Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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hatte eine dunkle Seite, und sie zeigte sich vornehmlich in den düsteren Ecken zwischen den zahlreichen, glänzenden Fassaden der Königsallee und all der anderen Straßen, die Anzugspunkt so vieler Menschen und Touristen waren. Es war die Schattenseite der Stadt und die dunkle Seite von uns allen, die wir bevorzugt ignorierten, oder uns sogar einredeten, sie würde nicht existieren.

      Viele der Obdachlosen kannte ich noch aus meiner Zeit als Streifenpolizist. Aus den zahlreichen Teenagern, deren Jugend auf den Düsseldorfer Straßen unsanft ihr Ende gefunden hatte, waren inzwischen Erwachsene geworden, deren Leben um keinen Deut besser war als zu der Zeit, zu der ich sie noch jeden zweiten Abend in die Ausnüchterungszelle steckte, um nicht nur die Bevölkerung vor ihnen, sondern auch sie vor sich selbst zu schützen.

      Es war deprimierend, ein hoffnungsloser Kampf gegen den zunehmenden Verfall gesellschaftlicher Werte, vor dem der Rest der Bevölkerung die Augen verschloss.

      Ich hatte mich in Jeans und Lederjacke geworfen, aber ich gab mich keinen Illusionen hin: Der Beigeschmack nach Polizei klebte an mir wie der stechende Geruch an einem reifen Käse. Ich hätte mir genauso gut ein Schild um den Hals hängen können, das mit Großbuchstaben ‚Polizist’ buchstabierte, und ich wäre vergleichbar auffällig herumgelaufen. Es ist der Alltag eines Polizisten, der sich nicht nur in deinem Verstand, sondern auch in Deiner Körperhaltung niederschlägt. Irgendwann, wenn dir all das Leid über den Kopf gewachsen ist, siehst du keine anderen Menschen mehr, sondern nur noch potenzielle Straftäter und die Abgründe, vor denen sie stehen. Wäre Sandra nicht in mein Leben getreten, hätte ich wahrscheinlich schon längst wie Bobby meinen Weltschmerz im Alkohol ertränkt.

      Als ich mich einer Gruppe von Obdachlosen und ihren Hunden näherte, die sich auf dem Boden rund um eine Bank versammelt hatten, waren es die Menschen, die mich zuerst bemerkten. Die Vierbeiner fühlten sich noch nicht einmal dazu genötigt, ihren Kopf zu heben. Zu viele Menschen kamen an ihnen vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken, und wurden ihrerseits von den Tieren mit Missachtung gestraft.

      „Was willst du? Wir haben nichts gemacht!“, verteidigte sich einer der heruntergekommenen Männer prophylaktisch, bevor ich überhaupt den Mund geöffnet hatte. Obwohl sein Gesicht hinter einem struppigen, dreckigen Bart verborgen lag und seine verfilzten Haare tief in sein schmutziges Gesicht hingen, erkannte ich ihn sofort. Er war genau einer der Männer, die ich gesucht hatte, auch wenn er sich seit unserem letzten Treffen vom Straßenkind mit bescheidenen Zukunftsaussichten zum Penner ohne Zukunft heruntergearbeitet hatte. Bereits seit acht Jahren füllte sein bedauernswertes Leben unsere Akten. Ferdinand Müller – Ferdi – war mit 12 das erste Mal von zu Hause ausgerissen. Obwohl er von der Polizei einige Male aufgegriffen und zu seinen Eltern zurückgebracht worden war, hatte er es nie länger als zwei Wochen am Stück mit seinen Erzeugern ausgehalten. Ehrlich gesagt, verwunderte es mich auch nicht. Sein Vater war schwerer Alkoholiker, und seine Mutter hatte nie die Stärke aufgebracht, sich oder ihre Kinder vor ihrem brutalen Mann zu schützen. Als Ferdi endlich zu seinem Schutz ins Heim gekommen war, war sein Leben bereits verpfuscht gewesen. Die Schule hatte er abgebrochen, seine Chancen auf eine Lehrstelle tendierten damals gegen Null. Seine Freunde hatten ebenfalls auf der Straße gelebt, boten ihm also kein sicheres soziales Gefüge, das einen Neuanfang ermöglicht oder gar versprochen hätte. Sein bester Freund war, zumindest damals, Thomas Becher gewesen. Insofern hoffte ich, mit Ferdi den richtigen Ansprechpartner gefunden zu haben.

      „Hi, Ferdi“, begrüßte ich ihn jovial, als würde ich einen alten Freund treffen. „Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“

      „Warum sollte ich einem Bullen helfen?“, fragte er provokativ und erntete das zustimmende Gelächter seiner Saufkumpane. Eine Ekel erregende Alkoholfahne schlug mir entgegen.

      „Ach, Ferdi“, seufzte ich. „Du kennst mich doch. Eine Hand wäscht die andere. Du hilfst mir und ich übersehe großzügig, dass Ihr hier zusammen mit Minderjährigen Alkohol konsumiert.”

      Ich nickte übertrieben freundlich in Richtung der beiden jungen Kerle, die ihr 18. Lebensjahr in naher Zukunft definitiv nicht vollenden würden.

