Sabine-Franziska Weinberger

Leo ist verknallt


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weißt ich selbst“, zuckt Luzian kurz zusammen und fühlt sich ein bisschen wie ein begossener Pudel. „Aber wenn dein Tintentod ein Krokodil wäre, könnte er dir den Kopf abbeißen!“

      „Aber nicht, wenn er Konrad heißt!“, ist Leonie überzeugt.

      Langsam reißt Luzian der Geduldsfaden. Irgendwie hat er das Gefühl, dass sie das alles nur sagt, um ihn zu ärgern.

      „So, meinst du“, erwiderte er schließlich ruhig und zeigte auf den nach Erdbeeren duftenden Filzstift neben ihrem Federpennal.

      „Gehört dieser Stift dir?“

      3 Ein Stöpsel verschwindet

      „Ja, das ist meiner“, erwiderte Leo, in sprachloser Erwartung, was Luzian wohl als nächstes tun wird.

      „Also jetzt stell dir mal vor, ich wär' ein Krokodil namens Konrad und das da dein Kopf“, beginnt der Junge entschlossen und beißt – ja ist es zu fassen – vor Leos verdutztem Gesicht ihrem nach Erdbeeren duftenden Filzschreiber die Verschlusskappe ab.

      Leonie beobachtet fassungslos, wie der Stöpsel in Luzians Mund verschwindet und einen Augenblick lang verschlägt es ihr doch tatsächlich die Sprache. Sie hat ja schon einiges in der Klasse erlebt (verschwundene Jacken, zusammengeklebte Hausschuhe, Kaugummi in den Haaren), aber bisher war noch niemand so verrückt, vor ihren Augen einen Stöpsel zu schlucken, ganz egal wie erdbeerig er duftet.

      „Sag mal, geht's noch?“, funkelt sie ihn an, während ihre Verblüffung allmählich in Ärger umschlägt (da es immerhin ihr Stift ist) und ihr viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schwirren. Natürlich hätte sie die Verschlusskappe gern wieder zurück, da der Erdbeerschreiber ihr absoluter Lieblingsstift ist, und ihr Mama ohnedies schon mehrmals angedroht hat, keine weiteren Schreiberlinge mehr zu kaufen, falls Leo nicht auf ihren aktuellen Bestand mehr Acht gäbe. Doch angesichts der Tatsache, dass sich die Verschlusskappe – IGITT – irgendwo zwischen Luzians Gaumen und Zähnen befindet, weiß sie auch nicht, was sie tun soll.

      Voller Abscheu starrt sie Luzian aus zusammengekniffenen Augen an, doch er rührt sich nicht. Sein zu einem schmalen Strich geformter Mund gibt ihr wortlos zu verstehen, dass er nicht im Entferntesten daran denkt, das Ding auszuspucken. Leos Stimmung ist nicht gerade die beste. Sie fühlt sich wie nach einer Niederlage beim Kampfball – ein Gefühl, das ihr eigentlich fremd ist. Aber falls Luzian glaubt, dass sie ihren Erdbeerstift kampflos aufgeben wird, hat sich der Knabe getäuscht.

      „Du spuckst jetzt sofort meinen Stöpsel aus, oder ich kau dir ein Ohr ab!“, flüstert sie warnend in seine Richtung und wartet auf seine Reaktion. Doch Luzian rührt sich nicht. Der Junge beaugäpfelt sie wortlos. Er behält sie im Visier wie ein Krokodil seine Beute, so, als würde er ihre Reaktion abwarten. Daher bleibt Leo nichts anderes übrig, als ihn wortlos verdrossen anzustarren, bis er sein störrisches Schweigen bricht und endlich den Mund aufmacht.

      Natürlich könnte sie sich auf ihn stürzen und ihn so lange schütteln, bis das gewünschte Teil aus seinem Mund herauspurzelt. Oder ihn solange kitzeln, bis er lauthals lachen muss, allerdings ist sich Leo bewusst, dass dies im Unterricht nicht erlaubt ist. Davon abgesehen hat Herr Engel allen Kindern strengsten verboten, andere zu schütteln, zu schubsen oder gar mit ihnen zu raufen. Vom Stöpselverschlucken hat der Herr Lehrer zwar nichts gesagt, doch Leo ist davon überzeugt, dass auch das verboten ist.

      Sie will natürlich das Richtige tun, weiß jedoch nicht, was in diesem Moment das Richtige ist. Unschlüssig und verärgert, möchte sie sich noch immer nicht damit abfinden, ihren Stöpsel aufzugeben. Aber hat sie eine andere Wahl? Sie kann das Ding ja unmöglich aus Luzian herauswürgen. Deshalb ringt sie sich schweren Herzens zu einer folgenschweren Entscheidung durch.

      „Du kannst ihn behalten“, verschränkt sie demonstrativ ihre Arme, „und den Rest dazu“, schiebt sie verbittert den Stift ein wenig in Luzians Richtung.

