Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


Скачать книгу

konnte, während ich versuchte, mit professioneller Miene den Ausführungen des Nicht-Pathologen zu folgen.

      „Das Opfer wurde übel zugerichtet“, stellte er mit unbeteiligter Stimme fest. „Zahlreiche Hämatome am Kopf, am Oberkörper und an den Beinen deuten darauf hin, dass er vor seinem Tod brutal zusammengeschlagen wurde.“

      „Vor seinem Tod? Was war die Todesursache?“

      „Ohne Obduktion ist das schwer zu sagen. Keine der äußeren Verletzungen scheint mir schwerwiegend genug zu sein, um den Tod herbeizuführen. Allerdings scheint sein Martyrium mehrere Stunden gedauert zu haben. Wen auch immer er verärgert hat, der Täter hat sich viel Zeit genommen, seine Wut an dem Opfer auszulassen.“

      Er zupfte mit spitzen Fingern an seiner Brille. Vielleicht hoffte er, durch diese Geste professionell oder intelligent zu wirken, allerdings verlieh sie ihm eher eine unbeholfene Note. Der Gerichtsmediziner war nicht mehr sonderlich jung, doch jeder Altersweisheit zum Trotz passte er durch seine schlaksige Art und durch seinen dürren, ausgemergelten Körper optisch nicht ganz in das stereotype Bild eines gebildeten wie belesenen Mediziners.

      „Eine Sache ist mir allerdings noch aufgefallen“, ergänzte er, mit einem kurzen Blick auf die Leiche. „Unter dem Toten habe ich das hier gefunden.“

      Er hielt eine Einwegspritze in die Höhe. „Er hat mit Sicherheit nicht regelmäßig Drogen oder andere Substanzen konsumiert. Ich habe nur eine Einstichstelle in seinem linken Arm gefunden, die allerdings von allerhand Hämatomen umgeben ist. Anhand der Verteilung würde ich vermuten, dass jemand Fremdes diese Spritze mit viel Kraft in den Arm gestoßen hat.“

      „Also wurde er vergiftet?“

      „Das werden die Blutuntersuchungen zeigen, aber ja, ich würde darauf wetten, dass der Tod durch die Spritze herbeigeführt wurde.“

      „Interessant“, murmelte ich gedankenverloren, während meine Haut an der Stelle, an der mich der Gerichtsmediziner berührt hatte, anfing zu jucken. Das Jucken steigerte sich mit der Zeit zu einem kaum zu ignorierenden Schmerz. „Was war in der Spritze?“

      Großkopf zuckte erneut mit seinen Schultern. „Heroin, würde ich vermuten. Das wird allerdings das Ergebnis der toxikologischen Untersuchungen zeigen.“

      „Heroin“, murmelte ich. „Bauer war selbst Dealer, vielleicht ein verärgerter Kunde?“, überlegte ich laut.

      „Der Kerl dürfte bei seinem Strafregister eine Feindesliste haben, die länger als das Düsseldorfer Telefonbuch ist“, warf Bobby brummelnd hinter mir ein. „Da kommen viele in Frage.“ Ich drehte mich halb zu ihm um. Er war nach mir am Tatort eingetroffen und hatte bisher noch kein Wort mit mir gewechselt. Er kam gerade aus der kleinen Küche des Apartments gestiefelt und wirkte etwas bleich um die Nase, aber das war bei dem Geruch in der kleinen Wohnung kein Wunder. „Die Küche ist ein einziger Dreckstall. Die Spurensicherung wird eine Heidenarbeit haben, den ganzen Abfall auszuwerten.“

      Die Spurensicherung war bereits abgezogen. Besonders glücklich hatten die Kollegen angesichts dieser Herkulesaufgabe nicht ausgesehen.

      „Nicht nur die Küche“, antwortete ich, als mich erneut eine Hand an meinem Arm herumfahren ließ. Im letzten Moment sah ich, wie Großkopf seine Hand zurückzog. Entsetzt starrte ich auf den weichen Stoff meines Jacketts.

      Was war nur los mit dem Kerl!? Konnte er seine Finger nicht bei sich lassen!?

      „Mir ist noch etwa aufgefallen“, bemerkte er mit seiner ruhigen Stimme, ohne auf meinen kaum verhohlenen Ekel zu reagieren. „Es ist mir erst ins Auge gestochen, als ich das Hemd des Toten beiseite geschoben habe. Ich denke, es ist besser, ich zeige es Ihnen persönlich.”

      Er kniete sich neben Bruno Bauer, beziehungsweise vor das, was die Insektenmaden von ihm übriggelassen hatten, und zog vorsichtig, mit der Spitze seines Bleistifts im Knopfloch, das Hemd beiseite. Ein Teil einer eingefallenen, haarigen Männerbrust erschien mit einem ekelerregenden Schmatzen unter dem Stoff.

