Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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fluchte ich und hielt mir die Hand vor dem Mund. „Was ist das?“

      „Urin“, verkündete Großkopf stolz, als hätte er gerade den Nobelpreis gewonnen.

      „Urin?“, fragte ich ungläubig. Ich kniete mich auf den Boden und untersuchte den Schrank. Großkopf hatte Recht. Der mit Teppich ausgelegte Schrankboden wurde durch einen großen, dunklen Fleck dominiert, von dem der stechende Geruch nach Ammoniak ausging. „Vom Opfer? Oder vom Täter?“, überlegte ich laut über meine Schulter.

      „Schwer zu sagen. Wir haben eine Probe genommen. Aber wenn Sie meine persönliche Meinung wissen wollen, würde ich sagen: Nein, nicht vom Opfer. Die Kampfspuren lassen nicht darauf schließen, dass sich der Kampf bis zum Schrank ausgeweitet hat.“

      Überrascht fuhr ich hoch und vergaß für einen Augenblick den strengen Geruch.

      „Sie meinen also, …“, hakte ich vorsichtig nach.

      „Ich meine, in diesem Schrank hat sich jemand versteckt.“

      „Jemand, der sich nicht herausgetraut hat, um zur Toilette zu gehen“, ergänzte ich aufgeregt. „Vielleicht, weil es zu gefährlich war und es seine Anwesenheit verraten hätte.“

      „Korrekt“, bestätigte Großkopf mit einem zufriedenen Lächeln. „Entweder, der Mörder hat unserem Opfer hier längere Zeit aufgelauert, was ich nicht für sonderlich wahrscheinlich halte, oder aber es gibt zumindest dieses Mal einen Zeugen für die Tat.“

      21 Tage davor

      Erschöpft lehnte ich mich gegen die Innenseite der Haustür, als ich mit einem erleichterten Seufzen die Welt hinter der Holzverkleidung meiner Tür zurückließ. Nach dem heutigen Tag sehnte ich mich nach stupider Fernsehunterhaltung und einem schönen Glas Bier. Ich hatte mich dagegen entschieden, dieses Bier mit Bobby zu trinken. Heute war mir nicht nach Unterhaltung zumute. Ich musste erst einmal die Bilder von Merkmanns unrühmlichen Dahinscheiden verarbeiten.

      Ich streifte umständlich meine Schuhe ab, ohne mir die Mühe zu machen, mich zu bücken. Wir wohnten im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses, in einer kleinen, aber teuren Wohnung mit Blick auf den Rhein, der sich jedes Mal auszahlte, wenn ich mich auf dem Balkon weit über die Brüstung nach links lehnte, um mit zusammengekniffenen Augen und ein bisschen Phantasie die dunkle Oberfläche des Wassers zwischen den angrenzten Häusern sanft im Abendrot schimmern zu sehen. Bobby hatte bei seinem letzten Besuch in seiner typisch unverblümten Art vehement die Meinung vertreten, er könne nichts anderes sehen als Taubendreck und Mülltonnen, aber ich ließ mir den Ausblick nicht von ihm vermiesen. Der Blick auf das Wasser war mein Ausgleich für das Leben in der Stadt, das Sandra sich so sehnlich gewünscht hatte.

      Da wir keine Kinder hatten, brauchten Sandra und ich nicht viel Platz. Wir hatten es uns in unserem kleinen Liebesnest gemütlich gemacht, als sicherer Hafen gegen die Außenwelt, die wir konsequent aus unserer Wohnung ausschlossen. In den vier Jahren, die wir mittlerweile in dem Gebäudekomplex wohnten, waren mir weder die Namen, noch die Gesichter unserer zahlreichen Nachbarn in Erinnerung geblieben. Sie ließen uns in Ruhe und wir ließen sie in Ruhe, in einer perfekten, friedlichen Koexistenz der Nichtbeachtung.

      Sandra saß in unserem kleinen Wohnzimmer in der schmalen Ecke, die wir als unser Büro bezeichneten, und malträtierte die abgenutzte Tastatur ihres alten Notebooks. Sie war freie Journalistin und verdiente sich ihr Zubrot mit Gelegenheitsartikeln, die sie an die zahlreichen Fach- und Sensationsblätter der deutschen Medienlandschaft verkaufte. Manchmal war es sehr schwierig für sie, ihre Artikel überhaupt an die Zeitschriftenverlage bringen zu können. Ohne mein regelmäßiges Beamtengehalt hätten wir wahrscheinlich aus Düsseldorf wegziehen müssen, um die horrende Miete unserer Wohnung gegen eine günstigere Alternative irgendwo im Ruhrpott zu tauschen.

      Ich beobachtete sie unauffällig aus dem Türrahmen heraus. Ich liebte sie für ihren unermüdlichen Eifer und ihren unerschütterlichen Glauben, irgendwann eine gefeierte Sensationsjournalistin zu werden. In ihrer eigenen Wahrnehmung war ihr gegenwärtiger, anhaltender Nichterfolg lediglich eine lange Durststrecke auf dem Weg zu Ruhm und Anerkennung.

