Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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grummelte sie.

      „Ach, komm schon“, schwenkte ich auf einen Schmusekurs um und zog sanft an ihrem Arm, so dass der Stuhl wieder in meine Richtung pendelte. „Du hast für heute mit Sicherheit genug gearbeitet. Komm mit mir auf die Couch!“

      Ich legte meinen Hundeblick auf und schielte in Richtung unseres breiten Ledersofas.

      „Ach, ich weiß nicht“, murmelte sie, immer noch ein wenig verstimmt. „Wie spät ist es?“

      Seufzend blickte ich auf die Uhr. „Kurz vor Acht!“, stellte ich fest. „Also genau die richtige Zeit für einen gemütlichen Fernsehabend.“

      „Was? So spät schon!?” Sandra sprang auf. „Ich muss los! Ich treffe mich in einer halben Stunde mit meinem Informanten.“

      „Jetzt noch? Kann das nicht bis Morgen warten?“, warf ich ungnädig ein und hielt ihr demonstrativ meine Uhr vor die Nase. „Außerdem ist es schon fast dunkel draußen.“

      „Ja, jetzt noch.” Sie verpasste mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und hetzte eilig zu Garderobe. „Warte nicht auf mich!“, rief sie, während sie sich bereits in ihren Mantel zwängte. „Könnte spät werden.“

      Und bevor ich überhaupt zu einer Erwiderung ansetzen konnte, war sie bereits durch die Tür verschwunden. Lediglich der Duft ihres Parfums schwebte noch eine zeitlang im Raum vor mir, bevor auch dieser Geruch langsam verflog.

      Seufzend speicherte ich ihr letztes Dokument, ohne es zu lesen, und fuhr ihren Computer herunter. Das Leben mit Sandra war nicht immer einfach. Im Grunde genommen waren wir beide das sprichwörtliche Beispiel für die Gegensätze, die sich anziehen.

      Sandra war das Paradebeispiel für einen impulsiven Menschen. Sie reagierte spontan, unüberlegt und ließ sich von ihren Gefühlen leiten, während ich versuchte, unser Leben möglichst sorgsam zu planen und auf einem sicheren Kurs zu halten.

      Vielleicht funktionierte unser Zusammenleben deswegen so gut. Während sie die Würze in unser Leben brachte, kümmerte ich mich als ruhiger Pol darum, dass wir ein Dach über dem Kopf und genügend Essen im Kühlschrank hatten und dass unser Schiff der Ehe nicht allzu weit vom Kurs segelte.

      Meine Freunde hatten mir von der Heirat abgeraten, aber für mich war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ich hatte sie durch Zufall kennengelernt, auf der Party eines gemeinsamen Freundes. Sie war mir direkt ins Auge gestochen, mit ihren wilden, ungebändigten Haaren und ihrem Gesichtsausdruck, der mir die pure Lebensfreude versprochen hatte. Ihr Lebensentwurf war das genaue Gegenteil von dem, was ich unter einem behüteten Leben verstand, aber sie hatte mir eine neue Welt außerhalb meiner begrenzten Wahrnehmung gezeigt. Sie hatte mir geholfen, zufrieden mit mir und meinem Leben zu sein.

      Ein Blick hatte genügt, und schon war es an jenem Abend um mich geschehen gewesen. Als wären seit diesem Lebensabschnitt nur Minuten und nicht bereits 15 Jahre vergangen, mutierte ich innerhalb von Sekunden zum verliebten Teenager. Nur die Pickel hätten noch gefehlt, und ich wäre das perfekte Abbild meines früheren Selbst gewesen, inklusive Stottern, schweißnassen Händen und dem unwiderstehlichen Drang, mich zum Idioten zu machen, sobald Mädchen in der Nähe waren.

      Während ich noch die bestmöglichste Strategie abklopfte, wie ich sie ansprechen sollte, hatte sie bereits die Initiative ergriffen und mich zum Tanz aufgefordert. Es sollte eine lange Nacht werden, an deren Ende wir irgendwann morgens auf feindlichem Territorium aus einer Kneipe in Köln torkelten, über 50 Kilometer von unseren eigenen Wohnungen entfernt.

      Als sie zu meinem Heiratsantrag nur wenige Wochen später mit Tränen in den Augen ‚Ja’ sagte, hatte sie mich zum glücklichsten Mann auf Erden gemacht.

      Mit einem Ächzen ließ ich mich auf der Couch fallen und flippte durch die Kanäle, ohne hinzuschauen. Für heute war ich wirklich nicht mehr aufnahmebereit.

      Als das Telefon klingelte, blickte ich leidend auf den Telefonhörer, der eine gefühlte Weltumrundung von mir entfernt auf dem Esstisch lag. Erst als das penetrante Klingeln nicht von selbst aufhörte, überwand ich meinen inneren Schweinehund und schlurfte zum Tisch.