      „Was zum Teufel?“, fluchte Bobby hinter mir. „Hält sich der Kerl für Zorro!?”

      Er hatte nicht ganz Unrecht. Doch statt eines ‚Z’ als Markenzeichen, wie Zorro es in allen Filmen verwendet hatte, zeigte die freigelegte Brust ein tief eingeritztes ‚R’ aus schwarzem, geronnenem Blut.

      12 Stunden danach

      Mein Kopf dröhnte, als hätte ich Stunden eines außer Kontrolle geratenen Saufgelages hinter mir, aber das war auch nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt. Ich musste mich stark konzentrieren, um den Ausführungen des jungen Arztes folgen zu können, der vor wenigen Sekunden das Zimmer betreten hatte. Nach einem kurzen Studium meiner Krankenakte, die er seinem Gesichtsausdruck zufolge das erste Mal vor Augen hatte, teilte er mir in gehobenen Medizinerchinesisch mit, ich hätte nicht mit bleibenden Schäden zu rechnen. Zumindest, soweit es meine körperlichen Funktionen betraf. Mit routinierter Stimme und nur marginalem Interesse leierte er meine Wehwehchen herunter, während sein Zeigefinger der Liste auf dem Klemmbrett mit stoischer Ruhe folgte. Ich fragte mich, wozu er sich überhaupt die Mühe machte. Er hätte uns beiden diesen mühevollen Moment ersparen können, indem er mir die verdammte Liste einfach zum Lesen gereicht und sich auf dem Weg zum nächsten Patienten gemacht hätte.

      Ich hätte keine schwerwiegende äußere Verletzung, murmelte er leise in endloser Monotonie, sowie keine Organschäden oder Frakturen. In meinem Blut fanden sich allerdings größere Mengen eines verschreibungspflichtigen Hypnotikums, was meine Ohnmacht und meine Schwindelanfälle erklärten.

      Das waren allerdings keine Neuigkeiten für mich.

      Er nickte mir jovial zu, steckte sich das Klemmbrett unter den Arm und empfahl sich mit einem kurzen Gruß. Als die Tür sich mit einem leisen Klicken schloss, kehrten die Einsamkeit und die Stille ins Zimmer zurück.

      Wahrscheinlich hatte er mich bereits mit dem Schließen der Tür aus seinem Kurzzeitgedächtnis gestrichen. Von seinem medizinischen Standpunkt aus gesehen war ich vermutlich keine weitere Minute seiner kostbaren Zeit wert. Ich wies keine Verletzungen auf, die sofortige ärztliche Behandlung erforderten, so dass er sich aus seiner Sicht dringenderen Fällen widmen konnte.

      Was er übersah, war, dass es nicht meine körperlichen Beschwerden waren, die in unerträglicher Qual meine Brust zu zerreißen drohten. Es mag der Stress des Krankenhausalltags gewesen sein, zwischen Patienten, Operationen, Spritzen und Krankenakten, aber seine Gleichgültigkeit brannte wie Zunder in dem Feuer meiner Seelenqual. Er ließ mich alleine im Krankenzimmer zurück, dazu verdammt, einen einsamen, vergeblichen Kampf gegen die Dämonen der Erinnerung auszufechten.

      Ich versuchte es mit Verleugnung, versuchte mir einzureden, dass nichts von dem passiert war, an das ich mich erinnerte, dass Sandra lediglich zum Einkaufen gefahren war, spazieren, oder in ihrem Yoga-Kurs. Aber es gelang mir nicht. Mein Realitätssinn stellte sich jeglichen Bemühungen entgegen, die grausame Wahrheit zum Wohle meines Seelenheils ignorieren oder verdrängen zu können. So sehr ich auch versuchte, mir vorzustellen, Sandra jede Minute im Türrahmen stehen zu sehen; mein Verstand beharrte unnachgiebig darauf, dass sie tot war und nie wieder zu mir zurückkehren würde.

      Ich würde sie nie wiedersehen. Niemals. Nichts würde meine Fehler und mein Versagen ungeschehen machen. So sehr ich es mir auch wünschte, sie würde nicht plötzlich in der Tür zu meinem Krankenzimmer auftauchen. Nicht so wie vor fünf Jahren, als ich von einem flüchtigen Verdächtigen angeschossen worden war. Sie hatte für einen Moment zögernd in der Tür gestanden, mit einem schiefen Lächeln auf ihren weichen Zügen, das gleichzeitig Sorge wie Vorwurf ausgedrückt hatte. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dich von Ärger fernhalten!“, hatte sie tadelnd gesagt, doch eine kleine Träne im Auge hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Sorge ihren Ärger überwogen hatte. Aber diesmal würde es nicht so ablaufen. Es war alles anders, denn diesmal war sie es, der etwas passiert war. Sie würde nicht kommen. Nie mehr.

      Mein Leben war schlagartig zu einer unerträglichen Seelenpein verkommen, als hätte jemand in meinen