Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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die Eier abgeschnitten zu bekommen.“

      „Ich weiß, dass du es nicht so meinst“, winkte Bobby ab. „Meine Nerven liegen im Moment ein bisschen blank. Sorry.“ Er sah aus wie ein begossener Pudel, als er so verloren in dem Flur zu Merkmanns Wohnzimmer stand.

      „Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend mal wieder ein Bier zusammen gönnen?“, schlug ich zur Versöhnung vor und boxte ihm spielerisch in den Arm. „Ein guter, zünftiger Männerabend! Etwas Ablenkung könnte dir bestimmt nicht schaden!“

      „Ja, wäre cool“, murmelte Bobby. „Und du zahlst!“

      Er erwiderte meinen Knuff mit einem kräftigen Schlag auf meinen Bizeps. Ich verkniff mir nur mühsam einen schmerzerfüllten Aufschrei und biss die Zähne zusammen.

      „Und jetzt zu den unangenehmen Dingen!“, proklamierte er und folgte dem Flur ins große Wohnzimmer. Ich trottete leise fluchend hinterher und rieb meinen schmerzenden Oberarm.

      Die Wohnung war nicht sehr groß und nur spärlich ausgestattet. Eine dreckige Küche, ein kleines Schlafzimmer und ein rustikales Wohnzimmer waren alles, was Merkmann dieser Welt hinterlassen hatte.

      Die Spurensicherung war gerade dabei, ihre Ausrüstung zusammenzupacken.

      Der Gerichtsmediziner, der sich mit prüfendem Blick über den Leichnam beugte, war derselbe, der mich schon bei Bruno Bauer ständig betatscht hatte. Großkopf. Schlagartig vergaß ich meinen schmerzenden Arm. Ich suchte hinter Bobbys schrankwandähnlichem Rücken Deckung vor den Händen des Mediziners und sondierte aus dieser relativen Sicherheit heraus den Tatort.

      Merkmann hatte seit dem Kinderschänderskandal allzu offensichtlich an finanziellem Status eingebüßt. Seine Villa, die er damals bewohnt hatte, hatte über Wochen auf den Titelseiten der Zeitungen geprangt. Es war ein herrliches, herrschaftliches Haus aus der Jahrhundertwende gewesen, das mit Sicherheit auf dem Markt einige Milliönchen eingebracht hätte; zumindest, bevor bekannt wurde, dass der Vorbesitzer verdächtigt wurde, ein widerlicher Kinderschänder zu sein.

      Dieses Drecksloch war der absolute Gegenentwurf zu dem Prunkbau, den Merkmann vorher bewohnt hatte. Die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden, die Luft roch muffig nach den Ausdünstungen von Generationen von Vormietern, und der Teppich war eine Komposition unterschiedlichster Grau- und Schwarztöne. Das wäre an sich nicht so schlimm gewesen, hätte ich nicht den starken Verdacht gehegt, der Teppich wäre irgendwann vor Jahrzehnten einmal weiß gewesen.

      „Was wissen wir bereits?“, fragte ich, ohne mich hinter Bobby hervorzutrauen. Ich hatte es bisher vermieden, einen Blick auf das Opfer zu werfen, aber ich konnte es leider nicht vermeiden, dass meine Augen den riesigen Blutfleck auf dem Boden streiften, der in seiner Form verdächtig einem Rorschachtest ähnelte. Mir wurde leicht übel. Meine Verdauung setzte für einen kurzen Moment aus und überlegte angestrengt, welche Richtung mein Mittagessen einschlagen sollte. Zum Glück entschied sich mein Körper, es nicht wieder die Speiseröhre zurückzuschicken, sondern alles seinen natürlichen Weg gehen zu lassen.

      Großkopf blickte träge auf und zeigte Merkmann demonstrativ zwischen die nackten Beine.

      „Zwei glatte Schnitte“, stellte er emotionslos fest und deutete mit seinem Finger auf zwei große, verkrustete Wunden unterhalb von Merkmanns Geschlecht. Sein Gesicht war der Inbegriff der Professionalität. Offensichtlich war ich der einzige, der bei diesem Anblick unter Phantomschmerzen zu leiden hatte.

      Merkmann lag mit ausgestreckten Armen und Beinen inmitten des Wohnzimmers. Hanfseile fixierten seine Extremitäten an der Couch und an ein paar Sesseln, die aussahen, als hätte Merkmann sie vom Verwertungshof seines Vertrauens bezogen. In seinem aufgequollenen Mund steckte ein Knäuel Socken, sorgsam mit doppelseitigem Klebeband fixiert. In dieser Position sah Merkmann aus wie der ‚Vitruvianische Mensch’ von Leonardo da Vinci, davon abgesehen, dass ihm zwei kleine Details im Vergleich zu der Anatomiestudie des großen Meisters fehlten.

