Seltsamerweise spielt das im Moment überhaupt keine Rolle, da es nämlich um etwas viel Wichtigeres geht als den Stift. Nämlich um Luzian.
„Es tut mir so leid, was passiert ist“, flüstert Leo ihm hinterher, als er dabei ist, die Klasse zu verlassen.
„Und mir erst“, erwidert der Junge und lächelt traurig. Dann folgt er Herrn Engel mit hängendem Kopf aus dem Klassenzimmer.
Die Tatsache, dass Luzian zum Arzt muss, lastet schwer auf Leonie und drückt ihre Laune noch mehr. Ihr ungutes Gefühl hat sie heute Morgen nicht getäuscht. Sie hätte besser im Bett bleiben sollen, dann würde ihr Erdbeerstift mit Kopfbedeckung gesund und munter in ihrem Federpennal liegen und nicht in Luzians Bauch. Was der Verschluss dort wohl gerade macht? Leonie will es lieber nicht wissen. Erwartungsgemäß muss sie in der Pause die Filzstiftstöpselverschluckgeschichte noch einmal erzählen und dann noch einmal, obwohl sie sich selbst nicht ganz sicher ist, was wirklich passiert ist.
„Der Cousin meiner Freundin Irmi hat sich mal eine Bohne ins Ohr gesteckt“, erinnert sich ihre Banknachbarin Lena, als Leo die Beschreibung des Vorfalls zum fünften Male mehr oder weniger ausführlich beendet.
„Und jetzt hat er Bohnen in den Ohren“, witzelt Edwin, was Lena überhaupt nicht komisch findet.
„So etwas kann sehr gefährlich sein“, erwidert sie empört.
„Wenn eine Bohne in die Speiseröhre gerät, kann ein Kind ersticken!“, sagt Beatrix.
„Du meinst wohl in die Luftröhre“, weiß es Edwin besser. „Denn in der Speiseröhre ist eine Bohne nicht wirklich gefährlich.“
„Seit wann befindet sich die Speiseröhre in den Ohren, hä?“, umrundet Clemens seine Schulbank und stellt sich zu Leo und den anderen Kindern.
„Ich hab nie behauptet, dass sich die Speiseröhre in den Ohren befindet!“, stellt Edwin klar. „Ich hab nur gesagt, dass eine Bohne in der Speiseröhre nicht wirklich Schaden anrichten kann, da alles, was wir essen, irgendwann dort landet.“
„Aber ganz bestimmt nicht in den Ohren“, erwidert Clemens uneinsichtig.
„Wenn sie den Darm erreicht, kann sie durchaus zur Gefahr werden - vor allem wenn sie zur Knallbohne wird“, grinst Bastian und ahmt ein berüchtigtes Geräusch nach, das die Kinder gut kennen und darauf verhalten kichern oder laut losprusten.
Nur Lena schaut pikiert. „Du bist unmöglich, Bastian, und hast überhaupt keine Manieren, weißt du das?“, blickt sie angewidert in seine Richtung.
„Was denn?“, ist sich der Junge keiner Schuld bewusst.
„Ist doch alles ganz natürlich“, verteidigt er sich. „Ich wollte damit nur sagen, dass alles, was oben rein geht, irgendwann unten wieder raus muss. Das ist übrigens nicht von mir. Sondern ein Naturgesetz.“
Klingt logisch, findet Leo. Während sie über seine Worte noch nachdenkt, unterhalten sich die übrigen Kinder eingehend über den Verbleib des verschluckten Stöpsels, wobei sie sich in zahlreichen Vermutungen ergehen und sich nicht wirklich einigen können, ob sich der Magen neben, vor, hinter, unter oder über dem Bauch befindet. Nur über eine Tatsache herrscht einstimmige Übereinstimmung, nämlich dass im Körper alles zusammenhängt, was auch ganz leicht zu beweisen ist, denn wenn man sich mit dem Popo auf einen Reißnagel setzt, so wie Edwins kleiner Bruder Pauli letzten Dienstag, kommen bei den Augen die Tränen heraus. Verständlicherweise ist dieses Thema noch lange nicht erschöpft, doch die Pausenglocke bereitet den vielen Mutmaßungen ein jähes Ende, da nun alle Kinder zurück auf ihre Plätze müssen, da nun gleich Die Kartoffelpiraten gelesen werden.
„Denn Lesen macht schlau“,
(Sagt der Herr Lehrer)
4 Eine unglaubliche Geschichte
Nach der Schule ist der verschluckte Stöpsel noch immer Thema Nummer eins. Während mehrere Hosentaschen auf dem Heimweg klingeln, muss Leo die Geschichte vom armen Erdbeerstiftstöpsel noch dreimal erzählen und fühlt sich schon fast wie eine Hör-CD, die ohne Unterbrechung abgespielt wird.