      „Ja?“, brummelte ich ins Telefon.

      „Hi, Erik. Hier ist Mike.” Mike war der Barkeeper der kleinen Eckkneipe, in die Bobby und ich uns des Häufigeren verirrten, manchmal sogar innerhalb unserer Dienstzeit.

      „Mike!“, erwiderte ich überrascht. „Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs? Alles in Ordnung?”

      „Mit mir schon“, antwortete Mike schwammig. Er zögerte einen Moment, als würde er kurzzeitig abwägen, wieder aufzulegen. „Es geht um Bobby“, platzte es aus ihm heraus. „Ich will nicht die Pferde scheu machen, aber ich glaube, es ist besser, du kommst persönlich vorbei. Je eher, desto besser.“

      21 Tage davor

      Bereits draußen vor der Kneipe konnte ich Bobbys durchdringenden Bariton bereits hören, obwohl der Straßenlärm der angrenzenden Hauptstraße alle anderen Geräusche der beginnenden Nacht verschluckte.

      Die kleine Kneipe lag in einer verkehrsberuhigten Nebenstraße, die direkt in die stark befahrene Hauptverkehrsader zur Altstadt einmündete. Das hatte den charmanten Vorteil, in relativ kurzer Zeit ein Taxi organisieren zu können, das angeheiterte Kneipengäste nach zu viel Bier und Wein sicher nach Hause chauffierte. Der Nachteil war, dass in den lauen Sommernächten des Düsseldorfer Spätsommers Gespräche außerhalb des gemütlichen Gastraumes kaum in einer vernünftigen Lautstärke möglich waren. Aber das war in der Regel auch nicht Sinn der Übung; die meisten der Gäste waren schweigsame Zeitgenossen, die bei einem Bier und ausreichend Schnaps ihren Alltag zu vergessen suchten. Auch Bobby und ich bildeten keine Ausnahme. Als Alkoholiker hätte ich uns nicht bezeichnet, aber die ein oder andere abendliche Stunde in der Kneipe half uns dabei, die Ereignisse des Tages zurückzudrängen und unbelastet von den schrecklichen Bildern unseres Polizeidienstes nach Hause zu gehen.

      In letzter Zeit war allerdings, zumindest in Bobbys Fall, der Besuch in der Kneipe zu einer besorgniserregenden Routine verkommen. Vermutlich lag das daran, dass Zuhause niemand mehr auf ihn wartete und die Kneipe sein letzter Zufluchtsort war, an dem man ihm ein offenes Ohr schenkte, auch wenn er dort keine Lösungen für seine Probleme finden würde, von ein paar gutgemeinten Ratschlägen abgesehen.

      Hinter der breiten Eingangstür schlug mir der abgestandene Geruch nach schalem Bier und urigem Ambiente entgegen, das vor allem daraus seinen Reiz bezog, dass all die kleinen Pokale, Wandteller, Wimpel und Fähnchen eine altehrwürdige Patina angenommen hatten, die sie beinahe antik erscheinen ließen. In Wahrheit waren sie wahrscheinlich nur seit den siebziger Jahren, als Mikes Vater die Kneipe eröffnet hatte, nicht mehr abgestaubt worden.

      Bobby stritt sich gerade lautstark mit einem anderen Gast, während Mike hinter der breiten Theke mit großen Augen bedeutungsschwanger in Richtung Bobby nickte. Sein Mund formte ein lautloses „Gott sei Dank bist du da“, bevor er sich wieder mit der ihm angeborenen stoischen Ruhe der Reinigung seiner Gläser widmete. Als Gastwirt durfte er sich durch solche kleinen Kabbeleien nicht aus der Ruhe bringen lassen, sonst hätte er seinen Laden gleich schließen können. Beinahe jeden Abend gerieten irgendwelche Streithähne aneinander. Nur durch seine ruhige Ader war Mike in der Lage, deeskalierend auf die randalierenden Besucher einzuwirken.

      Es war kaum herauszuhören, worum sich Bobby und sein Kontrahent stritten. Beide waren stark angetrunken und wussten wahrscheinlich selbst nicht mehr, was sie ursprünglich in Rage gebracht hatte. Vermutlich Fußball; in der kleinen Kneipe war der Ballsport in achtzig Prozent der Fälle Ursache für alle Streitereien.

      Ich legte Bobby brüderlich einen Arm um die Schulter und zog ihn unnachgiebig in Richtung Theke. Sein vorübergehender Widersacher blickte uns irritiert hinterher und vergaß augenblicklich, warum er aufgestanden war. Er torkelte zurück zu seinem Tisch und starrte melancholisch in die Überreste seines fast leeren Glases.

      „Erik!“, lallte Bobby mit schwerer Zunge. „Schön, dass du es auch geschafft hast.“

      Er