Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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Stunde danach

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      Über die Stunde Null

      Meine Erinnerungen an die Nacht ihres Todes sind undeutlich und merkwürdig verzerrt, als wären die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht lediglich ein Alptraum und Sandra in Wirklichkeit immer noch bei mir. Vielleicht ist es mein Verstand, der einen barmherzigen Schleier des Verdrängens vor diese entsetzlichen Bilder gezogen hat, um mir ihren Anblick im Todeskampf zu ersparen. Manchmal, in den seltenen Stunden, in denen ich versuche, mich an all die verstörenden Einzelheiten zu erinnern, bin ich froh über diese gnädige Geste meines Verstandes. Ich glaube, über kurz oder lang würden mich diese Bilder in den Wahnsinn treiben, würde ich sie tatsächlich immer noch in all der schmerzenden Klarheit sehen, wie in jener fernen Nacht ihres gewaltsamen Todes.

      Auch wenn ich weiß, was in dieser Nacht tatsächlich passiert ist, ist es nicht allzu viel, an das ich mich wirklich erinnere.

      Was sich mir jedoch in aller entsetzlichen Deutlichkeit ins Gedächtnis gebrannt hat, ist ihr markerschütternder Schrei, nur Sekunden vor ihrem Tod. Diesen Schrei kann ich immer noch in meinen Ohren klingen hören; ich habe ihn seit diesem schicksalhaften Tag nicht vergessen, und ich werde ihn auch nie vergessen. Dieser Laut hat sich in meinen Gehirnwindungen festgesaugt, unbarmherzig und blutrünstig wie eine Zecke, und verfolgt mich seither in meinen Träumen, anklagend, wie eine alte Schallplatte, die immer das gleiche Lied spielt.

      Obwohl ihr Gesicht inzwischen langsam hinter dem Vorhang der Zeit verblasst, bohrt sich diese letzte Erinnerung an sie quälend in meine Träume und manchmal sogar in meine wachen Momente. Vielleicht wäre ihr Tod vermeidbar gewesen, hätte ich den Verlauf der schrecklichen Dinge vorhergesehen, die meine Frau aus dem Leben rissen und mich mit dieser schmerzenden Lücke in meinem Dasein alleine zurückließen. Aber ich habe die dunklen Gewitterwolken am Horizont meines Lebens nicht kommen sehen. Mit ihrem Tod starb ein Teil von mir selbst; und nichts danach sollte wieder so sein, wie es vorher war.

      4 Stunden danach

      Nur langsam drang das grelle Licht in mein Bewusstsein. Auch meine Ohren nahmen nur zögerlich ihre Arbeit wieder auf, als müssten sie das Hören erst wieder neu erlernen. Die Stimmen verschiedener Menschen drangen in meine sensiblen Gehörgänge, doch sie waren nicht mehr als sinnlose und zusammenhangslose Wortfetzen. Sie wirkten unerträglich laut, als würde eine Horde betrunkener Motorradfahrer direkt neben meinem Kopf eine wilde Party feiern. Ich stöhnte unterdrückt, unfähig, mich anders zu artikulieren. Mein Körper wurde von Kopf bis Fuß von betäubenden Schmerzen durchflutet und reagierte nur unwillig auf meinen vorsichtigen Versuch, meine gefühllosen Gliedmaßen zu bewegen. Mein Gehirn wirkte wie in Watte gepackt, kaum in der Lage, die undeutlichen Signale meiner betäubten Sinne zu verarbeiten.

      Was ist hier los? Wo bin ich?

      „Er ist noch am Leben!“, verkündete eine dumpfe Stimme irgendwo über mir und zog mit einer ruckartigen Bewegung die blendende Taschenlampe aus meinem Blickfeld. Ich kannte die Stimme nicht; sie vibrierte in einem unnatürlichen Klang, als würde ich der schlechten Vertonung eines uralten Filmes lauschen.

      „Herr Bachmann, können Sie mich verstehen?“, fragte eine weitere Stimme fordernd, die ich ebenfalls keiner bekannten Person zuordnen konnte. „Herr Bachmann, hören Sie mich?“

      „Ja“, murmelte ich schwach. Meine Zunge fühlte sich an, als hätte ich die letzte Nacht in einem wilden Rausch verbracht. Sie lag schwer und trocken in meinem Mund und machte es schwierig, klar artikulierte Worte über meine spröden Lippen zu bringen. Nur langsam nahmen die schwebenden Silhouetten über mir Konturen an, wie das sanfte Licht des beginnenden Tages nur gemächlich die Schatten der Nacht vertreibt.

