohnung im Haus ursprünglich von Daphnes Eltern gewesen. Da sich die Dinge aber auf so tragische Weise verändert hatten, war das Haus für Daphne allein finanziell untragbar geworden. Deshalb war sie gezwungen, den unteren Teil auf unbestimmte Zeit zu vermieten. Sie brauchte das Geld dringend und konnte nicht mehr länger warten.
Daphne kam mit dem Geld, das sie verdiente, gerade so über die Runden. Der Job in der dörflichen Apotheke reichte nur knapp zum Leben aus. Dennoch war sie dankbar, neben dem Studium überhaupt Arbeit bekommen zu haben, auch wenn sie sich ihr Leben anders vorgestellt hatte. Ursprünglich wollte Daphne nämlich Juristin werden. Doch da das Studium nicht gerade billig war und sie sich die teuren Lernunterlagen und Bücher dafür nicht leisten konnte, war sie nur dazu in der Lage, einige wenige Prüfungen pro Jahr zu absolvieren. Das Haus verschlang einfach viel zu viel, sodass sie die meiste Zeit am Arbeiten war.
Daphne streifte sich ihr Haar zurück und dachte an den Interessenten, der gleich vorbeikommen würde. Schnell verließ sie ihre Wohnung im Obergeschoss, hastete hinaus auf den Flur und eilte zur Treppe, um dann zwei Stufen auf einmal nach unten zu nehmen. Sie war gerade auf der letzten Stufe angekommen, als es an der Haustür klingelte. Der Typ war überpünktlich, was auf jeden Fall für ihn sprach.
Sie ging rasch durch den unteren Flur und zur Tür, öffnete diese einen Spalt und spähte vorsichtig hinaus. Tatsächlich!
Vor ihr stand ein männliches Wesen, frisch gestriegelt und gestylt, einen dunkel gestreiften Anzug tragend. Sein Haar war kurz zurechtgeschnitten und dunkelbraun, in seiner linken Hand hielt er einen schwarzen Aktenkoffer. Hatte der Mann sich an der Haustür geirrt?
Er sah nämlich aus wie ein typischer Manager, und Daphne hätte schwören können, dass es sich bei ihm auch um einen handelte. Sofort stellte sie sich die Frage, was einen mutmaßlich gut betuchten Manager dazu veranlassen könnte, aufs Land – in dieses kleine Kuhkaff – zu ziehen, wenn er sich doch – bei einem Managergehalt – genauso gut eine Villa leisten könnte!
„Ja?“, fragte sie vorsichtshalber nach, nur, um sicher zu gehen, dass der piekfeine Herr sich tatsächlich an der Haustür geirrt hatte.
„Ähm, ... bin ich hier richtig bei … Frau … Daphne Moller?“, hakte er ebenfalls sichtlich verunsichert nach.
Ein Blick in seine Augen genügte und Daphne glaubte zu erkennen, dass er sie – aus welchen Gründen auch immer – für eine Irre hielt.
„Ja, die bin ich“, brachte sie zögernd hervor und beäugte ihn kritisch.
„Ich bin James Walters, wir haben einen Termin zur Wohnungsbesichtigung, richtig?“ Er reichte ihr außerordentlich freundlich seine rechte Hand hin. Daphne nickte bejahend, schüttelte ihm die Hand und bat ihn in den Hausflur.
„Beinahe wäre ich zu spät gekommen, aber ich hatte heute sehr viel um die Ohren und hätte unseren Termin fast vergessen“, begann der Mann erneut, dieses Mal in einem entschuldigenden Tonfall.
„Das macht nichts, hat ja trotzdem noch geklappt. Also …, dann folgen Sie mir bitte.“ Daphne ging vor ihm her in die Wohnung, die zur Vermietung stand, und führte ihn durch das ganze Untergeschoss, wo sie ihm jeden Raum zeigte und ihm dabei genügend Zeit ließ, sich ein Bild zu machen. Sie beobachtete ihn argwöhnisch. Der Typ sah aus, als hätte er richtig viel Kohle, was wiederum bedeutete, dass sie jeden Monat ihre Miete pünktlich bekommen würde. Zudem schien der Krawattenmann eher ein ruhiger Mensch zu sein, was ihr bei ihrem derzeitigen Gefühlswirrwarr, in dem sie sich befand, bei Weitem lieber war als ein hysterischer, den sie mit Sicherheit nicht in ihrem Haus gebrauchen konnte. Er wäre dem Aussehen nach also der perfekte Untermieter.
„Und, wie ist Ihr erster Eindruck? Gefällt Ihnen die Wohnung?“, erkundigte sie sich.
„Ja ..., dürfte ihm gefallen“, entgegnete er nachdenklich, während er sich weiter umblickte.
Daphne konnte seinen Gedankengängen nicht folgen. Ihr Gegenüber bemerkte das und reagierte prompt: „Wissen Sie, die Wohnung