Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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die Sonne gesehen!“ Mit einem zufriedenen Stöhnen ließ er sich auf dem Barhocker neben mir fallen.

      „Ach, nichts wichtiges“, murmelte ich und straffte meine Schultern. „War einfach ein langer Tag.“

      „Da sagst du was“, bestätigte Bobby und gab Mike ein Zeichen, der sich, mit einem tief ins Gesicht eingebrannten Dauerlächeln, mit einem Frührentner unterhielt, der mit seiner Rente zu einem Großteil von Mikes Umsatz beitrug.

      „Ich weiß nicht, wie viele Akten ich heute gewälzt habe. Waren garantiert so an die tausend.” Bobby trommelte mit seinen Fingern ungeduldig auf der Theke herum. „Tut mir übrigens leid, dass ich so spät dran bin. Steinmann wäre mir eben fast mit dem Arsch ins Gesicht gesprungen, als ich ihm deine Nachricht überbracht habe. Er hat einen Anruf von Beckmann bekommen. Du kennst den alten Choleriker; wenn er Steinmann Feuer macht, haben wir bald auch nichts mehr zu lachen.“

      Ich atmete schwer aus. „Lass mich raten. Er will Resultate sehen. Besser heute als Morgen.”

      Beckmann war der Polizeipräsident des Präsidiums Düsseldorf. Im Grunde war er das, was man als perfekten Vorgesetzten bezeichnete. Er ließ uns unsere Arbeit machen und pfuschte uns nicht dazwischen. Wenn er sich allerdings persönlich in einen Fall einschaltete, dann lief gerade irgendetwas gewaltig aus dem Ruder. Irgendwer übte gerade furchtbaren Druck auf Beckmann aus, der wiederum, als erwiesener Hitzkopf, seinen Unmut an Steinmann ausließ. Und Steinmann, tja, dem standen als Wutventil nur wir beide zur Verfügung.

      Bobby winkte ab. „Ach, der wird sich schon beruhigen. Morgen wälze ich mich weiter durch die Akten, und du machst diesen Becher ausfindig. Mehr können wir im Moment sowieso nicht tun.”

      Er winkte Mike erneut, der sich offensichtlich nur sehr schwer von seinem Stammkunden losreißen konnte.

      „Und außerdem; ich stehe zu meinem Standpunkt: Solange unser Mörder die Düsseldorfer Straßen vom Bodensatz der Gesellschaft befreit, soll er meinen Segen haben. Auf ein, zwei Tage soll es mir nicht ankommen.“ Er grinste schief und beugte sich über die Theke, um seine Körpermasse in Mikes Blickfeld zu wuchten.

      Ich zuckte resignierend mit den Achseln. Über diesen Standpunkt hätte es sich vortrefflich streiten lassen, doch ich wusste Bobby und seine zeitweilig etwas schroffe Art zu nehmen. Bobby konnte auf Außenstehende manchmal etwas grobschlächtig und unsensibel wirken, aber er war eigentlich kein so schlechter Kerl. Er trug sein Herz am richtigen Fleck, so viel stand fest. Selbst wenn er Straftätern gegenüber eine, sagen wir, etwas intolerante Haltung an den Tag legte, konnte ich ihm das bei unseren vergangenen Erfahrungen kaum verübeln.

      „Mensch, Mike!“, zeterte Bobby nach einem erneuten, erfolglosen Versuch, die Aufmerksamkeit des Kneipenwirts auf sich zu ziehen. „Mit wem muss ich hier schlafen, um ein Bier serviert zu bekommen?“

      Mike grinste verschlagen, murmelte seinem Gast eine kurze Entschuldigung zu und ließ sich viel Zeit, zu seinem Zapfhahn zu schlendern.

      „Weißt du, mein spezieller Freund“, begann er vergnüglich, als er mit einem frischen Bier in Reichweite geriet, „nach deinem Auftritt von gestern sollte ich dich eigentlich die nächsten zwei Wochen auf alkoholfreie Getränke setzen.“

      „Ach, komm schon, Mike, Kumpel“, säuselte Bobby zuckersüß, was bei seinem äußeren Erscheinungsbild etwas verstörend wirkte, „es tut mir doch leid. Ich will mich nicht mit dir streiten. Wie kann ich das wieder gut machen?“

      Mike stellte ein gut gefülltes Glas vor Bobby ab. „Du könntest dich ein bisschen um deinen Kumpel kümmern“, sagte er und nickte in meine Richtung. „Er schaut heute etwas sauertöpfisch in die Gegend. Noch so einen Trauerkloß, wie du es bist, kann ich mir nicht leisten, das vertreibt mir ja die Gäste!”

      Er lachte und machte einen Strich auf Bobbys Bierdeckel. „Macht mir keine Schande, Jungs“, ermahnte er uns nochmals, mit strafendem Blick auf Bobby, und zog sich wieder zu seinem Lieblings-Goldesel zurück.