      Das warme Licht der Schreibtischlampe schimmerte golden in ihren braunen Haaren, während sie mit ihrer rechten Hand von Zeit zu Zeit inne hielt, um sich die störrische Locke hinter ihr rechtes Ohr zu klemmen, die sie so furchtbar störte. Ihr Blick schweifte ständig zwischen dem Computerbildschirm und einem dicken Wälzer neben ihr hin und her, während ihr Mund unermüdlich auf einem alten Kugelschreiber kaute, der von der permanenten Überbeanspruchung längst seine Fähigkeit eingebüßt hatte, Tinte aufs Papier zu bringen.

      Ich schlich mich langsam näher und streifte mit meiner Hand ihre langen Haare beiseite, um zärtlich ihren Nacken zu küssen. Sie zuckte leicht zusammen und ließ ihren Stift fallen. „Hast du mich erschreckt!“, beschwerte sie sich und versuchte, mit ihren tiefblauen Augen möglichst finster in meine Richtung zu funkeln.

      „Was machst du?“, fragte ich unverbindlich und umarmte sie von hinten, damit sie wenigstens für ein paar Minuten von ihrem Computer abließ. Nach dem heutigen Tag hätte ich etwas Nähe gut vertragen können, die nicht von den Grabschhänden unseres Gerichtsmediziners stammte. Ihre Haare verströmten einen sanften Geruch nach Kokosnuss.

      Sandra schlängelte sich aus meiner Umarmung und drehte sich mit dem Bürostuhl zu mir um. „Ein neuer Artikel!“, brabbelte sie aufgeregt und setzte ihre Brille ab, die sie aus falsch verstandener Eitelkeit nur vor dem Bildschirm trug. Mir war es egal, in meinen Augen sah sie sowohl mit als auch ohne Brille absolut hinreißend aus. „Ich habe dir doch von dem Informanten erzählt, der sich letzte Woche bei mir gemeldet hat. Du weißt schon, der Mitarbeiter in der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft! Er hat mir heute eine E-Mail geschickt, um ein Treffen vorzuschlagen.“

      „Ja und?“, brummelte ich und zog meine Stirn in Falten. Ich hatte die Diskussion mit ihr bereits mehrere tausend Male geführt und es inzwischen aufgegeben, mich weiter mit ihr zu streiten. Ich hatte meinen Standpunkt mehr als einmal deutlich gemacht, dass mir ihre Treffen mit fremden Männern Bauchschmerzen bereiten. Fast regelmäßig traf sie sich mit irgendwelchen dubiosen Gestalten, von denen sie nicht mehr als den Namen kannte, aber weder wusste, ob der Name stimmte, oder ob die Fremden tatsächlich lautere Absichten hegten. Ich hatte sie angefleht, mich zum Schutz mitzunehmen und ihr sogar angeboten, unauffällig im Wagen zurückzubleiben, aber sie war darauf nicht eingegangen. Sie konnte einen unglaublichen Sturkopf besitzen, wenn es um ihre Arbeit ging. Sie bezeichnete die Beziehung eines Journalisten zu seinen Informanten als ‚schmales Band des Vertrauens’, das durch jede unbedachte Geste ‚irreparablen Schaden’ erleiden konnte. Und sie war nicht bereit, dieses Risiko einzugehen, immerhin war ein zünftiger Sensationsjournalist auf seine Quellen angewiesen. Was wiederum bedeutete, ich musste mit der Angst um sie leben lernen.

      „Das ist die Sensation!” Sie lachte aufgeregt und wippte mit dem Bürostuhl vor und zurück. Sie zog das Wort ‚Sensation‘ endlos in die Länge. „Er hat nicht viel verraten, aber einiges angedeutet. Wenn das alles stimmt, dann ist das der Durchbruch für mich.”

      Sie hob mit einem träumerischen Blick ihre beiden Hände und zeichnete einen Bogen in die Luft. „Ich sehe die Titelzeile schon vor mir: Korruptionsskandal in der Staatsanwaltschaft Düsseldorf. Von Sandra Bachmann.” Sie lachte überschwänglich.

      „Korruptionsskandal?“, fragte ich müde. Ich hatte inzwischen gelernt, ihre beinahe alltäglichen Ruhmesphantasien nicht allzu Ernst zu nehmen. In ihrer Laufbahn hatte sie schon viele ‚Durchbrüche’ vor ihren Augen vorbeiziehen sehen, aber bisher war ihr der große Wurf noch nicht geglückt. Aber es war absolut bewundernswert, dass sie trotzdem ihren großen Traum nicht aufgab. Jedes Mal, wenn sich ihre neue Coverstory als Ente entpuppte, trauerte sie zwei Tage, stand wieder auf, klopfte den Staub ab und machte sich auf die unermüdliche Suche nach der nächsten Topstory.

      „Ja. Der Informant behauptet, er hätte Beweise, die zwei Richter und einen Staatsanwalt der Korruption überführen.“

      „Aha“, machte ich. „Was für Beweise sollen das sein?“

      „Weiß