Helga Ostendorf

Ostfriesland verstehen


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ist gleichfalls ein Bericht über eine Fördermaßnahme zugunsten von Jungen: Ein Tischler besucht für jeweils eine Woche einen Kindergarten und bringt den Kindern den Umgang mit Holz bei. Auf dem beigefügten Foto beschäftigt sich aber ausgerechnet ein Mädchen am eifrigsten mit einem Werkstück.[24]

      „Grundidee ist, in überwiegend von weiblichen Erzieherinnen geprägten Kindergärten besonders Jungen geschlechtsspezifisch in ihrer Entwicklung zu unterstützten” (OZ 5.3.2012).

      Die These, dass weibliche Erzieherinnen und Lehrerinnen Jungen unterdrückten und Jungen deshalb häufiger zu Schulversagern würden, hat allmählich einen ellenlangen Bart. Sie ist Allgemeingut – aber wissenschaftlich nicht belegt. Die Ostfriesen-Zeitung wiederholt distanzlos die Argumentation der Projektverantwortlichen.[25]

      Durchaus nicht alle Ostfriesen_innen teilen die Meinung, dass Frauen „ins Haus” gehören. So planen sowohl das Emder VW-Werk als auch der Großefehner Baustoffhandel Trauco einen Betriebskindergarten einzurichten. Auch lud das VW-Werk zum Girls’ Day 2012 250(!) Siebt- bis Zehnklässlerinnen ein. Das Ziel war, ihnen Berufe vorzustellen, in denen Frauen seltener vertreten sind. Das Emder VW-Werk ist schon seit langem dafür bekannt, dass es überdurchschnittlich viele Mädchen in metall- und elektrotechnischen Berufen ausbildet und sie selbstredend hinterher ausbildungsgemäß beschäftigt.[26] Während die Ostfriesen-Zeitung so manchen Schulausflug mit einer Reportage würdigt, ist ihr der Girls’ Day des VW-Werks gerade mal eine knappe Ankündigung wert. Dass Frauen gut bezahlte (Männer)-Berufe lernen und ausüben, passt nicht in das Weltbild der Zeitung – und auch nicht in das vieler Ostfriesen_innen. Dabei sind die Haltungen der Ostfriesen_innen durchaus vielschichtig und auch gegensätzlich: Die einen ziehen für einen Kindergartenplatz vor Gericht, die anderen wollen ihre Kinder weder in einen Kindergarten noch in eine Ganztagsschule schicken.

      5.

      „Gottes Herz schlägt auf Platt”

      Kirchen

      „Glaube schafft alles – sogar Gott lernt Plattdeutsch”, überschrieb die Ostfriesen-Zeitung einen Bericht zum „6. Ostfriesischen Kirchentag” (16.7.2012). Dass dieser Kirchentag ein evangelischer war, versteht sich von selbst. In Ostfriesland ist sowieso (fast) alles evangelisch. Die Zeitung spielte damit auf eine Aktion der Gruppe „Plattdüütsk in de Kark” an. Diese hatte beim Kirchentag ein Quiz durchgeführt und gefragt, was auf den dargereichten Käse- und Mettwurstbroten zu lesen sei. Die Antwort: „Gottes Herz schlägt auf Platt”. Angesichts der Zahl der Kirchenmitglieder in Ostfriesland wird Gott Plattdeutsch können müssen. Die Kirchen aber gehen durchaus nicht immer freundlich miteinander um. In der Krummhörn wurde 2010 gar der Kirchenkrieg des 16. Jahrhunderts wieder aufgenommen.

      Kirchen in Ostfriesland

      90% der Ostfriesen_innen gehören einer christlichen Kirche an. Fast drei Viertel sind protestantisch; davon sind 57% evangelisch-lutherisch und 17% evangelisch-reformiert. Die reformierte Kirche ist vor allem im Rheiderland, in der Krummhörn sowie in den Städten Leer und Emden stark verankert. Allein 43% aller Evangelisch-Reformierten Deutschlands leben in Ostfriesland. Kennzeichen Ostfrieslands ist aber auch eine große Zahl an Religionsgemeinschaften. Relevant sind: Mennoniten, Baptisten, Methodisten, Sieben-Tages-Adventisten, Altreformierte, Zeugen Jehovas und die Selbstständige Evangelische Kirche (SEK). Bis 1940 gab es in Ostfriesland zudem zahlreiche jüdische Gemeinden. Heute leben nur noch wenige Juden und Jüdinnen im Land (sie zählen zur Oldenburger Gemeinde). Die Zahl der Muslime ist unbekannt. Die bislang einzige Moschee wurde 2009 in Emden eingerichtet.

