Helga Ostendorf

Ostfriesland verstehen


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der Landkreis Leer auf Platz 399, der Landkreis Wittmund auf Platz 389 und die Stadt Emden auf Platz 354.

      Öffentliche Kinderbetreuung: Fehlanzeige

      „Kindergarten bekommt Frühstücksraum”, heißt es in der Ostfriesen-Zeitung vom 5.4.2012. Nanu, können die Kinder nicht in dem Raum frühstücken, wo sie zu Mittag essen? Nein, zumindest nicht im Kindergarten der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Flachsmeer. Dort werden 112 Kinder betreut, ein Mittagessen ist aber nicht vorgesehen. Dies ist wahrlich kein Einzelfall, weder in Ostfriesland noch anderswo. In Ostfriesland aber wird eine solche Regelung kaum in Frage gestellt.

      Bundesweit haben Kinder ab drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ein Anspruch auf einen Ganztagsplatz bestünde. In Niedersachsen muss für 90% der Kinder ein Vormittags- oder ein Ganztagsplatz bereitgestellt werden. Lediglich hilfsweise kommt ein Nachmittagsplatz in Frage. Aufsehen erregte eine Klage eines Ehepaares aus der Gemeinde Moormerland. Aus beruflichen Gründen brauchte es einen Platz am Vormittag, erhielt aber nur die Zusage für eine Nachmittagsbetreuung. Der Moormerländer Bürgermeister meinte dazu:

      „Im letzten Kindergartenjahr vor der Schule hätten in Oldersum aber alle Kinder einen Vormittagsplatz bekommen, deren Eltern einen wollten oder brauchten” (ebd.).

      Doch wer bestimmt darüber, welche Eltern einen Vormittagsplatz „brauchen”? Der Landkreis garantiert für 90% der Kinder in diesem Alter mindestens Vormittagsplätze, hat die Ausführung aber an die Gemeinden abgegeben. Die Gemeinde Moormerland, zu der Oldersum gehört, meinte, 68% seien genug und verteilte die wenigen Plätze wie folgt: 1. Kinder im Jahr vor der Einschulung, 2. Kinder, die möglicherweise im nächsten Jahr eingeschult werden, 3. Kinder, deren Eltern beide berufstätig oder allein erziehend sind, 4. Kinder, die vorher einen Nachmittagsplatz hatten. Faktisch verkürzte die Gemeinde den Rechtsanspruch auf Fünfjährige, wobei zudem noch nachgewiesen werden musste, dass diese in einem Jahr schulreif sein würden.

      „Auf Dauer sinken die Zahlen. Vielleicht müsse man auch mal eine gewisse Zeit überbrücken”, sei die Meinung des Bürgermeisters (OZ 4.8.2012). Zwischenzeitlich zog die Klage des Elternpaares weitere Kreise. Eine Elterninitiative machte darauf aufmerksam, dass in Oldersum im September 2012 maximal 27 Kinder vom Kindergarten in die Grundschule wechselten, 39 Kinder aber auf der Warteliste des Kindergartens stünden. Die Klage und die Proteste scheinen gewirkt zu haben: Im Frühjahr 2013 stellte die Gemeinde für zwei Jahre einen Container auf und richtete eine zusätzliche Vormittagsgruppe ein. Eine Nachmittagsgruppe gibt es seither nicht mehr – mangels Nachfrage. Diese Geschichte zeigt zweierlei: Das Unverständnis mancher Ratsherren dafür, dass Mütter zumindest halbtags einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, und gleichzeitig zeigt das Beispiel auch, dass es keine Nachfrage nach einer Ganztagsbetreuung gibt. Die Klage des Ehepaars wurde vom Verwaltungsgericht übrigens mit der juristisch spitzfindigen aber inhaltlich umso trefflicheren Begründung abgewiesen, nicht die Eltern, sondern die Kinder hätten einen Anspruch. Bei der öffentlichen Kinderbetreuung geht es eben nicht darum, welche Eltern nach Ansicht eines Bürgermeisters einen Kindergartenplatz „brauchen”: Kindergärten sind keine Aufbewahrungsanstalten, sondern Bildungsstätten. Auf der Landkarte des Statistischen Bundesamtes zur öffentlichen Kinderbetreuung ist Ostfriesland ein weißer Fleck.

      In Kindertagesstätten betreute Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren in Prozent 2010

      Quelle: http://ims.destatis.de/indikatoren/Default.aspx?nsc=true&htt ps=1, Abruf 8.8.2012

      Zusammengefasst: Ostfriesische Mütter sind nicht nur ein Jahr (während des Bezugs des Elterngeldes) zu Haus, sie sind auch nicht nur die ersten drei Jahre zu Haus, sondern während der folgenden drei Jahre müssen sie ihre Kinder mittags vom Kindergarten abholen: Zwischen „Kind(er) hinbringen” und „Kind(er) abholen” schaffen sie es vielleicht noch beim Supermarkt vorbeizugehen – aber dann müssen sie schon wieder das Mittagessen vorbereiten. Darauf, dass Mütter erwerbstätig sind, sind solche Kindergärten nicht ausgerichtet.