      Zwei Männer standen über mir. Sie trugen die roten Jacken des Rettungsdienstes, die in meinen vielen Berufsjahren so etwas wie ein ständiger Begleiter geworden waren. Ihre Anwesenheit bedeutete selten etwas Gutes. In den meisten Fällen zogen sie unverrichteter Weise von dannen und überließen die frisch Verstorbenen uns, um ihren unnatürlichen Tod aufzuklären und den Verursacher hinter Schloss und Riegel zu bringen.

      Nur langsam nahm ich auch Einzelheiten meiner Umgebung wahr. Ich lag auf dem Boden. In unserem Wohnzimmer. Der weiche Teppich schmiegte sich sanft an meinen Rücken und kitzelte meinen Nacken.

      Als hätte die sanfte Berührung ein Fach in den unzähligen Schubladen meines Verstandes geöffnet, stürzten die Bilder der letzten Nacht ohne Vorwarnung auf mich ein und raubten mir für eine kurze Zeit den Atem. Ich stöhnte auf, aber nicht wegen der körperlichen Schmerzen, die sich meines Körpers bemächtigt hatten und ihn ihrer Tyrannei unterwarfen, sondern wegen des psychischen Horrors der Erinnerungen, die mich zwangen, die erschreckenden Stunden der Nacht wieder vor meinem inneren Auge erleben zu müssen. Die Bilder waren zwar verschwommen, konnten aber trotzdem nicht verbergen, was ich am liebsten verdrängt hätte.

      „Sandra!“, schrie ich schwach. Den Protest meines Körpers ignorierend, versuchte ich, mich aufzurichten.

      „Bitte bleiben Sie liegen“, befahl einer der Männer und packte mich am Arm. „Wir wissen nicht, ob Sie Verletzungen davongetragen haben.“

      Er versuchte, mich sanft in die weiche Umarmung des Teppichs zu drücken.

      „Nein!“, protestierte ich, während langsam wieder Gefühl in meine Arme und Beine kroch. „Ich will zu meiner Frau! Wo ist meine Frau?“

      Ich schüttelte die helfende Hand unwirsch ab. „Lassen Sie mich!“, schrie ich. Ich versuchte, mich gegen den gutmütigen Druck der beiden Sanitäter durchzusetzen, aber eine sanfte Berührung an meiner Schulter ließ mich innehalten. Ich blickte auf und starrte in das Gesicht meines Vorgesetzten. „Bitte, Erik, bleiben Sie liegen“, brummte Walter Steinmann beruhigend, doch in dieser Situation hätte mich lediglich eine hohe Dosis Valium dazu bewegen können, liegen zu bleiben.

      Walter Steinmann war der Leitende Kriminaldirektor, der Chef der Kriminalpolizei im Düsseldorfer Raum. Er hatte die Leitung in unserem Fall übernommen.

      Er sah aus, als hätte er in einem aussichtlosen Kampf eine vernichtende Niederlage erlitten. Den Mund hinter dem grauen Schnurrbart hielt er zu einem dünnen Strich zusammengepresst; seine Augen blickten aus tiefen, müden Höhlen traurig unter den buschigen Augenbrauen hervor. In all meinen Jahren bei der Kriminalpolizei war er mir nie in einer derart desaströsen Verfassung gegenübergetreten. Von der Härte und Durchsetzungskraft, die ansonsten seine steinerne Miene dominierten, war nichts mehr zu sehen. Dabei war seine stoische Ruhe und Gelassenheit, selbst bei schwierigen Einsätzen, so etwas wie sein Markenzeichen geworden, und hatte ihm den wenig schmeichelhaften Spitznamen ‚Arnold’ eingebracht, in Anlehnung an den gefühlskalten Roboter, den Arnold Schwarzenegger in dem Film Terminator spielte. Doch in diesem Moment verriet eine tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn, dass er dieses Mal nicht in der Lage gewesen war, eine professionelle Distanz zu bewahren. Er fühlte sich persönlich betroffen; das war in seinen Augen so offensichtlich abzulesen wie der Mörder in einem billigen Groschenroman.

      Ich kannte bereits die erschreckende Antwort auf die Frage, die sich unaufhaltsam in meinen Verstand drängte; aber ich fragte trotzdem, auch auf die Gefahr hin, durch seine dunkle Stimme die Bilder meiner Erinnerungen bestätigt zu sehen.

      „Wo ist Sandra?“

      Walter Steinmann blieb mir eine Antwort schuldig. Trotzdem ließen seine nächsten Worte keinen Zweifel daran, was mit meiner Frau passiert war. „Er hat sie erwischt“, murmelte er mit einem leicht angedeuteten Kopfschütteln, das