      „Als wären wir zwei nicht deine besten Gäste!“, foppte Bobby und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas. „Mein Gott, wie habe ich das gebraucht!”, seufzte er, als der das Glas mit zufriedenem Gesichtsausdruck wieder abstellte. Es war halb leer.

      „Sag mal, Bobby“, begann ich vorsichtig, um meine Gedanken von Sandra abzulenken, „was hältst du von dem Fall? Ich meine, was glaubst du, steckt dahinter? Glaubst du wirklich, wir haben es mit einem Serienmörder zu tun?“

      „Was weiß ich!?“, murrte Bobby und leerte den Rest seines Glases in einem Zug. „Ich glaube allerdings, wir werden in nächster Zeit verdammt vorsichtig sein müssen, zu wem wir was sagen. Irgendwer hat Beckmann nervös gemacht. Steinmann wird uns, mit Beckmann im Nacken, die nächste Zeit kaum einen Schritt alleine machen lassen.“

      Er lachte kurz humorlos auf. „Es würde mich noch nicht einmal wundern, wenn Steinmann uns zum Pinkeln aufs Klo begleiten würde. Seien wir ehrlich, Steinmann läuft der Arsch auf Grundeis. Er wird nicht mehr viel Zeit haben, bis er Fahndungserfolge vorzuweisen hat.“

      „Ja“, bestätigte ich unverbindlich. Wir alle standen unter Druck. Wenn die Öffentlichkeit davon Wind bekam, dass in Düsseldorf ein Serienkiller sein Unwesen trieb, dann mussten sich alle bei der Polizei warm anziehen. Auch die Staatsanwaltschaft dürfte nicht sonderlich erfreut darüber sein, schließlich hatte sie offiziell die Leitung des Ermittlungsverfahrens inne.

      Mein Vibrationsalarm summte lauf auf und ich griff reflexartig zu meinem Handy. Ich hatte gehofft, Sandra würde sich melden, aber mein blinkendes Display verriet mit ‚Arnold’, dass Steinmann anrief. „Wenn man vom Teufel spricht“, sagte ich und klappte mein Handy auf.

      Es waren keine guten Nachrichten. Steinmann war sauer, so viel konnte ich bereits nach wenigen Worten sagen. Ich brauchte nicht viel Phantasie, um die Vorwürfe herauszuhören, die er mir zwar nicht direkt an den Kopf warf, aber auch nicht besonders geschickt zu verhehlen versuchte. Als ich auflegte, hallte seine laute Stimme immer noch in meinem Ohr nach.

      „Schlechte Nachrichten?“, fragte Bobby interessiert.

      „Schlimmer geht es nicht“, erwiderte ich und winkte Mike herbei, um zu bezahlen. „Es hat einen weiteren ‚Zwischenfall’ gegeben.” Ich sprach das Wort Mord nicht aus; man konnte nie wissen, wer in so einer kleinen Kneipe zuhörte.

      „Verstehe“, murmelte Bobby. Er warf mir einen kritischen Blick zu. „Ich glaube, es ist besser, ich fahre“, stellte er fest und zog den Fahrzeugschlüssel für unseren Dienstwagen aus der Tasche. „Wohin geht es?“

      „Zu Thomas Becher“, zischte ich leise. Die Übelkeit, die mich in letzter Zeit geplagt hatte, kehrte schlagartig wieder zurück. Noch hatte ich keine Informationen, was passiert war, aber es konnte kein Zufall sein, dass mir unser Zeuge praktisch unter meinen Augen weggestorben war. Der Mörder war uns in diesem Fall einen Schritt voraus gewesen. Der Gedanke, was das implizierte, verursachte mir stechende Magenschmerzen. Als wir hinaus zum Wagen eilten, versuchte ich vergeblich, den in mir aufkeimenden Gedanken nicht zu denken: „Irgendjemand steckt unserem Täter Informationen zu.” Und vielleicht war es sogar jemand, den ich kannte.

      19 Tage davor

      Es war inzwischen kurz vor Mitternacht. Den größten Teil der Fahrt verbrachten Bobby und ich schweigend. Obwohl wir noch nicht wussten, was uns am Tatort, außer einer weiteren Leiche, erwarten würde, gab es an der Situation nichts zu deuteln. Wir beide waren uns stillschweigend einig, dass es kein Zufall sein konnte, dass unser potenzieller Zeuge nur einen Tag nach seiner Identifizierung eines unnatürlichen Todes gestorben war. Es widersprach zwar meiner Natur, immer vom Schlimmsten auszugehen, aber mit den uns vorliegenden Tatsachen konnte selbst ich nicht meine Augen vor der Wahrheit verschließen: Irgendwer hatte Informationen nach draußen gegeben. Ob absichtlich oder unabsichtlich, würde sich noch zeigen müssen.

      „Es könnte auch Zufall sein“, platzte es plötzlich aus Bobby heraus, ohne dass ich irgendetwas hätte sagen müssen. „Der Kerl hat definitiv nicht das Leben eines Heiligen gelebt. Mit