Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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Monate genügend beschäftigt hatte, um Bobby ein bisschen von Marie abzulenken.

      „Wie kommt er darauf?“, fragte ich irritiert. „Wir haben doch keinerlei Hinweise auf den Täter, oder nicht?“

      „Das nicht“, bestätigte Bobby ungerührt. „Doch heute haben sie eine weitere Leiche gefunden. Interessant daran: Der Mörder hat die gleiche Visitenkarte hinterlassen.“

      „Oh“, entgegnete ich und verstummte. Keiner von uns beiden wollte das Wort ‚Serienmörder’ offen aussprechen, aber wir beide wussten, in welche Richtung dieser Fall zu kippen drohte.

      „Wir sind da“, unterbrach Bobby meine Gedanken.

      Vor uns lag eine ruhige Seitengasse, in der die eng aneinander stehenden Häuser gespenstisch durch die hektisch blinkenden Blaulichter der Einsatzfahrzeuge beleuchtet wurden. Einige Schaulustige hatten sich bereits an der Polizeiabsperrung eingefunden und versuchten ein paar neugierige Blicke auf die vielen Polizisten zu erhaschen. Aber die Kontrollpunkte waren klug gewählt und ließen keinerlei Schlüsse darauf zu, was in diesem ruhigen Stadtteil passiert sein mochte. Steinmann hatte das Gebiet weitläufig absperren und ein enormes Polizeiaufgebot auffahren lassen. Mir wurde etwas flau im Magen. Steinmann war ein sehr besonnener Mann. Er würde niemals mit einer so großen Aktion die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf einen Tatort lenken, es sei denn, er war an einer wirklich großen Sache dran.

      Zu diesem Zeitpunkt sollte ich noch nicht wissen, wie Recht ich mit dieser Einschätzung haben sollte. Genauso wenig war mir bewusst, dass dieser Moment der erste Tag vom Ende meines behüteten und glücklichen Lebens sein sollte. Doch ich hatte bereits den ersten Schritt auf einem Weg getan, an dessen Ende meine Frau sterben sollte.

      77 Tage davor

      In meinem Leben hatte ich bereits viele Tatorte und damit einhergehend weitaus mehr Leichen gesehen, als einem einzelnen Menschen zugemutet werden sollte. Doch die Jahre im Polizeidienst hatten es mit sich gebracht, dass jede weitere Leiche mich etwas weniger aufwühlte, etwas weniger verfolgte, bis der Tod seinen Schrecken verloren hatte und auf erschreckende Art und Weise Normalität geworden war. Trotzdem wurde mir leicht übel, als ich den verwesenden Körper vor mir auf dem schmutzigen Teppich liegen sah.

      Bruno Bauer war selbst zu Lebzeiten kein besonders hübscher Anblick gewesen, aber in seinem jetzigen Zustand trieb mir der strenge Geruch die Tränen in die Augen. Er starrte aus tiefen, eingefallenen Höhlen an die Decke, den Mund leicht geöffnet, als würde er lediglich schlafen. Seine weiße, wachsartige Haut fing bereits an, sich zu zersetzen. Einige Fliegenlarven krochen träge über die hügelige Kraterlandschaft seines verwesenden Körpers, dick gefressen, im fahlen Licht der Fenster fettig glänzend.

      Neben ihm kniete bereits ein Mann, eingehüllt in einen der weißen Schutzanzüge, die zu Mord und Verbrechen gehörten wie das dumpfe Gefühl, die Grausamkeiten der Menschen kaum noch ertragen zu können. Ich erkannte die eingehüllte Gestalt erst auf den zweiten Blick: Gregor Großkopf. Er war der leitende Gerichtsmediziner im Gerichtsmedizinischen Institut in Düsseldorf, das in den meisten Mordfällen der vergangenen Jahre durch die Staatsanwaltschaft mit der Ermittlung der Todesart, des Todeszeitpunktes und der Todesursache betraut worden war. Insofern handelte es sich bei Großkopf um einen bekannten, aber nicht unbedingt gerne gesehenen Gast im trüben Grau meiner Alltagsarbeit. In seiner Nähe fühlte ich mich unwohl. Das war zum einen dem Umstand geschuldet, dass er eine merkwürdig unangemessene Unbekümmertheit zur Schau trug, obwohl sein Job der Tod war, zum anderen, weil wir uns bereits bei unserem ersten Kennenlernen auf dem falschen Fuß erwischt hatten. Die alleinige Schuld an diesem Fehlstart unserer beruflichen Beziehung war Großkopf anzulasten, ohne Zweifel. Ich hatte als noch junger Polizist gewagt, ihn als Pathologen zu bezeichnen, was in seinen Augen einer ungeheuerlichen Beleidigung gleichgekommen war. Pathologen, wie er mir mit spitzer Stimme erklärt hatte, führten Obduktionen bei natürlichen Todesursachen durch, während er sich im offiziellen Auftrag der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte der Aufklärung von Straftaten widmete.