„Ich hätte Luzian für reifer gehalten. Immerhin ist er acht und keine drei mehr“, ruft ihr Edwin noch schnell zu, bevor er hinter Tür Nr. 8 verschwindet. Damit liegt er nicht ganz falsch, muss ihm Leo im Stillen Recht geben, obwohl sie davon überzeugt ist, dass Luzian den Stöpsel nicht absichtlich verdrückt hat, sondern nur, weil er erschrocken ist. Aber das behält sie für sich.
Als sie ihr Haus betritt, steht ihre Mama schon hinter der Tür und schaut das Mädchen erwartungsvoll an. Ein Blick genügt, und Leo weiß, dass ihre Mama weiß, was bereits die ganze Straße hinter vorgehaltenen Händen erzählt, da die Mamabuschtrommeln in dieser Straße viel schneller Nachrichten verbreiten als irgendwo sonst auf der Welt. Natürlich will Leos Mutter die ganze Stöpselschluckgeschichte nochmals von ihrer Tochter hören, obwohl sie sämtliche Einzelheiten (die tatsächlichen und die erfundenen) durch den Filter anderer Mamaberichte bereits viel genauer kennt als ihr Mädchen. Überhaupt geht Leonie davon aus, dass ihre Mutter bereits mehr weiß, als überhaupt passiert ist. Deshalb zieht das Mädchen erst mal seine Jacke aus, schleudert die Schultasche in die nächste Ecke (obwohl Mama das unter normalen Umständen nicht durchgehen lässt) und folgt seiner Mutter ins Wohnzimmer, obwohl der Magen bereits knurrt, da nichts so hungrig macht, wie das Erzählen von Erdbeerstiftstöpselverschluckgeschichten.
Nachdem Leo ihrer Mama den ganzen Vorfall von Anfang bis Ende mit nur allen erdenklichen Details geschildert hat, ohne auch nur die geringste Kleinigkeit auszulassen, und einen Teller Penne mit Soße in sich hineingeschaufelt hat, holt sie ihre Schultasche und verschwindet in ihrem Zimmer. Nun kommt der unangenehme Teil des Nachmittags, nämlich die Erledigung der Hausaufgaben, während Mama verzweifelt versucht, auf drei Handyanrufe gleichzeitig zu antworten. Leo gibt ihr noch schnell den Tipp zu simsen, doch ihre Mama gehört zu jener vom Aussterben bedrohten Spezies, die weder simsen kann noch überhaupt weiß, was dieses Wort überhaupt bedeutet.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube widmet sich Leo den Sachaufgaben, die ihr wie immer den Schweiß auf die Stirn treiben. Bereits die erste ist so schwierig, dass ihr die Lust auf alle weiteren vergeht. Ein Imker hat 17 kg Honig geerntet. Wie viele Gläser braucht er, wenn er in jedes Glas ein halbes Kilogramm Honig füllt?
Leonie fragt sich ernsthaft, woher sie das wissen soll, wenn es der Imker nicht weiß. Er sollte es allerdings schon wissen, denn immerhin ist es sein Honig, den er verkaufen will. Oder soll. Von irgendwas muss schließlich auch ein Imker leben. Nur ist es für sie nicht plausibel nachvollziehbar, warum ausgerechnet sie seine Honigglasabfüllprobleme lösen soll. Um sich ein wenig abzulenken, spielt sie mit dem roten Luftballon, den ihr die Verkäuferin beim Schuhe kaufen gestern im Einkaufszentrum geschenkt hat. Obwohl sie gar keine Schuhe haben wollte, sondern lieber einen Basketball. Aber den kann man seinen Füßen leider nicht anziehen, meint ihre Mama.
„Was wohl passieren würde, wenn so eine Biene einen Luftballon sticht?“, surrt es Leonie unvermittelt durch den Kopf. Wie viele Gläser man wohl mit der Luft eines einzigen Luftballons füllen könnte? Sicher nicht so viele, wie mit siebzehn Kilogramm Honig. Oder womöglich doch? Während sich Leo in hochgeistig mathematischen Überlegungen verliert, wird plötzlich die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen, worauf kurz darauf ihre große Schwester Katharina reinplatzt.
„Ist es wahr, dass heute deine Füllfeder verschluckt wurde?“, kommt sie ohne Umschweife zur Sache.
„Nein, sie lebt noch“, schaut Leo ernst zu ihr auf, „aber mein Erdbeerstift hat vermutlich dran glauben müssen!“
„Was heißt vermutlich?“
„Das heißt, dass mein Oberteil mit ziemlicher Sicherheit hinüber ist.“ Leo ist sich nicht ganz sicher, ob ihre Schwester das jetzt verstanden hat, da Kathi sie einen Augenblick fassungslos anstarrt und nichts sagt. „Das Unterteil lebt noch“, wird sie von Leonie aufgeklärt.
„Ein