      Ganztagsschule: erneute Fehlanzeige

      Im Landkreis Leer gibt es 50 Grundschulen. Nur acht davon boten 2012 eine Nachmittagsbetreuung an, fünf an mindestens vier und drei an drei Nachmittagen der Woche (OZ 16.3.2012). Das Interesse der Familien an einer Ganztagsbetreuung sei beträchtlich, ist die Meinung in der Kreisverwaltung. Das Problem sei jedoch, dass kleine Schulen nicht in der Lage sind, die Nachmittagsbetreuung zu organisieren. Abhilfe soll die Volkshochschule schaffen; sie soll die Schulen beraten, welche Vereine etc. die Nachmittagsbetreuung übernehmen könnten.

      Seitens der Schulen scheint das Interesse allerdings nicht allzu groß zu sein. Lediglich drei weitere Grundschulen haben zum Schuljahresbeginn 2012/13 eine Nachmittagsbetreuung aufgenommen. Damit wird an gerade Mal jeder fünften Grundschule eine solche angeboten und dies auch nur an drei oder vier Tagen. Mittlerweile haben 17 weitere Schulen einen Antrag gestellt, wovon 13 genehmigt wurden. Selbst wenn man die 17 Schulen hinzuzählt, wird mittelfristig immer noch nur jede zweite Schule eine Nachmittagsbetreuung anbieten.

      Ob es wirklich nur an der Unfähigkeit oder am Unwillen der Lehrkräfte liegt, die Nachmittagsbetreuung zu organisieren? Oder schätzen die Lehrkräfte die Situation realistischer ein als die Kreisverwaltung, und die Nachfrage ist gar nicht so groß? In Hollen z.B. plädierten nur 22% der Eltern für die Einrichtung einer Ganztagsschule, in Leer allerdings 80%.[18] Möglicherweise sind Städterinnen eher an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit interessiert als Frauen in den Dörfern.

      „Faul” an dem Ganzen ist vor allem das in Niedersachsen verfolgte Konzept der „offenen Ganztagsschule”, d.h. nachmittags findet „Irgendwas” statt, aber kein Unterricht.[19] Auch die Hausaufgabenbetreuung bleibt weiterhin an den Eltern „hängen”. Seltsam muten auch die Zahlenverhältnisse an: acht von 50 Schulen macht 16%. Selbst wenn man alle Schulen einbezieht, die Interesse bekundet haben, sind es in Zukunft auch nur 56% – im niedersächsischen Durchschnitt aber 85%: Ostfriesland wird deutlich benachteiligt. Beachtet werden sollte dabei auch, dass der Arbeitslohn in Ostfriesland erheblich unter dem westdeutschen Durchschnitt liegt: So manche Mutter hat weder ein Auto zur Verfügung, um ihre Kinder nachmittags zum Musik- oder Reitunterricht zu fahren, noch hat sie das Geld, solche Kurse zu bezahlen.

      Viele Kinder, junge Mütter

      Ostfriesinnen bekommen vergleichsweise viele Kinder. Zwischen 2000 und 2005 ist die Geburtenrate zwar deutlich gefallen (und seither wieder etwas gestiegen), mit 74,8 Geburten pro 1000 Frauen ab 20 Jahren liegt Ostfriesland aber immer noch erheblich über dem Bundesdurchschnitt von 64,9.[20]

      Auch bekommen ostfriesische Frauen ihre Kinder sehr früh. Fast jede vierte Mutter ist noch keine 25 Jahre alt und fast jede zwanzigste noch keine 20.[21] Von den ganz jungen Müttern dürften viele keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und manche noch nicht einmal einen Schulabschluss.

      „Die Volkshochschule Leer plant einen neuen Tageshauptschulkursus. Dabei richtet sich das Angebot an Interessierte, die schwangerschaftsbedingt, durch Kindererziehung oder aus anderen Gründen ihre Schullaufbahn unterbrechen mussten” (OZ 16.10.2012).

      Doch auch wenn eine abgeschlossene Ausbildung vorliegt, haben viele der jungen Mütter erst wenig an Berufserfahrung sammeln können. Nach zehn Jahren ausschließlicher Kindererziehung – bei zwei und mehr Kindern auch länger – wird ein beruflicher Wiedereinstieg schwer. Ursache und Wirkung – ob die Mütter zu Hause bleiben, weil sie es für richtig halten, oder ob sie zu Hause bleiben, weil es an öffentlicher Kinderbetreuung fehlt – lassen sich nicht immer auseinander halten. Das Resultat ist in beiden Fällen eine geringe Erwerbsbeteiligung.

       Quelle: Berechnet nach: www.regionalstatistik.de, Tabellen 173-21-4 und 178-31-4, Abruf am 3.8.2012. Die Geburten der Frauen, die älter als 44 Jahre sind, wurden