      Kreuzkirche in Stapelmoor

      

      Foto: Rainer Knäpper, Lizenz Freie Kunst (http://artlibre.org/licence/lal/de)

      Die Kirchen haben in Ostfriesland großen Einfluss: Vielerlei gesellschaftliche Aktivitäten finden unter ihren Dächern statt. In der Ostfriesen-Zeitung nimmt die Berichterstattung über kirchliche Veranstaltungen einen beträchtlichen Raum ein. Die Lokalausgabe Leer enthält durchschnittlich pro Ausgabe 2,2 redaktionelle Beiträge zu Kirchlichem und 6,6 Ankündigungen kirchlicher Veranstaltungen.[27] Jede vierte Veranstaltung, auf die die Zeitung hinweist, ist eine kirchliche. Hierbei geht es neben (zahlreichen) Bibelabenden und -wochen, Kindergottesdiensten und Andachten u.a. um Frauenkreise und Männerrunden sowie Chorsingen, Chi-Gong-Kurse, Laientheater, Altkleider- und Altpapiersammlungen und Flohmärkte. Selbst das, was anderswo eher in Alternativzirkeln anzutreffen ist, findet in Ostfriesland im Schoß der Kirche statt.

      Die redaktionellen Beiträge sind vielschichtig. Nicht nur wird über die abgeschlossene Renovierung der Großen Kirche in Leer berichtet, was sicherlich viele interessiert, sondern auch – häufig mehrspaltig – über Aktivitäten kleiner Religionsgemeinschaften mit z.T. nur 30 Mitgliedern. Geradezu gefeiert wurde 2012 der Besuch des evangelisch-lutherischen Landesbischofs in Ostfriesland: Täglich berichtete die Zeitung, was er am Vortag unternommen hatte. Selbst Banalem, wie der Besichtigung eines Gewerbeparks, widmete sie fünf Spalten.

      Kirchlich, staatlich, privat – alles dasselbe

      Staat und Kirche werden in Ostfriesland häufig in eins gesetzt. Folgt man den Veranstaltungsankündigungen der Ostfriesen-Zeitung könnte man meinen, im kleinen Bauerndorf Potshausen gebe es fünf Bildungsstätten anstatt einer: das „Ostfriesische Bildungszentrum Potshausen”, die „Landvolkshochschule Potshausen”, das „Evangelische Bildungszentrum Potshausen” und das „Evangelische Bildungszentrum Ostfriesland-Potshausen”. Der Umgang mit dem Namen zeigt: Es ist völlig gleichgültig, ob der Bildungsträger einer bestimmten Kirche verpflichtet ist und die Seminarteilnehmer_innen von dieser Glaubensrichtung überzeugen will – evangelisch ist in Ostfriesland sowieso (fast) alles.

      Doch auch staatliche Stellen nehmen es nicht so genau. So erklärte mir einmal eine offizielle Stadtführerin, in Leer gebe es zwei Krankenhäuser, das katholische und das evangelische. Das „evangelische” Krankenhaus aber gehört dem Landkreis und war nie in kirchlichem Besitz. Da das Krankenhaus in Konkurrenz zum katholischen steht, wird es – nicht nur, aber sogar – von einer offiziellen Stadtführerin als „evangelisch” bezeichnet. Ausgedrückt wird damit: Das gehört „uns” – und nicht den Fremden, den zugewanderten Katholiken_innen. Den Ostfriesen_innen ist ihre Kirche was wert.

      Auch Kirchen brauchen Geld

      Der evangelische Kirchentag 2012 kostete 111.000 Euro. Jedoch: „Man schreibe ‚eine schwarze Null’, berichtete der Geschäftsführer”, und der Präses der evangelisch-reformierten Kirche meinte, dies sei „’das klare Signal, mit dem Kirchentag weiterzumachen’”(OZ 16.7.2012). Kirchentage kann es also nur geben, wenn keine Kosten entstehen? Bei über 300.000 Mitgliedern in Ostfriesland sollte es doch eigentlich wohl „drin” sein, alle paar Jahre einen Kirchentag durchzuführen.

      Die Ostfriesen-Zeitung machte mehrere Interviews mit führenden Vertretern der beteiligten Kirchen. Aussagen über die Inhalte und Botschaften der Predigten und Veranstaltungen finden sich darin nicht. Vielmehr lesen sich die Interviews, als ginge es den Kirchen vor allem ums Geld. Der evangelisch-lutherische Landesbischof Meister z.B. meinte, die Kirche müsse eine „’größere Offensive zeigen, in der Begegnung mit jungen Menschen, um sie zu begeistern’. Wichtig sei dabei eine lebendige Zusammenarbeit mit der Freiwilligen Feuerwehr und Vereinen”. Seine Begründung: Die Kirche müsse „mit weniger Finanzen auskommen” (OZ 6.7.2012).

      „’In die Gemeinden geht ein Impuls der Vergewisserung’, sagte [der Präses der ev.-ref. Kirche] Klüver. (…) Weil das Geld knapper werde, sei dieses Gefühl der Stärke umso wichtiger, sagte [der ev.-luth. Landessuperintendent] Klahr.” „Die Leute suchen wieder nach Sinn”, meinten beide (OZ 16.7.2012).

      Möglicherweise haben die evangelischen Kirchen sich diese Strategie bei der römisch-katholischen abgeguckt. Diese will sich durch eine „Neuevangelisierung”