      Diese Lektion hatte ich unter „Aha, wieder etwas gelernt“ verbucht und Großkopf gleichzeitig gedanklich in die Schublade „Idiot“ verschoben. Seitdem fühlte ich mich besser, solange ein paar Meter Luftraum zwischen mir und dem Nicht-Pathologen lagen.

      Ich hielt mir ein Taschentuch vor den Mund, um einen kurzen, tiefen Atemzug nehmen zu können, und drehte mich von der Leiche und von Großkopf weg. Ich stand inmitten eines Wohnzimmers, bei dem der Begriff ‚wohnen’ selbst mit viel Großzügigkeit noch übertrieben war. Der ganze Raum wurde unter Bergen von Bierdosen, Bierflaschen und alten Pizzakartons geradezu erstickt. Lediglich auf dem Sofa deutete eine müllfreie Stelle auf den Platz hin, an dem Bruno wahrscheinlich abends vor dem Fernseher seinen täglichen Rausch ausgeschlafen hatte. Zumindest, bis er zum Opfer seines Mörders geworden war.

      Es war eine Ironie des Schicksals, dass Bruno inmitten seines eigenen Mülls umgebracht worden war. Im Grunde war Bruno genau das, was umgangssprachlich als ‚Abschaum der Gesellschaft’ bezeichnet wurde. Seine Strafkartei glich einem Sammelsurium unterschiedlichster Delikte quer durch das Strafgesetzbuch: Hehlerei, Betrug, Körperverletzung, Drogenhandel, um nur ein paar zu nennen.

      Erst vor knapp vier Wochen war er wegen Drogenbesitzes und Drogenhandels verhaftet, aber kurz darauf wegen eines Formfehlers und mit Hilfe eines windigen Anwalts wieder auf freien Fuß gesetzt worden, trotz überwältigender Beweislast. Nach wie vor war es mir ein Rätsel, wie ein schmieriger Typ wie Bruno Bauer sich einen derart teuren Anwalt hatte leisten können. Doch wie sich die neue Faktenlage darstellte, hatte auch das ihm nichts genutzt. Offensichtlich hatte er sich nicht lange an seiner neu gewonnenen Freiheit erfreuen können.

      „Wie lange liegt er hier schon?“, fragte ich näselnd, das Taschentuch immer noch dicht über meinen Mund gepresst. Großkopf, der immer noch prüfend über dem Leichnam kniete, schaute auf und zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Ein paar Wochen. Genauer eingrenzen kann ich den Todeszeitpunkt erst nach der Obduktion.“

      Ich seufzte auf und wendete mich dem jungen Polizisten zu, der mit bleichem Gesicht eng an die Wand gedrückt stand und die Szenerie mit angeekeltem Blick musterte. Ihm war die zweifelhafte Ehre zugefallen, den Toten zu entdecken. Nur ungern zog ich das Taschentuch vom Mund, um mit ihm sprechen zu können. Ich achtete darauf, durch den Mund zu atmen, um möglichst wenig des beißenden Gestanks an meine armen Geruchsrezeptoren zu lassen.

      „Wer hat den Toten gemeldet?“, fragte ich, sorgsam darauf bedacht, selbst meine Haltung zu bewahren und dem jungen Mann nicht mein Mittagessen vor die Füße zu spucken. Das hätte mit Sicherheit kein gutes Licht auf meine Führungsqualitäten geworfen.

      „Die Nachbarin über dieser Wohnung. Ihr ist der stechende Geruch im Hausflur aufgefallen.“

      „Wurde sie bereits befragt?“

      „Ja. Sie ist arbeitslos und ist deswegen nach eigenen Angaben die meiste Zeit in ihrer Wohnung. Trotzdem gibt sie an, nichts Verdächtiges gesehen oder gehört zu haben.“

      „Nicht überraschend“, murmelte ich, leise genug, damit der junge Polizist meine Bemerkung nicht hören konnte. Diese Aussage verwunderte mich nicht. In einer Wohngegend wie dieser waren Polizisten nicht gerne gesehen. Die Gegend war ein Tummelplatz gescheiterter Existenzen, die zwar regelmäßig ihr Geld vom Staat bezogen, ansonsten aber jegliche Form staatlicher Autorität ablehnten und verachteten. Es war nicht zu erwarten, dass wir auch nur einen brauchbaren Hinweis von den liebreizenden Nachbarn unseres Toten erhalten würden. Und trotzdem würde es mir und den Kollegen nicht erspart bleiben, an jeder Tür persönlich zu klingeln und jeden einzelnen der Anwohner zu befragen. Polizeiarbeit war überwiegend Fleiß- und Beinarbeit, gepaart mit der Hoffnung auf das seltene Glück, den richtigen Hinweis zur richtigen Zeit geliefert zu bekommen.

      Eine Hand auf meiner Schulter riss mich aus den Gedanken und ließ mich herumfahren. Großkopf! Etwas pikiert stellte ich fest, dass der Gerichtsmediziner immer noch seine blauen Handschuhe trug, mit denen er den Leichnam begutachtet hatte, und sich erst jetzt mit einer bedächtigen Bewegung des Latex entledigte. Sofort kehrte die Übelkeit zurück. Mein Jackett würde ich