      „Die Tatwaffe wurde bereits von der Spurensicherung sichergestellt. Ein zweischneidiges Jagdmesser, mit langer Klinge. Es lag neben dem Opfer.“

      Er musterte Merkmann unberührt. „Soweit ich es sagen kann, wurde das Opfer mehrere Stunden misshandelt.“ Er zeigte mit seinen mit Latexhandschuhen bewehrten Händen auf ein paar dunkle Flecken, die sich entlang der gesamten Leiche auf der bleichen Haut abzeichneten. „Diese Verletzungen sprechen eine klare Sprache.“

      Er blickte zu uns auf und musterte uns durch seine dicken Gläser schief. „Um Ihre nächste Frage vorweg zu nehmen“, sagte er, „der Tod ist vor etwa 24 Stunden eingetreten. Es dürfte in etwa eine halbe bis eine Stunde gedauert haben, bis der Blutverlust zum Tode geführt hat. Allerdings vermute ich, dass er nicht die ganze Zeit bei Bewusstsein war. Die Schmerzen müssen atemberaubend gewesen sein.“

      Mit einem Ächzen richtete sich Großkopf auf und stolzierte bedächtig zum Tisch, auf dem er seine Tasche abgestellt hatte. „Steinmann hat mir bereits zu verstehen gegeben, dass der Fall oberste Priorität hat“, verkündete er mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Ich denke, ich werde Morgen Abend die Ergebnisse der Obduktion liefern können. Aber ich bezweifle, dass wir auf irgendwelche Überraschungen stoßen werden.“

      Er hüstelte demonstrativ und raffte seine Sachen zusammen.

      „Wenn die Herren mich jetzt entschuldigen würden, meine Frau wartet mit dem Abendessen auf mich.“

      Im Türrahmen verharrte er für eine Sekunde. „Ich denke, Omelette wäre heute genau das Richtige.“ Er lachte kurz auf und verabschiedete sich mit einem überfreundlichen „Guten Abend, meine Herren!“

      Bestürzt starrte ich ihm hinterher. Sollte das gerade ein Witz gewesen sein? „Der Kerl hat Humor“, bestätigte Bobby lachend meine Befürchtung.

      Ich schüttelte entsetzt den Kopf. „Ich weiß nicht“, kommentierte ich pikiert. „Das war absolut nicht witzig! Es sollte Gerichtsmedizinern von Amtswegen verboten werden, Witze zu reißen. Das passt nicht zusammen, so wie…“, ich zögerte einen Moment auf der verzweifelten Suche nach einem passenden Vergleich, „…, Köln und Düsseldorf.“

      Bobby grummelte etwas Unverständliches, etwas in Richtung „So viel Humor wie ein Stück trocken Brot“ und folgte dem Gerichtsmediziner in den Flur. „Ich schaue mich mal ein bisschen um“, verkündete er lautstark, als er das Zimmer bereits verlassen hatte, immer noch leise über den Witz des Nicht-Pathologen lachend.

      Ich blieb unschlüssig im Wohnzimmer stehen und versuchte, mir den Leichnam nicht allzu genau bildlich einzuprägen. Für heute hatte ich genug Blut gesehen. So oder so, der Fall versprach, eine harte Nuss zu werden. Es gab im Haus keine Zeugen, die irgendetwas gesehen oder gehört haben wollten, das wussten wir bereits nach ersten Befragungen. Und das, obwohl einem Mann bei lebendigem Leib seine Kronjuwelen abgeschnitten worden waren. Ich bezweifelte, dass das lautlos vonstatten gegangen war, selbst bei dem überdimensionierten Knebel im Mund des Opfers.

      Ich seufzte leise. Der Druck auf uns war bereits jetzt hoch; mit einem zusätzlichen Toten dürfte sich die Lage nicht vereinfachen. Doch leider konnte niemand von uns hexen und aus unserem Hut einfach ein paar auskunftswillige Zeugen oder Beweise zaubern. Es blieb uns in dieser Situation nichts anderes übrig, als die Ergebnisse der Spurensicherung abzuwarten. Auch unser Mörder würde irgendwann einen Fehler begehen, der uns letztendlich auf seine Spur bringen würde. Die Frage war nur, wie viele Morde würde er begehen, bis es so weit war?

      Eine Hand an meiner Schulter riss mich aus meinen Gedanken. „Eine Sache habe ich noch vergessen“, sagte eine Stimme hinter mir. Großkopf! Ich zog mit einer panikartigen Bewegung meine Schulter unter seiner Hand hervor und drehte mich übellaunig um. War es denn wirklich so schwer für den Kerl, seine Hände bei sich zu lassen!? „Was denn?“, grummelte ich unfreundlich.

      „Sie sollten den Wohnzimmerschrank genauer unter die Lupe nehmen“, erwiderte Großkopf, unbeeindruckt von meiner feindseligen Körperhaltung. „Wir haben etwas sehr interessantes entdeckt!“

      Mit einem geheimnisvollen Nicken deutete er auf einen schlichten Wandschrank, der in der hinteren