      „Um ganz ehrlich zu sein, mag ich Erdbeeren sowieso nicht so gern, sondern viel lieber Zitronen“, schwindelt sie dünn lächelnd, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie der Verlust ihres Stöpsels schmerzt. Vom Stift, der ohne Verschluss praktisch wertlos ist, ganz zu schweigen.

      Doch Luzian rührt sich noch immer nicht. Mit fest aufeinander gepressten Lippen bleibt sein Blick unverändert auf den ihren geheftet, und so starren sie sich gegenseitig wie zwei wütende Kampfhähne an.

      „Was ist denn hier los? Hat es euch die Sprache verschlagen?“, hören die beiden plötzlich Herrn Engel fragen, der unbemerkt hinter sie getreten ist.

      Als Luzian die Stimme seines Klassenlehrers vernimmt, muss er ganz schnell schlucken. Das hätte er besser nicht tun sollen, denn einen Augenblick später ist der Verschluss in seinem Mund verschwunden. Die darauffolgende Erkenntnis treibt dem Jungen die Tränen in die Augen. Das war so nicht geplant und hätte nicht passieren dürfen. Sein ängstlicher Blick und der zu einem lautlosen Schrei weit aufgerissene Mund genügen, um Leo begreiflich zu machen, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Sie sieht, wie Tränen in Luzians dunklen Augen schimmern. Dann begreift sie plötzlich – und presst entsetzt ihre Hand auf den Mund. Es bedarf keiner Worte mehr, um ihr zu erklären, was passiert ist. Leo hat verstanden, dass ihr Stöpsel ganz schnell Hilfe braucht. Und Luzian vermutlich auch.

      „Gibt es ein Problem?“, schaut Herr Engel aufmerksam von Luzian zu Leo und wieder zurück.

      „Ja. Genaugenommen zwei“, denkt sich Leo, aber noch immer verschreckt von seiner Stimme, rühren sich beide Kinder nicht und blicken sich wortlos an. Luzian weiß nicht, wie er erklären soll, dass er Leos Stöpsel geschluckt hat. Und das Mädchen sieht nur zu deutlich die Angst und Verzweiflung in seinen großen, weit aufgerissenen Schokoladeaugen.

      „Du musst es ihm sagen!“, flüstert Leonie kaum hörbar und sieht, wie Luzian verängstigt seinen Blick senkt.

      „Was muss er mir sagen?“, fragt Herr Engel durch das seltsame Verhalten der Kinder alarmiert. Doch beide blicken ihm nur schweigsam ins Gesicht.

      Leo kann es nicht fassen, dass Luzian noch immer nicht den Mund aufmacht. Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um den heldenhaften Stöpselverschlucker zu mimen. Und die Gefahr, dass ihr nach Erdbeeren duftender Filzschreiberverschluss möglicherweise Luzians Ende bedeutet, macht es plötzlich zwingend notwendig, zu äußerst drastischen Maßnahmen zu greifen, um den Schaden, so gut es geht, in Grenzen zu halten. Sie muss Luzian bei ihrem Lehrer verpetzen. Zu seinem eigenen Schutz. Auch wenn das nicht wirklich fair ist. Weil es auf der Welt nichts Schlimmeres als Petzer gibt, abgesehen von Filzstiftstöpselvermampfern. Schließlich nimmt sie all ihren Mut zusammen.

      „Er hat das Oberteil meines Erdbeerstiftes geschluckt“, hört sie sich mit bebender Stimme sagen, die in ihren Ohren ganz fremd klingt, und zeigt mit dem Zeigefinger auf den kopflosen Erdbeerstift.

      „Wie bitte?“, schaut Herr Engel abermals besorgt von Luzian zu Leo, in der Hoffung, etwas Gegenteiliges zu hören.

      Dann folgt, wie Leo bereits vermutet hat, eine ganze Reihe von aufgeregten Fragen des Lehrers, denen das Mädchen gern ausweichen würde, denn nun kommt zwangsläufig Konrad, das Krokodil vom Nil ins Spiel.

      Nachdem sich Herr Engel aufmerksam Leos Bericht angehört hat, bittet er Luzian aufzustehen.

      „Muss ich jetzt sterben?“, blickt der Junge bestürzt in das Gesicht seines Klassenlehrers.

      „Nein, natürlich nicht“, versucht Herr Engel zu beruhigen. „Hast du Schmerzen?“, fragt er besorgt.

      „Noch nicht“, blickt Luzian kurz auf den Zettel vor ihm, während Leo ihren nach Erdbeeren duftenden Filzstift zwischen ihren Fingern nervös hin und herdreht, ohne sich mit Farbe zu bekleckern.

      „Du musst trotzdem zum Schularzt“, entscheidet Herr Engel und bittet den Jungen, seine Jacke zu holen und seine Schuhe anzuziehen. „Davor werde ich noch deine Eltern verständigen“, fügt er ruhig hinzu. Beim Anblick von Luzians unglücklicher Miene