      „Du kannst mich mal, Scheißbulle!“, krächzte Ferdi und baute sich, befeuert durch die Anwesenheit seiner Freunde, drohend vor mir auf. „Steck mich doch in den Knast! In 24 Stunden bin ich sowieso wieder draußen!” Er lachte vorlaut und entblößte eine Reihe schwarzer Zähne. „Außerdem…“, höhnte er angestachelt, „…könnte ich eine Nacht in einem richtigen Bett mal wieder vertragen!”

      Ein lautes Johlen seiner Kumpel trieb ihm ein fettes Grinsen ins Gesicht.

      Ich rollte mit den Augen. Diese Sprüche waren nichts Neues für mich. Offensichtlich war es für Ferdi notwendig, mir die Stirn zu bieten, um sich innerhalb seines sozialen Gefüges als Held verkaufen zu können. Ich versuchte es erneut, beschwichtigend: „Ferdi, bitte! Ich habe nur eine Frage, dann bin ich wieder weg. Ein, zwei Minuten, und du bist mich wieder los.“

      Ich kam allerdings nicht mehr dazu, meine Frage zu stellen. In diesem Moment beging Ferdi einen folgenschweren wie unverzeihlichen Fehler. Ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf ging, als er mir mit seinen dreckigen Griffeln provozierend vor die Schulter schlug. Vielleicht war er etwas übermütig geworden, weil ich seiner kleinen Armee von mindestens sechs Männern plus drei Hunden alleine gegenüberstand, oder er spürte den Kasper in sich aufwallen, doch das war mir in diesem Moment egal. Der Schlag fiel nicht sonderlich stark aus, sondern sollte mir wahrscheinlich nur so etwas wie Respekt einbläuen oder eine simple Drohgebärde sein, doch so etwas ließ ich mir nicht gefallen. Erstens hatte ich lange genug die Annäherungsversuche unseres Gerichtsmediziners stillschweigend erdulden müssen, so dass meine Nerven sowieso etwas dünner als gewöhnlich ausfielen; zweitens hatte so ein Punk nicht das Recht, mich anzufassen. In dem Moment, als ich durch seinen kleinen Schubs erzwungenermaßen einen kurzen Ausfallschritt nach hinten machen musste, schaltete sich irgendetwas in meinem Kopf aus und überließ der plötzlich aufwallenden Wut die Oberhand.

      Ich war nicht unbedingt der Sportlichste und kam auch längst nicht an das Gewicht von Bobby heran, aber ich hatte in meiner Polizeiausbildung ein paar Tricks gelernt.

      Bevor Ferdi überhaupt wusste, wie ihm geschah, küsste er mit seiner Wange bereits den Betonboden. Ich hatte ihn mit meinem rechten Bein ausgehebelt und bäuchlings zu Boden geworfen. Mein rechtes Knie bohrte sich von hinten in seine Nieren, während meine linke Hand seinen linken Arm schmerzhaft nach hinten bog. Aus dieser Lage würde er sich ohne fremde Hilfe nicht befreien können.

      Ferdi fing an zu kreischen wie ein kleines Mädchen, aber ich lockerte meinen Griff keinen Millimeter. Seine Freunde taten so, als würden sie ihn auf einmal nicht mehr kennen. Sie blickten demonstrativ in eine andere Richtung und unterhielten sich angeregt über das Wetter.

      „So, mein Freund“, sprach ich in gebührendem Abstand in sein Ohr, um bei seinem Gestank nicht ohnmächtig zu werden. „Jetzt werden wir uns ein bisschen unterhalten.”

      Ferdi wimmerte etwas Unverständliches. Routiniert suchte ich mit meiner freien Hand seine Taschen ab, um zu meiner eigenen Sicherheit unangenehme Überraschungen zu vermeiden. Sicher ist sicher.

      Zu meiner Verblüffung förderte ich ein braunes Arzneimittelfläschchen, Aspirin, eine Handvoll unbenutzter Einwegspritzen sowie ein paar Packungen Kaugummis zu Tage. Es sah aus, als hätte er vor kurzem eine Apotheke, oder zumindest einen mittelgroßen Medizinschrank ausgeräumt.

      Seine rechte Tasche hingegen hielt etwas bereit, das ich eindeutig als ‚unangenehme Überraschung’ bezeichnen würde. Tief im Innenfutter vergraben fand ich ein großes Springmesser, das beunruhigend schwer in meiner Hand lag. Das Messer war nicht ganz billig, gut gearbeitet und eindeutig gefährlich, zumindest in den Händen eines unberechenbaren Drogensüchtigen.

      Die Umstände betrachtet, war es wahrscheinlich ebenfalls geklaut. Ich stopfte alles in die ausgebeulten Taschen meiner Jacke. Diese Dinge gehörten eindeutig nicht in die Hände eines Straßenjunkies. „Das gehört mir“, schniefte Ferdi und versuchte vergeblich, sich unter mir herauszuwinden. Ich erhöhte den Druck auf seinen Arm. „Ehrlich Ferdi, für wie dumm hältst du mich eigentlich?“, fragte ich, ohne eine Antwort abzuwarten. „Dir ist doch schon bewusst, dass der